Kurzzeittherapie für Geflüchtete - Interview mit Eva-Lotta Brakemeier
Die Zahl der Flüchtlinge steigt in Deutschland seit Monaten an. Viele geflüchtete Menschen haben sehr schwierige oder traumatische Erfahrungen gemacht und leiden unter psychischen Störungen – doch es stehen keine ausreichenden Behandlungsangebote für psychisch kranke Flüchtlinge zur Verfügung.
Eva-Lotta Brakemeier, Professorin für Klinische Psychologie und Psychotherapie, entwickelte daher gemeinsam mit einer Kollegin das ehrenamtlich getragene „Interpersonelle Integrative Modellprojekt für Flüchtlinge“(IIMPF). Wir sprachen mit ihr über die Hintergründe, Inhalte und ersten Ergebnisse des Projekts.
Wie entstand die Idee hinter dem Modellprojekt?
Wie so viele Menschen hatte auch ich im Sommer 2015, als die Zahl der Geflüchteten in Deutschland dramatisch anstieg, das Bedürfnis zu helfen. Aber wie? Zu dieser Zeit hielt ich an der Psychologischen Hochschule Berlin (PHB) ein Seminar zur Interpersonellen Therapie (IPT). Während ich darüber sprach, fiel mir auf, wie gut die Passung zwischen IPT und der Situation von Geflüchteten ist: Ansatzpunkt sind interpersonelle Belastungen, wie etwa Rollenwechsel (also Lebensveränderungen), Konflikte, Trauer und Isolation. Dabei bezieht sich die IPT auf das Hier und Jetzt, also die aktuellen Lebensumstände in den Ankunftsländern, bzw. die jüngste Vergangenheit, also Erlebnisse auf der Flucht oder in den Herkunftsländern. Zudem ist die IPT schulenübergreifend schnell erlernbar, leicht zu implementieren und für die multidisziplinäre Zusammenarbeit geeignet. Sie hat sich vor allem in der Depressionsbehandlung als sehr wirksam erwiesen und wurde bereits erfolgreich in anderen Kulturen angewendet. Damit erschien diese Therapieform sehr gut geeignet für ein Kurzzeittherapieprojekt für Geflüchtete.
Mir erschien es aufgrund der oft schwierigen psychosozialen Situation der Ankommenden sinnvoll, die IPT um den für Geflüchtete sehr relevanten Therapiefokus »Integration in die Arbeits- und Sozialwelt« zu ergänzen.
Insgesamt haben letztendlich 27 Therapeuten sowie zehn Dolmetscher mitgewirkt.
Die Therapierenden haben sich ehrenamtlich engagiert?
Ja, das war sehr berührend. Wir haben anscheinend einen Nerv getroffen. Viele hatten damals das Gefühl: Ich will helfen, weiß aber nicht, wie. Insgesamt haben letztendlich 27 Therapeuten sowie zehn Dolmetscher mitgewirkt.
Wie sah die Intervention aus?
Die Hauptziele des Projekts bestanden in der Behandlung psychischer Störungen, der Hilfe bei interpersonellen Belastungen und der Unterstützung bei der Integration in die Arbeits- und Sozialwelt bei Geflüchteten aus dem arabischsprachigen Raum. Dabei ging es uns auch um die Prävention von langfristigen Beeinträchtigungen oder Chronifizierungen, Arbeitslosigkeit bzw. Isolation sowie von Selbst- und Fremdgefährdungen.
Zusammen mit dem Team von Dr. Meryam Schouler-Ocak haben wir das „Interpersonelle Integrative Modellprojekt für Flüchtlinge“ (IIMPF) als eine Modifikation der IPT entwickelt – und versucht, das ursprüngliche Verfahren an spezifische Bedürfnisse und Probleme der Zielgruppe anzupassen. Die Geflüchteten erhielten über einen Zeitraum von zwei Monaten insgesamt zehn Psychotherapie-Sitzungen von je 100 Minuten, vier Sozialberatungsgespräche von je 50 Minuten, drei psychiatrische Behandlungen und – wenn nötig und gewünscht – Ergotherapie.
Dem Zitat eines Patienten entnahm ich, dass dieser begeistert war...
Von den 37 Personen, die die Therapie begonnen haben, haben 28 sie beendet. Fast alle der sogenannten »Completer« bewerteten das Projekt abschließend als »gut« oder »sehr gut«. Der Patient von dem Sie sprechen, sagte, er sei zunächst skeptisch gewesen, es habe sich aber schnell gezeigt, dass die Therapie für ihn voller Energie gewesen sei, die ihn Kraft habe tanken lassen.
Solche Rückmeldungen machen Mut, zumal wenn man bedenkt, dass wir am Anfang Schwierigkeiten hatten, überhaupt Geflüchtete für das Projekt zu gewinnen. Es war für viele schwer zu verstehen: Was ist Psychotherapie, was machen die da mit mir? Viele vertraten die nachvollziehbare Auffassung: Der Bürgerkrieg soll aufhören, meine Familie soll hier sein, dann habe ich keine Probleme mehr.
Hinzu kam, dass wir zunächst versucht hatten, Geflüchtete über die Charité anzusprechen. Viele der Betroffenen hatten jedoch noch laufende Asylverfahren und waren schon allein deshalb wenig motiviert, sich auf ein Psychotherapieprojekt mit dem Fokus Integration einzulassen. Das wurde einfacher, als wir im Rahmen einer Kooperation mit der Bundesagentur für Arbeit Geflüchtete in den Jobcentern ansprechen konnten – mit dem Vorteil, dass diese Personen ein anerkanntes Asylverfahren hatten.
Letztendlich war es gut, dass wir beide Gruppen in das Projekt aufnehmen konnten: Rund 60 Prozent waren anerkannte Geflüchtete, bei den übrigen 40 Prozent lief das Verfahren noch. Diese Zusammensetzung ermöglicht uns nun einen Vergleich zwischen den beiden Gruppen.
Rechtlich gesehen haben Betroffene in den ersten 15 Monaten in Deutschland kein Anrecht auf Psychotherapie, sondern nur auf medizinische Versorgung in Notfällen. Unsere Erfahrung zeigt jedoch, dass es sich zumindest bei Personen mit Bleibeaussicht lohnen könnte, früher eine Psychotherapie mit dem Fokus Integration zu ermöglichen, auch um Chronifizierungen, Isolation und Arbeitslosigkeit zu vermeiden.
Die Ergebnisse sind ermutigend.
Ja, unsere offene Pilotstudie lieferte vielversprechende Daten: Die hohe psychische Belastung der Geflüchteten verringerte sich, und die Lebensqualität verbesserte sich mit mittleren Effektstärken. Diese Ergebnisse sind vor allem bemerkenswert vor dem Hintergrund der kurzen Behandlungsdauer sowie der vergleichsweise jungen und in der interkulturellen Therapie unerfahrenen Therapeuten. Aber natürlich können wir an dieser Stelle nicht stehen bleiben. Die nächsten Schritte sollten darin bestehen, das Modellprojekt aufgrund der Ergebnisse zu optimieren (und einen Traumafokus für schwer traumatisierte Personen hinzuzunehmen) und anschließend in einer randomisiert-kontrollierten Studie verschiedene Vorgehensweisen zu vergleichen: Ist das wirklich wirksamer und – gesundheitspolitisch gedacht – kostengünstiger als »treatment as usual«?
Ich würde gerne alle Patienten des Modellprojekts noch einmal nach zwei Jahren befragen, auch mit Blick auf die Integration in die Arbeits- und Sozialwelt. Denn darüber konnten wir natürlich direkt im Anschluss an die zwei Therapiemonate wenig sagen. Ich kenne lediglich Einzelfälle – Patienten, mit denen ich Kontakt habe, weil ich ihre Therapeutin war. Von einem weiß ich, dass es ihm sehr gut geht: Er hat geheiratet, wird zum zweiten Mal Vater, und seine Eltern kommen jetzt nach Deutschland. Zu Beginn der Therapie litt er unter einer posttraumatischen Belastungsstörung und einer schweren Depression. Beide Störungen haben sich vollends zurückgebildet. Ein anderer Patient hingegen hat immer noch psychische Probleme, was zurzeit vor allem darin begründet liegt, dass sein Verfahren immer noch nicht anerkannt ist und er weiterhin in einem Flüchtlingsheim wohnt. Er stellt sich zu Recht die Frage: Warum soll ich Deutsch lernen und mich integrieren, wenn ich nicht weiß, ob ich bleiben kann?
Welche Besonderheiten hat das triadische Setting?
Ich war zunächst skeptisch und hatte Vorbehalte gegen diese Therapieform. Letztendlich muss ich aber sagen, dass es eine besonders schöne Therapie war. Die Übersetzungen wirken insgesamt entschleunigend. Das schafft Raum für eigene Überlegungen und genaue Beobachtungen: Während etwa der Dolmetscher übersetzt, hat der Therapeut Zeit, um bei sich selbst nachzufühlen oder die Reaktion auf das Gesagte zu beobachten. Ich kann sagen: Obwohl man kein Wort versteht, versteht man nonverbal sehr viel.
Aus den Befragungen wurde deutlich, dass die meisten die Triade nicht als ein Problem empfanden, sondern als etwas Wertvolles. Die Patienten beschrieben es als hilfreich, dass der Therapeut zusammen mit einer Person aus der eigenen Herkunftskultur bzw. Sprachgemeinschaft ein helfendes Paar bildeten. Für die Therapierenden wiederum war es günstig, dass sie in den Nachbesprechungen Fragen zur Kultur und zum kulturellen Umgang mit bestimmten Themen stellen konnten. Daher bezeichneten wir unsere Dolmetscher auch als »Sprach- und Kulturmittler«.
Gab es auch Schwierigkeiten aufgrund des Settings?
Ja, natürlich, wir erlebten einige schwierige Situationen: Auch die Dolmetscher hatten einen Migrationshintergrund und zum Teil noch Familie in ihren Herkunftsländern. Entsprechend nah war ihnen das von den Patienten Geschilderte. Eine Dolmetscherin etwa verließ einmal weinend den Raum, weil die Erzählung des Patienten von Folter und Morden sie so überflutete. Eine schwere Situation für die Therapeutin: allein mit einem traumatisierten Patienten, der ihr gerade viel anvertraut hat – und keine gemeinsame Sprache.
Wie sieht das Interesse auf Seiten der Therapeuten aus?
Es ist nicht realistisch, ein solches Programm dauerhaft auf ehrenamtlicher Basis fortzusetzen. Und das ist auch nicht geplant. Aber wir spüren ganz deutlich das Interesse vieler Therapeuten, etwa bei Kongressen oder unserem Abschlusssymposium. Und das ist auch verständlich: Viele der Geflüchteten, deren Verfahren nach und nach anerkannt werden, kommen jetzt erst im Versorgungssystem an. Entsprechend sind immer mehr Therapeuten mit dem Thema konfrontiert, und vielen fehlt die interkulturelle therapeutische Erfahrung. Unsere modifizierte IPT bietet sich da an: Das Konzept ist unmittelbar einleuchtend und dabei vergleichsweise leicht umsetzbar. Wunderbar wäre es, wenn das Programm zumindest als ein Modul in einem »Stepped-care«-Ansatz flächendeckend eingeführt werden könnte, also als ein erster Zugang zur Psychotherapie, der für viele bereits hilfreich sein dürfte. Schwer traumatisierte Patienten könnten danach an spezialisierte Traumazentren oder -praxen weitervermittelt werden. Ich sehe in dem Projekt eine Chance für unser Versorgungssystem, aber vor allem für die Geflüchteten.