In der Kunst finden geflüchtete Menschen einen Ausdruck

Farbpalette, eine Hand mit Pinsel nimmt Farbe auf

Sie haben Krieg und Gewalt erlebt, eine lange, beschwerliche Flucht hinter sich, sind von Familie und Angehörigen getrennt. Geflüchtete Menschen haben viel erlebt – aber ohne Sprache sind sie kaum in der Lage, dafür im therapeutischen Rahmen einen Ausdruck zu finden. Kunsttherapeutische Interventionen können helfen, Erlebtes zu verarbeiten.

Viele Menschen leiden auf Grund der Erlebnisse vor und während der Flucht an Traumafolgestörungen. Die Prävalenzen schwanken je nach Studie. Doch psychotherapeutische Plätze sind rar, erst recht bei muttersprachlichen Psychotherapeut:innen. Die Arbeit mit Übersetzer:innen ist möglich, bringt jedoch oft zusätzliche Kosten oder Unsicherheiten mit sich. Was kann Menschen, die geflüchtet sind, helfen, in der Therapie einen Ausdruck für ihre Erfahrungen zu finden?

Kunsttherapie und kunsttherapeutische Interventionen können hier eine geeignete Alternative sein. Die Kunsttherapie ist eine vorwiegend nonverbale Therapieform. So wird den Menschen die Möglichkeit gegeben, sich über die Kunst auszudrücken und das Erlebte zu verarbeiten.

Um einen sicheren Raum hierfür zu schaffen, bedarf es dabei einer (kultur)sensiblen Herangehensweise. Im Folgenden zeige ich dir fünf bewährte Schritte sowie kunsttherapeutische Interventionen, die in jeder therapeutischen Praxis zum Einsatz kommen können. 
 

1. Die Sorge vor Stigmatisierung nehmen

Andere Kulturen haben auch einen anderen Umgang mit psychischen Erkrankungen. Sie werden z. B. gar nicht thematisiert oder nur körperlich ausgedrückt. Negativerlebtes wird verdrängt und nicht angesprochen. Häufig sind Menschen auch jahrelang auf „funktionieren" eingestellt und haben innerpsychischen Prozessen schon Jahren keinen Raum mehr gegeben. Hier ermöglicht die Kunsttherapie eine Annäherung an psychische Themen, ohne dass Sorgen um Stigmatisierung den Prozess blockieren. Dies entlastet und öffnet Räume für Auseinandersetzung. Kunsttherapie bietet hier den Einstieg, sich zunächst ganz unverbindlich kreativ zu betätigen und sich mit kleinen Schritten an die Thematik heranzutasten. Über den künstlerischen Ausdruck können unaussprechliche Themen einen Platz finden. Das entlastet und stärkt die eigene Identität.

Block liegt auf einem Tisch, daneben Malkreise und eine Hand mit Stift.

Kunsttherapeutische Intervention: Biete deinen Patient:innen Pastellkreiden und einen DIN A3 Block an. Pastellkreide kann trocken oder nass verwendet werden und bietet eine Vielfalt an Einsatzmöglichkeiten. Eine Fragestellung könnte z. B. lauten: a) „Malen Sie etwas Schönes aus Ihrer Heimat.“, b) „Malen Sie etwas Schönes aus Ihrer Kindheit“ oder c) „Malen Sie etwas Schönes von ihrer Familie.“ Gib ihnen ca. 30 Minuten Zeit. Wenn möglich, nimm das Bild als Anlass für ein folgendes Gespräch.

Mit dem Fokus auf Heimat, Familie und Kindheit schöpfen die Patient:innen meist etwas Wertschätzendes und Ressourcenorientiertes aus der Übung. Gib hier bewusst die Vorgabe, etwas Positives herzustellen, um ein erstes positives Erlebnis mit der Kunst zu verbinden. Diese Methode ist hervorragend für einen Einstieg und kann am Anfang einer Therapie eingesetzt werden.
 

2. Geschlechtsspezifische Angebote schaffen

Ebenso hat sich in der Praxis herausgestellt, dass es wichtig sein kann, den Geschlechtern einen geschützten Raum zu geben. Für Männer kann eine Öffnung v. a. bei psychischen Themen gegenüber dem anderen Geschlecht schambehaftet sein. In gemischtgeschlechtlichen Gruppen können sie sich hinsichtlich ihrer Themen und Erfahrungen dann nicht gut öffnen. Gleiches gilt auch für Frauen, v. a. wenn es um geschlechtsspezifische Gewalterfahrungen geht.

Beide Geschlechter nehmen kreativtherapeutische Angebote gerne an, die auch in Richtung Handwerkskunst orientiert sein können. Die meisten Menschen können so an bekannten Kulturtechniken anknüpfen und im Rahmen eines kreativtherapeutischen Angebots eigene Themen bearbeiten. 

Kunsttherapeutische Intervention: Bewährt haben sich Angebote aus der Objektkunst. Ideal ist Keramiplast, eine Art lufttrocknender Ton, der nicht stark schmutzt, mit wenig Wasser und ein bisschen Wärme sehr gut formbar ist und in fast 24 Stunden trocknet. In folgenden Sitzungen kann dieser auch noch weiterbearbeitet werden.

Hände einer älteren Person, die einen kleinen Vogel aus Ton halten.

Biete ein Stück Keramiplast an und gib die Fragestellung: „Gestalten Sie ein Geschenk. Was wird es? Und für wen?“ Gehe dabei behutsam mit der Fragestellung um, denn „ein Geschenk für sich selbst“ kann aus unserer Sicht ressourcenorientiert sein, ist in einigen Kulturen aber ein Tabu.
 

3. Wertschätzung vermitteln

Es ist wichtig, den Menschen in der Kunsttherapie Ernsthaftigkeit und Wertschätzung zu vermitteln, z. B. über höherwertiges Material und vordergründig projektorientiertem Arbeiten. Auch wenn in der Kunsttherapie normalerweise das intuitive und emotionale Malen bevorzugt wird, zeigt die Erfahrung, dass Menschen sich durch das „Matschen" und „Fließen" schnell nicht ernstgenommen fühlen: „Kunst ja, aber nicht wie meine Kinder im Kindergarten“, lautet dann die Abwehr im Erstkontakt. Gerade an diesem sensiblen Zeitpunkt des Erstkontakts ist es wichtig, die Menschen ernst zu nehmen. Im weiteren Verlauf kann dann Schritt für Schritt auch tiefer und intuitiver an emotionalen Prozessen gearbeitet werden.

Kunsttherapeutische Intervention: Gib deinen Patient:innen eine kleine Einwegkamera mit (diese gibt es für unter 10 Euro im Drogeriemarkt) und bitte sie, sich selbst zu portraitieren. Findet gemeinsam ein Thema. Erläutere, dass die Fotos nur für diesen Rahmen sind, dass die Fotos entwickelt werden müssen und alle Fotos am Ende ausgehändigt werden. Erläutere bei Bedarf auch noch mal eine analoge Kamera. Das Fotoprojekt gibt dir einen ersten Eindruck in die Persönlichkeit sowie hinsichtlich Kreativität, Kognition, Erzählstruktur und den aktuellen Thematiken. Des Weiteren hast du Material und persönliche Anknüpfungspunkte für weitere (Therapie-)Sitzungen.
 

4. Interkulturell sensibel sein

Für ein gelungenes Angebot müssen Therapeut:innen interkulturell sensibilisiert sein und offen mit Kulturunterschieden umgehen können. Es geht darum, eine gemeinsame Ebene zu finden, aufeinander zuzugehen und voneinander zu lernen.

Kunsttherapeutische Intervention: Als hilfreich hat es sich erwiesen, Kultur- und Kunsttechniken aus den Heimatländern einzusetzen und diese im Verlauf mit Erfahrungen, Kultur- und Kunsttechniken des Aufnahmelands zu verknüpfen. So können Themen der Integration, Assimilation, Persönlichkeit, Verlust und Hinzunahme bearbeitet werden.

Eine Frau hält eine Kamera vor ihr Gesicht.

5. Stabilität bieten

Ein Angebot, das regelmäßig, zu einem festen Zeitpunkt und an einem festen Ort stattfindet, bietet langfristig einen Mehrwert. Auch Therapeut:innen müssen durch Präsenz und Beziehungsaufbau Halt geben. Erfahrungen des Verlustes und der Instabilität haben Menschen mit Fluchterfahrung zu genüge hinter sich.

Kunsttherapeutische Intervention: Innerhalb der Sitzungen unterstützen kreative Ankommens- und Verabschiedungsrituale die Stabilität. Erläutere zum Beispiel nonverbal über Therapiekarten und mit Hilfe von Gesichtsausdrücken verschiedene Emotionen. Diese könnt ihr im zweiten Schritt mit Farbkarten verbinden. So werden Emotionen mit Farben verknüpft, was eine gute Basis bietet, um eigene Emotionen wahrzunehmen und auszudrücken, selbst wenn die Worte dafür fehlen.

Schließlich könnt ihr ein eigenes Ankommens- und Verabschiedungsritual erarbeiten: Über Farbkarten oder Farbtücher kannst du z. B. zu Beginn und zum Ende nonverbal abfragen, wie sich dein:e Patient:innen fühlen.

Zusammenfassend lässt sich festhalten: Für Menschen mit Fluchterfahrung sind Kunsttherapie sowie kunsttherapeutische Interventionen eine Möglichkeit, auch ohne viele Worte, einen Ausdruck für Themen und Emotionen zu finden und so psychischen Leidensdruck zu lindern. So entsteht ein sicherer Raum, in dem die Selbstreflektion angeregt und das Selbstwertgefühl gestärkt wird.