„Psychotherapie ohne Fachgedöns“: Warum Transparenz so wichtig ist

Eine Person, über und auf deren Gesicht ein Pflanzenwirrwarr schwebt

Egal ob Podcasts, Ratgeber oder Social-Media: Wenn es um Psychotherapie geht, bleibt vieles vage, im Fachjargon stecken oder wird noch immer klischeehaft und stigmatisierend dargestellt. Das wollte die Psychologin, Psychotherapeutin und Autorin Nike Hilber so nicht stehen lassen. Im psylife-Interview spricht sie über ihr aktuelles Buch „Psychotherapie ohne Fachgedöns“ und die Bedeutung von Transparenz.

Frau Hilber, wie entstand die Idee zu „Psychotherapie ohne Fachgedöns“ und welche Lücke wollten Sie damit schließen?

Die Idee entstand originär während meiner Ausbildung zur tiefenpsychologisch fundierten Psychotherapeutin. Bereits während des Studiums habe ich bemerkt, dass die Komplexität der in dieser Fachrichtung gebräuchlichen Fachbegriffe viele Menschen erst mal total abschreckt. Und dann habe ich den Ehrgeiz entwickelt, diese Begriffe so erklären zu wollen, dass es wirklich jeder und jede verstehen kann – ob vom Fach, nicht vom Fach oder Menschen, die gar nichts mit Psychologie am Hut haben. In diesem Zusammenhang habe ich dann zunächst auf Instagram eine Reihe gestartet und unter dem Hashtag #ohnefachgedöns komplexe, psychodynamische Begriffe in einfacher Sprache erklärt. Und das stieß auf ganz viel Resonanz!

Um auch die Menschen abzuholen, die kein Social Media nutzen, war ein Buch dann irgendwann die logische Konsequenz.

Gibt es ein Kapitel oder Thema, das Ihnen als Therapeutin besonders wichtig ist, weil es in der Praxis auch unter Fachkolleg:innen häufig unterschätzt oder zu wenig reflektiert wird?

Zunächst ist mir natürlich einfach wichtig, dass die Psychodynamik verständlich in die Welt hinausgetragen wird. Was mir darüber hinaus ganz viel bedeutet, ist, dass in der psychotherapeutischen Arbeit im Zusammenhang mit der Entstehung und Aufrechterhaltung psychischer Erkrankungen nicht nur individuelle Faktoren wie biografische Erfahrungen oder persönliche Verhaltensmuster betrachtet werden, sondern ebenso gesellschaftliche Einflussfaktoren. Dazu gehören etwa Sexismus, Rassismus, Antisemitismus oder Ableismus, die maßgeblich zur Entstehung und Aufrechterhaltung psychischer Belastungen beitragen können. Natürlich lässt sich im therapeutischen Raum nur begrenzt auf solche gesellschaftlichen Bedingungen einwirken, weil es eben um gesamtgesellschaftliche Prozesse geht. Trotzdem finde ich es essentiell, die Einflüsse zu benennen und auch anzuerkennen.

Wie kann die psychodynamische Perspektive helfen, gesellschaftliche Entwicklungen besser zu verstehen, und was können auch andere Therapierichtungen daraus mitnehmen?

Die psychodynamische Perspektive (red. Anmerkung: international gebräuchlicher Überbegriff für die tiefenpsychologisch fundierte Psychotherapie und analytische Psychotherapie/Psychoanalyse) bietet einen Zugang, der gesellschaftliche Entwicklungen unter dem Einbezug unbewusster Prozesse betrachtet. Sie richtet den Blick darauf, wie unbewusste Dynamiken Individuen und Gruppen prägen - zum Beispiel, wie kollektive Ängste oder Abwehrmechanismen gesellschaftliche Prozesse beeinflussen können, etwa durch Spaltung oder auch die Bildung von Feindbildern. Ich denke, dass dieser Ansatz andere therapeutische Richtungen darin unterstützen kann, die Bedeutung unbewusster Faktoren stärker mitzudenken und dementsprechend psychische Belastungen nicht nur auf individueller Ebene, sondern auch im Kontext sozialer Spannungen oder historischer Entwicklungen oder auch hinsichtlich transgenerationaler Weitergabe von Traumata zu betrachten.

Vier Holzmännchen und fünf Würfel mit Symbolen liegen auf einer Holzoberfläche.

Wichtig ist mir aber auch zu betonen, dass natürlich andere Therapieschulen, wie etwa die systemische Therapie mit ihrem Fokus auf soziale Gefüge, wichtige Perspektiven einbringen, die das Gesamtverständnis bereichern. In der psychodynamischen Psychotherapie steht ja weniger das unmittelbare Beseitigen von Symptomen im Vordergrund als das Verständnis ihrer unbewussten Funktionen vor dem Hintergrund eben komplexer gesellschaftlicher Situationen. Und ich denke, dass dieser Fokus die Vielfalt psychotherapeutischer Ansätze sehr bereichert und Möglichkeiten für einen differenzierten Austausch zwischen den Disziplinen eröffnet.

Im Buch zeigen Sie am Beispiel von dem fiktiven Therapeuten Herrn Beck, dass man als Therapeut:in nicht in jeder Sitzung vollkommen präsent ist. Ist solche Selbstoffenheit für Sie Teil professioneller Transparenz?

Ja, ich denke, dass Psychotherapeutinnen eine maßgebliche Vorbildfunktion haben. Im Beispiel von Herrn Beck ging es mir darum, die Berufsgruppe auch ein Stück zu entidealisieren. Es ist unsere Verantwortung für unsere Patient:innen eine sichere Umgebung zu schaffen, in der sie sich öffnen können. Doch Psychotherapeut:innen sind auch nur Menschen und wie in jeder anderen Beziehung können auch im therapeutischen Raum Irritationen entstehen. Wichtig ist dann allerdings, dass die Fachleute transparent damit umgehen, sodass Patient:innen verinnerlichen können, dass solche „Störungen“ in der therapeutischen Beziehung lösbar sind und unangenehmes oder fehlerhaftes Verhalten, wenn mit Wohlwollen und Klarheit angesprochen, eine korrigierende Erfahrung darstellen kann.

Sie erfahren, man kann Krisen verantwortungsvoll durcharbeiten, Probleme benennen und dadurch Beziehungen sogar vertiefen. Herr Beck schweift ja während des Gesprächs ab und hört seinem Patienten Tom zeitweise nicht mehr zu. Er bemerkt das glücklicherweise recht schnell und meldet Tom dann ehrlich zurück, dass er gerade nicht zugehört hat. Gemeinsam entdecken sie, dass Tom so etwas öfter widerfährt und vor allem, weshalb das so ist. Wichtig bei dieser Form der Transparenz ist, dass man sich gut überlegen muss, wann und ob man sie einsetzt. Hier sind Taktgefühl und Gespür für den therapeutischen Prozess gefragt.

Zwei junge Frauen sitzen sich freudestrahlend gegenüber.

Wie können (besonders angehende) Therapeut:innen damit umgehen, wenn sie merken, dass sie innerlich abschweifen?

Zunächst ist es mir total wichtig zu betonen, dass es vollkommen in Ordnung ist, wenn das mal passiert. Gerade angehende Psychotherapeut:innen haben oft großen Druck, alles richtig zu machen. Wichtig ist, wie damit im Anschluss umgegangen wird, wenn es denn passieren sollte. Aus psychodynamischer Perspektive würde man sich im ersten Schritt fragen: Warum schweife ich gerade ab? Hat das etwas mit mir zu tun, also habe ich zum Beispiel zu wenig geschlafen und kann mich deshalb nicht gut konzentrieren? Dann im zweiten Schritt zu schauen: Wenn das alles mit Nein beantwortet wurde, hat meine Reaktion etwas mit der Psychodynamik meines Gegenübers – also wie in meinem Buch jetzt zum Beispiel mit Herrn Beck selbst - zu tun? Also wiederholt sich hier etwas, worunter mein Patient/meine Patientin im Alltag auch leidet, beispielsweise das Gefühl, „nicht gehört“ zu werden?

Im Idealfall kenne ich ja meine Patient:innen schon gut und weiß, das könnte ein Thema sein. In diesem Fall kann man sich mit einer vorsichtigen Deutung versuchen und die eigenen Gedanken dazu teilen. Wichtig dabei ist allerdings die nicht-wissende Grundhaltung. Ich kann mit meiner Deutung richtig liegen, muss aber nicht. Das entscheidet dann mein Gegenüber. Ein einfaches „Entschuldigen Sie, ich bin gerade abgeschweift, könnten Sie noch einmal wiederholen, was Sie gesagt haben?“ tut es aber manchmal selbstverständlich auch. Interessant ist es, wenn es immer und immer wieder passiert, und zwar nur bei dieser einen Person. Dann sollte man dem – wie bei Tom - nachforschen.

In Ihrem Buch stellen Sie die beiden Maxime „Was fürs Hirn #ohnefachgedöns“ und „Was fürs Herz #reflexionfürdich“ vor und kombinieren damit Psychoedukation mit Selbsterfahrung.

Auf die Gefahr hin, dass die Leser:innen das alles schon gut wissen, bin ich der festen Überzeugung, dass es sehr hilfreich für den eigenen Prozess ist, sich selbst und die eigene psychische Reaktion zu verstehen. Also ein Narrativ über das eigene biografische Geworden-Sein zu entwickeln. Allerdings entsteht Erkenntnis selten ausschließlich über rein kognitives Verstehen, sondern das Verstandene muss auch erleb- und fühlbar gemacht werden. Und genau das wollte ich mit „was fürs Hirn“ in Kombination mit „was fürs Herz“ erreichen. In der Hoffnung, dass es in dieser Kopplung des Inhaltlichen und des Praktischen wirklich etwas bewegen kann.

Dazu direkt eine Frage fürs Herz: Welche Rückmeldungen aus der Fachwelt oder von Patient: innen haben Sie besonders berührt?

Tatsächlich haben mir viele Psychotherapie-Studierende und Psychotherapeut:innen in Weiterbildung geschrieben und sich bei mir für diesen leichten, dennoch fachlich fundierten Einblick in die psychodynamische Psychotherapie bedankt. Der kommt ja leider an Universitäten nach wie vor ein wenig zu kurz. Das hat mich sehr gefreut und auch Wertschätzung durch Kolleg:innen anderer Therapieverfahren hat mich erreicht, was ich immer besonders schön finde, weil mir die Wertschätzung zwischen den unterschiedlichen Verfahren sehr am Herzen liegt. Eine weitere Rückmeldung, die mich sehr berührt hat, stammt von Cecile Loetz und Jakob Müller, die Gründer des Podcasts „Rätsel des Unbewussten“: „Das Besondere an diesem Buch: der Autorin gelingt es, einerseits verständlich und nachvollziehbar zu bleiben – sich aber andererseits nicht ins Oberflächliche zu verlieren.“ Diese Gratwanderung zwischen Fachlichkeit, aber eben auch leicht verständlicher Sprache lag mir – wie der Titel schon sagt - sehr am Herzen und ich freue mich, wenn mir das gelungen ist.

Illustration eines Kopfes im Profil, dessen Gehirn rot gefärbt und mit einem unter dem Kopf befindlichen Herz verbunden ist.

Und zum Schluss: Was steht bei Ihnen als Nächstes an, vielleicht weitere Projekte #ohnefachgedöns?

Da kommt auf jeden Fall was. Ich darf aber noch nicht darüber sprechen. 2026 gibt es News …

Vielen Dank für das Gespräch!

 

Nike Hilber:

Nike Hilber ist Psychologin und psychologische Psychotherapeutin, Fachkunde tiefenpsychologisch fundierte Psychotherapie, in einer Praxis angestellt und Autorin. Seit 2018 ist sie wissenschaftsjournalistisch auf Instagram unter @la_psychologista aktiv. Dort macht sie ihre spannenden Inhalte unter dem Hashtag #ohnefachgedöns einem breiten Publikum zugänglich.