Kontrollierter Konsum - Illusion oder Chance?

Dunkelhaarige Frau, die eine Zigarette raucht

Ein Wunsch, den viele Abhängigkeitserkrankte teilen, ist die Vorstellung, ihr Suchtmittel in kontrolliertem Maß zu konsumieren. Sich nicht komplett von den positiven Effekten der Substanz zu verabschieden, sondern weiterhin einige „chillige Stunden“ oder ab und zu eine „rauschende Party“ zu feiern, ohne die langfristigen, negativen Folgen eines regelmäßigen Konsums. Ist das in der Praxis wirklich möglich?

Bis sich ein:e Patient:in aufgrund des eigenen Suchtverhaltens in eine Therapie begibt, vergehen oft viele Jahre. In den meisten Fällen müssen Betroffene tiefgreifende Veränderungen erleben, um den eigenen Konsum zu hinterfragen. Darunter zählen bspw. ausgeprägte gesundheitliche Folgen, ein Arbeitsplatzverlust oder eine Trennung.

Jede:r Patient:in hat trotz des hohen Leidensdrucks eine ambivalente Haltung zum Konsummittel. Den langfristig negativen Folgen stehen kurzfristig positive Effekte gegenüber. Die Vorstellung eines abstinenten Lebens kann daher Überforderung und Versagensängste auslösen. Das Suchtmittel hat die Konsument:innen über viele Jahre täglich „begleitet“ und ihnen vermeintlich dabei geholfen, den Alltag zu überstehen. Beängstigend erscheint die Vorstellung, von nun an „alleine klarzukommen“.

Hören Betroffene vom Konzept des kontrollierten Konsums, tritt oft eine ähnliche Wirkung ein: Es fällt Druck ab. Der Druck, sich vollends vom Suchtmittel zu verabschieden. Der Druck, ohne „Betäubung“ schwierige Gefühle bewältigen zu müssen. Doch für wen eignet sich dieses Konzept?

 

Berücksichtige die individuelle Suchtanamnese

Zur Beantwortung der Frage, ob ein kontrollierter Konsum eine Illusion oder Chance ist, sind einige Faktoren zu berücksichtigen. Ganz entscheidend sind meines Erachtens zwei Faktoren:

  1. Die Dauer der Abhängigkeit
  2. Die Anzahl der Therapie- bzw. Abstinenzversuche

Ist jemand bereits seit 20 Jahren abhängig, hat mehrere stationäre Therapien und viele gescheiterte Abstinenzversuche durchlebt, ist die Zuversicht sehr getrübt. Ein abstinentes Leben führen zu können, erscheint nach den vielen Misserfolgen unvorstellbar. In solchen Fällen sollten realistische Ziele in Richtung einer Konsumreduktion vereinbart werden.

Die Gesamtsituation der Patient:innen zu berücksichtigen, stärkt das Vertrauen in den therapeutischen Prozess und die notwendige Veränderungsmotivation. So kann Widerstand vermieden und die Selbstwirksamkeitserwartung deutlich erhöht werden.

Eine Frau schreibt auf einer Bank sitzend in ein Suchttagebuch.

Vereinbare konkrete „Konsumregeln“

Damit kontrollierter Konsum (übergangsweise) funktionieren kann, ist ein strukturiertes therapeutisches Vorgehen empfehlenswert. Zunächst ist es ratsam, den/die Patient:in über zwei Wochen ein Konsumtagebuch führen zu lassen. Anschließend sollten Änderungsziele von dem/der Betroffenen benannt werden. Entscheidend ist hierbei, die Ziele in einem „Konsumplan“ mit entsprechenden „Konsumregeln“ schriftlich festzuhalten. Dies unterstreicht die Ernsthaftigkeit und erzeugt somit auch eine Verbindlichkeit.

Folgende Faktoren sollten in einem Konsumplan festgelegt werden:

  1. Anzahl an Konsumtagen pro Woche
  2. Genaue Konsummenge pro Konsumtag
  3. Zeitpunkt und Ort des Konsums

Auch wenn zunächst nur sehr kleinschrittige Veränderungen von den Betroffenen vorgeschlagen werden: Jegliche Reduktion ist besser als der Status Quo und stärkt den weiteren Prozess!

Sollte der Konsum über die vereinbarte Planung hinausgehen, ist es essenziell, dies als einen Rückfall zu definieren und dementsprechend therapeutisch aufzugreifen (bspw. mittels detaillierter Situationsanalyse). Nur dann kann sich langfristig etwas am alten Verhaltensmuster verändern. Zu berücksichtigen ist auch, dass die Patient:innen keine Konsummittel zu Hause lagern sollten. Eine permanente Verfügbarkeit in der häuslichen Umgebung erschwert den Veränderungsprozess enorm.

 

Abstinenzmotivation erarbeiten

Sofern die Abhängigkeitserkrankung von etwas kürzerer Dauer ist und auch noch keine Vielzahl an gescheiterten Abstinenzversuchen vorliegt, strebe ich mit den Betroffenen vorrangig die Erarbeitung einer Abstinenzmotivation an. Für eine Vielzahl von Menschen ist es sogar einfacher, auf etwas komplett zu verzichten, als sich immer wieder disziplinieren zu müssen. Als Vergleich: Würde es dir einfacher fallen, Schokolade zu kaufen und davon nur ein einziges Stück zu essen oder die Schokolade gar nicht erst zu kaufen? Das ist natürlich auch eine Typfrage und sehr individuell. Allerdings fällt es vielen Menschen leichter, dem Reiz weitestgehend aus dem Weg zu gehen. Die Konfrontation mit der Substanz bedarf eines hohen Maßes an Selbstbeherrschung, um keinen Kontrollverlust zu erleben.

Ein verzerrtes Spiegelbild einer jungen Frau

Beide Ansätze, Abstinenz und kontrollierter Konsum, haben ihre Herausforderungen: Kompletter Verzicht vs. Selbstdisziplin. Die „Suchtstrukturen“ im Gehirn sind (sehr vereinfacht ausgedrückt) nicht „löschbar“: Abhängigkeitserkrankte sind chronisch krank. Es geht also darum, einen passenden Umgang zu erarbeiten, der von den Betroffenen im Alltag langfristig umgesetzt werden kann.

 

Hilf den Patienten:innen, sich nicht selbst zu täuschen

Kontrollierter Konsum ist keine komplette Illusion. Aber ehrlich gesagt funktioniert er nur sehr selten. Die Gefahr, sich selbst zu täuschen („Ab morgen wieder weniger, heute ist eine Ausnahme…“) ist sehr hoch. Auch trennt man sich häufig nicht vom alten Umfeld (Dealer, „Konsumfreunde“) – ein essenzieller, aufrechterhaltender Faktor der Sucht. Diese Erfahrungen müssen allerdings oft erst selbst gemacht werden, um eine intrinsische Abstinenzmotivation zu entwickeln. Kontrolliertes Konsumieren kann daher in einigen Fällen auch ein Schritt auf dem Weg zur Abstinenz sein.