Die Kraft der Natur im Mentaltraining nutzen

Frau sitzt auf Waldboden zwischen Birken

In der Natur kommen Menschen zu sich. Hier fällt es leichter, achtsam zu sein und auf Ressourcen zurückzugreifen. Die Natur ist daher ein optimales Setting, um Klient*innen wirksam und nachhaltig in ihren Prozessen zu begleiten. Ein Fallbeispiel zeigt, wie du beim Mentaltraining in der Natur Bewegung, Achtsamkeit und Ressourcenarbeit miteinander verbinden kannst.

Wo spüren Menschen so facettenreich ihre eigene Präsenz und Lebendigkeit wie in der freien Natur? Als Mentaltrainerin und Coach erlebe ich dies bei meinen Klient*innen immer wieder und bin deshalb überzeugt von den einzigartigen Möglichkeiten des Arbeitsraums Natur. Um hier als Prozessbegleiter*in fundiert und gleichzeitig pragmatisch vorgehen zu können, habe ich das Natur-Mentaltraining entwickelt. Das integrative Konzept aus Elementen des Zürcher Ressourcen Modells (ZRM®), des Achtsamkeits- und Sportmentaltrainings sowie der Erlebnispädagogik ist eine wunderbare Möglichkeit, deine Klient*innen in einem persönlichen Veränderungsprozess wirksam und nachhaltig zu begleiten.

In der Natur finden wir beste Bedingungen, damit unsere Klient*innen motivierende Ziele für sich entwickeln und mentale Stärke für die erfolgreiche Umsetzung aufbauen können. Gerade Letzteres ist wichtig, um für die Herausforderungen des Alltags gut gewappnet zu sein. Hier braucht es genügend Ressourcen, um auch in schwierigen Situationen auf das eigene Potenzial zugreifen zu können.

Mann meditiert im Wald

Die Natur als ideales Trainingsumfeld

Für einen erfahrungsorientierten Ansatz, der auf mentaler, körperlicher und emotionaler Ebene arbeitet, bietet dir die Natur ein optimales Setting. Zum einen kommen deine Coachees sehr schnell in Kontakt mit sich und ihren Ressourcen. Zum anderen steht dir ein perfektes Trainingsumfeld zur Verfügung. Du kannst in konkreten Situationen Techniken zur Selbstregulation und Handlungssteuerung vermitteln und üben – etwas, das in einem Beratungszimmer so nicht möglich wäre.

Die Natur ist Pendant für die kleinen und großen Herausforderungen des Alltags. Alles, was du hier mit deinen Coachees übst, können sie als neue Ressourcen in ihrem Privat- oder Berufsleben nutzen und dort auf „Herz und Nieren testen”. Was genau für deine Klient*innen in der Natur eine Herausforderung sein könnte, besprecht ihr ganz individuell: Dies kann schon der reine Aufenthalt draußen bei Wind und Wetter sein, die besonderen Gegebenheiten des Geländes oder das ungewohnte Umfeld. Wenn du möchtest, geht auch mehr: z. B. ein Training zur Selbstberuhigung in einem Kletterparcours oder das Verlassen der Komfortzone im Rahmen einer Hüttenübernachtung in den Bergen.
 

Prozessbegleitung in der Natur – ein Beispiel aus der Praxis

Wie kann so eine Begleitung in der Praxis aussehen? Ich möchte dir dies anhand eines konkreten Fallbeispiels aus meiner Arbeit erläutern:

Meine Klientin ist Führungskraft in einem großen Konzern und leidet zunehmend darunter, von ihrer Vorgesetzen und ihren Kolleg*innen zu wenig gesehen und in Prozesse integriert zu werden. Mittlerweile ist sie so verunsichert, dass sie in gemeinsamen Meetings kaum noch von ihren Projekten berichtet. Ihr Wunsch ist es, wesentlich selbstbewusster aufzutreten und mehr für sich einzustehen.

Unser Treffpunkt liegt direkt am Stadtrand, umgeben von weitläufigen Feldern und einem abwechslungsreichen Forstgebiet. Wir beginnen unseren Weg durch einen lichten, freundlichen Mischwald und meine Klientin erzählt mir von ihrem Anliegen.

Sie wirkt leicht angespannt und unter Druck. Im Gehen passe ich mich ihrem Rhythmus an, um eine gemeinsame Ebene und Schwingung zu erleichtern. Immer wieder bleibt sie stehen, wenn es für sie inhaltlich besonders intensiv wird. Zwischendurch fallen ihr Kleinigkeiten in der Natur auf, die ihr augenscheinlich Freude bereiten: ein Rotkehlchen kommt und hört uns zu; wir passieren ein herrschaftliches Haus, das sie an ihre Leidenschaft für Schlösser erinnert. Nach etwa einer halben Stunde wirkt mein Coachee schon gelöster und ich nehme dies als einen guten Zeitpunkt wahr, um im Prozess fortzufahren.

Fliegenpilz auf Waldboden

Hierfür ist es wichtig, dass meine Klientin einen guten Zugang zu ihren Ressourcen erhält und präsent im Hier und Jetzt ist. Nach dem bewussten Reflektieren und Sprechen geht es darum – auch für mich –, raus aus dem Kopf ins Sein und Fühlen zu kommen. Als hilfreiche Vorgehensweise bietet sich an, einen achtsamen Übergang in den Arbeitsraum Natur zu gestalten. Meine Coachee wählt für sich die Option, etwa 15 Minuten alleine in Stille zu gehen und ihre Aufmerksamkeit dabei bewusst auf ihre Sinneswahrnehmung zu lenken. Alternativ wäre auch möglich, eine Meditation im Sitzen anzuleiten. Was hier passend ist, entscheidet dein*e Coachee und hängt meist auch vom Wetter ab.
 

Die Natur als Projektionsfläche für das Unbewusste

Im nächsten Schritt arbeiten wir weiter mit einer Vorgehensweise aus dem Zürcher Ressourcen Modell, das als ressourcenorientiertes Selbstmanagement-Training entwickelt wurde. Deine Klient*innen formulieren – bezogen auf ihr Anliegen – ein motivierendes Ziel für sich, das sowohl unbewusste Bedürfnisse als auch bewusste Motive berücksichtigt.

Dafür bitte ich meine Coachee nun, ein Natursymbol zu finden, das positive Gefühle in ihr hervorruft – der Verstand bleibt hier auf jeden Fall außen vor. Die Natur übernimmt an diesem Punkt im Prozess die Funktion einer Projektionsfläche für das Unbewusste. Durch den bewussten Auftrag („Wo ist hier eine Ressource für mich?”) haftet es sich dort an, wo sich abgespeicherte, positive Erfahrungen spiegeln können. Nach einiger Zeit bleibt der Blick meiner Klientin an einer großen, kräftigen Buche hängen, die präsent auf einem kleinen Hügel steht. Besonders auffällig sind ihre starken Wurzeln, ihre gewundenen Äste und ihr dicker Stamm. Der Anblick erzeugt bei meiner Klientin spontan ein inneres Gefühl von Wärme und Leichtigkeit und zaubert ihr ein Lächeln ins Gesicht. Solch schnelle Körpersignale nennen wir somatische Marker, die Sprache unseres Unbewussten.

Meine Klientin entwickelt nun mithilfe mehrerer Schritte ein sogenanntes „Motto-Ziel” für sich, das wiederum ein breites Strahlen bei ihr auslöst: „Gut verwurzelt zeige ich meine einzigartigen Stärken!” Das Ziel spiegelt kraftvoll wider, wo sie hinmöchte. Vor allem hat ihr Unbewusstes mitgeteilt, welche Ressourcen ihr dabei helfen können – das Stärken der eigenen Wurzeln. Wir sprechen darüber, was diese Metaphorik für sie bedeutet. Ihr wird deutlich, dass sie vor allem ihre privaten Freundschaften wieder mehr leben und ihr Hobby, das Tangotanzen, wieder reaktivieren möchte. Du siehst: Auf diese erweiterten Handlungsoptionen wäre der Verstand so wahrscheinlich nicht gekommen. Lösungen und Ressourcen finden wir eben ganz oft nicht in der bewussten Reflexion, sondern in unserem unbewussten Erfahrungsschatz.

Hände halten Eicheln und Beeren aus dem Wald

Priming – unbewusstes Lernen mit Natursymbolen

Damit sich das Motto-Ziel zukünftig als neue Haltung Schritt-für-Schritt verankern kann und im Alltag meiner Klientin handlungswirksam wird, arbeiten wir mit Erinnerungshilfen (Primes) aus der Natur. Auf dem Boden unter der Buche findet sie zahlreiche Bucheckern, die sie sich in eine schöne Schale auf ihren Schreibtisch stellt. Ein Foto von der Buche platziert sie ausgedruckt in ihrem Terminkalender und am großen Badezimmerspiegel. Die digitale Version nutzt sie als Hintergrund auf ihrem Handy und ihrem Rechner. Diese visuellen Reize erinnern sie auf unbewusster Ebene jedes Mal wieder an ihr Ziel und lösen positive Gefühle in ihr aus. Priming ist wissenschaftlich nachgewiesen eine äußerst wirksame Vorgehensweise, um erwünschtes Verhalten auf unbewusster Ebene vorzubereiten und zu ermöglichen.
 

Weitere Ressourcen aufbauen

Mit dem Motto-Ziel hat meine Klientin nun eine tragfähige, motivationale Basis geschaffen, die ihr Lust auf die angestrebte Veränderung macht. Trotz dieses Gefühls des wirklichen Wollens hält unser Alltag viele Situationen parat, die uns an unsere Grenzen bringen können. Das können altbekannte Themen sein, aber auch solche, die uns „kalt erwischen“. Oft fallen wir dann zurück in altes, unerwünschtes Verhalten, handeln mit einem Tunnelblick und empfinden Stress und Angst.

In den Folgetreffen probieren wir daher in der Natur verschiedene Methoden aus, die meiner Klientin zusätzlich als Ressource dienen sollen, um auch in schwierigen Situationen wieder einen guten Zugang zu ihrem eigentlichen Veränderungsvorhaben und ihrem positiven Gefühl zu erhalten. Hierzu zählen beispielsweise Atemübungen, Natur- und Gehmeditationen, Achtsamkeitsübungen, Embodiment- (Körperübungen) oder Visualisierungstechniken. Letztendlich geht es immer darum, sich auch unter Druck besser regulieren zu können und die eigene Stabilität wiederzufinden. Mit jeder Übung erweitert meine Klientin ihren Ressourcenpool und entwickelt über gelingende Erfahrungen neues Selbstvertrauen und ein Gefühl von Selbstwirksamkeit – drei wichtige Zugänge für den Aufbau von mentaler Stärke.

Frau sitzt am Schreibtisch mit Laptop

Transfer in den Alltag

Natur-Mentaltraining ermöglicht unseren Klient*innen intensive Lernerfahrungen in der Natur, die noch lange positiv nachwirken. Genauso wichtig ist es aber, dass unsere Coachees auch zwischen den Arbeitstreffen ihre Ressourcen auf individuelle Tauglichkeit prüfen und die für sie hilfreichen Methoden trainieren.

Wie ist es nun bei meiner Klientin weitergegangen? Motiviert durch ihr neues Motto hatte sie wieder Lust und Freude, sich mit alten Freunden zu treffen und wie von selbst hat sich hier sogar eine neue Tangopartnerschaft entwickelt. Als dies hat sie beflügelt, auch im Büro präsenter zu sein und proaktiv auf ihre Kolleg*innen zuzugehen. Für herausfordernde Momente wie beispielsweise ihre wöchentlichen Abteilungssitzungen hat sie immer wieder neue Methoden ausprobiert, die wir in der Natur geübt haben. Als besonders hilfreich hat sich hier die beruhigende Atmung und eine lockere, aufrechte Körperhaltung erwiesen – kombiniert mit der inneren Selbstinstruktion („Jetzt erzähle ich von meinen Erfolgen der letzten Woche“).

Wenn wir so mit unseren bewussten und unbewussten Ressourcen arbeiten, dann stehen uns nach einiger Zeit des Übens neue, hilfreiche Automatismen im Alltag zur Verfügung. Zusätzlich empfehle ich, mit einem Erfolgstagebuch zu arbeiten – eine einfache Methode, um in kleinen Schritten die eigene Selbstwirksamkeit zu reflektieren und zu spüren.

 

Zum Weiterlesen

Gans, Dienemann, Hume, Lorino (2020). Arbeitsraum Natur – Handbuch für Coaches, Therapeuten, Trainer und Organisationen. Wiesbaden: Springer Nature