Psychotherapeutin & Autistin – Interview mit Birgit Saalfrank

Die Psychotherapeutin Birgit Saalfrank erhielt mit 39 Jahren eine Autismus-Diagnose, die ihr Leben radikal veränderte. (Foto: privat)

Birgit Saalfrank arbeitete jahrelang als Psychologin und Psychotherapeutin, bevor sie sich wegen Depressionen und Burnouts in Behandlung begibt – und mit 39 Jahren eine Autismus-Diagnose erhält. Ihr Leben verändert sich radikal. Über ihren Weg zu sich selbst hat sie nun eine Autobiografie geschrieben und mit uns im Interview darüber gesprochen.

Frau Saalfrank, woran haben Sie damals gemerkt, dass es Ihnen nicht gut ging und an welchem Punkt haben Sie gemerkt, dass Sie Unterstützung brauchen?

Mir ging es eigentlich schon viele Jahre nicht gut. Meinem Berufseinstieg 1998 war der Tod meines Vaters ein Jahr vorher vorausgegangen, auf den ich – was ich damals so explizit nicht wusste – mit einer Depression reagiert hatte. Diese Depression war bei meinem Berufseinstieg immer noch vorhanden, aber ich wehrte sie ab, konzentrierte mich nur darauf, was ich erreichen wollte. All die 12 Jahre während meiner aktiven Berufslaufbahn als Psychologin und  Psychotherapeutin war diese Depression immer da, sie ist nie wirklich besser geworden. 2005 wurde sie so schlimm, dass ich befürchtete, einen depressiven Stupor zu entwickeln. Erst da suchte ich Hilfe, begann mit der Einnahme eines Antidepressivums und später mit der Durchführung einer psychoanalytischen Behandlung als Patientin. Mehrfach wechselte ich die Arbeitsstellen, in der Hoffnung, eine Stelle zu finden, deren Anforderungen ich auch langfristig bewältigen könnte. 2010 konnte ich schon wieder nicht mehr. Obwohl ich ja bereits eine Psychoanalyse absolviert und darin auch viel über meine beruflichen Überforderungsgefühle gesprochen hatte, musste ich mich schon wieder öfters krankschreiben lassen. Die kurzen, aber wiederkehrenden Arbeitsunfähigkeitszeiten waren es letztendlich, die mir deutlich machten, dass es so nicht weitergehen konnte.

„Die kurzen, aber wiederkehrenden Arbeitsunfähigkeitszeiten waren es letztendlich, die mir deutlich machten, dass es so nicht weitergehen konnte.“ (Foto: Verne Ho – Unsplash.com)

Die (...) wiederkehrenden Arbeitsunfähigkeitszeiten waren es letztendlich, die mir deutlich machten, dass es so nicht weitergehen konnte.

Wie war es für Sie, so spät die Autismus-Diagnose zu bekommen?

Auf der einen Seite fühlte ich mich erleichtert, weil ich endlich eine Antwort darauf erhielt, was – neben einer depressiven Erkrankung – mit mir los war und warum mich die vielen sozialen Interaktionen bei meinem Beruf so überfordert haben. Auf der anderen Seite war es auch eine Kränkung. Autistisch zu sein, stellt in unserer Gesellschaft eine Behinderung dar, da sie kaum auf autistische Bedürfnisse eingestellt ist. Insgesamt führte das Wissen darum, autistisch zu sein, bei mir zu der Erkenntnis, dass mein bisheriges Leben an einem Ende angekommen war. Vor allem berufliche Ziele, die ich mir gesteckt hatte, würde ich nicht mehr erreichen können. Deshalb tat es am Anfang vor allem weh, um meinen Autismus zu wissen, denn er machte mir meine Begrenzungen klar.

„Deshalb tat es am Anfang vor allem weh, um meinen Autismus zu wissen, denn er machte mir meine Begrenzungen klar.“ (Foto: Kristina Tripcovic – Unsplash.com)

Haben Sie an irgendeinem Punkt vor der offiziellen Diagnose daran gedacht, dass Sie autistisch sein könnten?

Nein, nicht wirklich. Als ich mich 2002 auf meine Approbationsprüfung zur Psychologischen Psychotherapeutin vorbereitete, fand ich zufällig ein Buch über das Asperger-Syndrom, das mir interessant erschien. Ich kam jedoch damals nicht im Traum darauf, dass das mich selbst betreffen könnte. Ich hatte die Vorstellung (die auch heute noch weit verbreitet ist), dass Autisten nicht sprechen, stets sehr verhaltensauffällig und nicht in der Lage sind, ihr Leben selbstständig zu meistern. Infolgedessen konnte jemand, der berufstätig war und in einer Partnerschaft lebte, nicht autistisch sein – so meine Logik in Bezug auf mich selbst. Dass dem nicht so ist, wurde mir erst klar, als ich mich nach meiner Asperger-Diagnose 2010 intensiv mit hochfunktionalem Autismus und dem Asperger-Syndrom beschäftigte.

Deshalb tat es am Anfang vor allem weh, um meinen Autismus zu wissen, denn er machte mir meine Begrenzungen klar.

Autistin und Psychotherapeutin, das klingt zugegeben erst mal etwas widersprüchlich. Dennoch haben Sie jahrelang erfolgreich als Psychotherapeutin gearbeitet. Welchen Einfluss hatte der Autismus rückblickend auf Ihre Berufstätigkeit?

Asperger-Autisten haben ja häufig ein Spezialinteresse. Bei mir waren es Psychiatrie, Psychotherapie und die Analyse von menschlichen Interaktionen generell. Meine mangelnden intuitiven Fähigkeiten im sozialen Bereich machte ich deshalb mit meiner intensiven gedanklichen Beschäftigung mit diesen Themen wett. Eigentlich mochte ich meinen Beruf, habe immer sehr genau die Probleme meiner Patienten analysiert und jede einzelne Therapiestunde (egal ob Einzel- oder Gruppentherapie) intensiv vor- und nachbereitet. Auch habe ich sehr viele Fachbücher zum Thema gelesen und mir zu jedem Störungsbild einen dicken Ordner angelegt. Leider war ich von Anfang an mit den vielen sozialen Interaktionen überfordert, die der Beruf der Psychotherapeutin mit sich bringt. Mein größtes Problem in Bezug auf den Autismus ist die Reizüberflutung – durch äußere Reizquellen (Lärm, Geräusche, Berührung, visuelle Eindrücke etc.), aber eben auch durch soziale Interaktionen, die mich immer schon enorm viel Kraft gekostet haben. Daraus resultierte eine chronische Überforderung im Beruf, die meine depressive Erkrankung mitbedingte und schließlich zum Burnout führte.

„Mein größtes Problem in Bezug auf den Autismus ist die Reizüberflutung.“ (Foto: Anna Dziubinska – Unsplash.com)

Mein größtes Problem in Bezug auf den Autismus ist die Reizüberflutung.

Wie hat sich Ihr Leben danach verändert?

Nach der Autismus-Diagnose hat sich mein Leben radikal verändert. Zeitlich gesehen traf dabei die Asperger-Diagnose mit meinem berufsbedingten Dauer-Burnout zusammen, von dem ich mich auch im weiteren Verlauf nicht mehr richtig erholen konnte. Konfrontiert damit, dass ich beruflich nicht mehr weiter bestehen konnte, wurde ich sehr depressiv und musste mehrere stationäre Klinikbehandlungen absolvieren. Zwischenzeitlich wurde ich frühberentet und meine langjährige Partnerschaft ging in die Brüche. Ich verlor fast alles, aus dem mein Leben bis dato bestanden hatte. Erst nach zwei Jahren spürte ich wieder einigermaßen festen Boden unter den Füßen. Über diese Zeit schreibe ich auch ausführlich in meinem Buch „Ich, Birgit, Autistin und Psychotherapeutin“. Zudem war ich nach der Diagnose sehr viel autistischer geworden, die Diagnose wurde später wie eine Art Wegweiser zu meinem wahren Selbst. Letztendlich hat sie mir geholfen, die Rollen, in denen ich mich vorher meistens bewegt habe, abzulegen und im positiven Sinne mehr ich selbst zu werden.

„Ich wollte meinem Zusammenbruch gerne einen Sinn geben.“ (Foto: Pexels.com)

Sie erwähnen Ihr Buch. Wie kam es dazu, dass Sie angefangen haben, Ihre Erfahrungen aufzuschreiben?

Ich wollte meinem Zusammenbruch gerne einen Sinn geben. Er war so furchtbar, alles zu verlieren, woraus mein Leben bis dahin bestanden hatte - das durfte nicht umsonst gewesen sein. Ich wünsch(t)e mir, dass andere Menschen, die vielleicht in einer ähnlich schwierigen Situation sind, wie ich es damals war, von meinen Erfahrungen profitieren können. Allein schon zu wissen, dass es noch jemanden gibt, der Ähnliches erlebt hat, kann erfahrungsgemäß in Krisen sehr hilfreich sein. Meine Autobiografie ist auch nicht nur ein Buch über Autismus und den Umgang mit dem Erhalt einer Asperger-Diagnose im mittleren Erwachsenenalter. Mindestens genauso sehr ist es eines über eine langjährige depressive Erkrankung und wie man es wieder ins Leben zurück schafft – auch wenn man sich vielleicht von Einigem verabschieden musste, in meinem Fall von meinem Beruf.

Ich wollte meinem Zusammenbruch gerne einen Sinn geben.

Hatten Sie von vornherein die Idee, daraus ein Buch zu machen und Ihre Erfahrungen zu teilen?

Die Idee, ein Buch zu schreiben, entstand ca. ein Jahr nach der Asperger-Diagnose, als ich meine berufliche Wiedereingliederung abbrechen musste und mir klar wurde, ich würde nicht mehr in meinen Beruf als Psychotherapeutin zurückkehren können. Für mich war das eine schwere Krise, da ich sehr viel Energie, Zeit, Geld und Lebenskraft in meinen Beruf gesteckt hatte – und das war nun alles zu Ende. Ich war damals sehr depressiv und hatte keinen Plan, wie es für mich weitergehen sollte. Neben dem Sinn für andere Menschen wurde das Schreiben deshalb auch zu einer Aufgabe für mich selbst, die mich mehrere Jahre begleitet und immer wieder neu motiviert hat, nicht aufzugeben, sondern weiter zu gehen auf meinem Weg. Und es hat sich gelohnt: Jetzt ist mein Buch erschienen, was mich sehr freut!

„Es ist keine Schande, wenn man als Professioneller auch selbst Unterstützung benötigt.“ (Foto: 4 Rudamese – Pixabay.com)

Welche Reaktionen bekommen Sie dazu von Ihrem Umfeld, von anderen Betroffenen oder ehemaligen Kollegen?

Betroffene schreiben mir, dass sie sich in vielen meiner Beschreibungen wiederfinden und überrascht sind, dass noch jemand so etwas erlebt und in Worte gefasst hat. Sie finden es sehr mutig von mir, so ein offenes und ehrliches persönliches Buch zu schreiben. In meiner Autobiografie werde mein stetes Bemühen, mich weiterzuentwickeln, deutlich. Auch dass ich Autismus nicht als eine Kuriosität darstelle, sondern meine autistischen Einschränkungen in den Rahmen meiner Entwicklungsbedingungen in Kindheit und Jugend stelle. Manche Autisten sind aber auch traurig darüber, dass ich keine Möglichkeit gefunden habe, in meinen Beruf zurückzukehren. Es ist auch traurig, das kann ich schon verstehen. Trotzdem ist mein Leben so viel bunter geworden in den letzten Jahren – auch ohne den Beruf! Psychiater und Psychotherapeuten sagen mir, dass sie es für sehr wichtig erachten, dass ich dieses Buch geschrieben habe. Es sei sehr besonders, dass ich Depressionen und Autismus als Fachfrau aus den Innen- und Außensicht beschreiben könne, zudem meine verschiedenen (ambulanten und stationären) psychotherapeutischen Behandlungen als Patientin.

Es ist keine Schande, wenn man als Professioneller auch selbst Unterstützung benötigt.

Was würden Sie therapeutischen Kollegen raten, die ebenfalls bemerken, dass es ihnen psychisch nicht gut geht?

Es ist keine Schande, wenn man als Professioneller auch selbst Unterstützung benötigt. Psychische Erkrankungen machen keinen Halt vor Psychotherapeuten, Psychiatern oder Coaches. Es ist m. E. nicht erforderlich, psychische Erkrankungen selbst erlebt zu haben, um Betroffenen helfen zu können. Es muss aber auch nicht unbedingt schädlich sein, denn dann kann man sich besser einfühlen. Damit man wirksam anderen helfen kann, ist es auf jeden Fall wichtig, dass es einem selbst psychisch möglichst gut geht. Wenn das nicht der Fall ist (Gründe dafür gibt es viele, die können in einem selbst liegen oder auch in kritischen Lebensereignissen, mit denen man konfrontiert ist), dann sollte man sich Hilfe holen. Am besten frühzeitig, wenn „das Kind noch nicht in den Brunnen gefallen ist“. Ich kenne einige Kollegen, die eine Psychotherapie über die Krankenkasse als Patient/Patientin machen, und andere, die eher die Anonymität eines Coaches oder einer Beratungsstelle nutzen oder ihre Psychotherapie aus eigener Kasse bezahlen. Das muss jeder für sich entscheiden.

 

Frau Saalfrank, herzlichen Dank für das Interview!

Zum Weiterlesen:

Birgit Saalfrank (2019).
Ich, Birgit, Autistin und Psychotherapeutin. Patmos.