Pathologisches Horten erkennen und behandeln
Wir alle besitzen Dinge, von denen wir uns nur schwer trennen können – sei es die persönliche Lieblingstasse, ein erinnerungsbehaftetes Fotoalbum oder der lange aufbewahrte Glücksbringer. Bei Menschen, die vom pathologischen Horten betroffen sind, nimmt die Ansammlung von Dingen jedoch ein krankhaftes Ausmaß an. Was macht dieses Störungsbild aus? Wodurch entsteht pathologisches Horten? Und wie kann man es behandeln?
Bislang als Subtyp der Zwangsstörung eingeordnet, wird „Pathologisches Horten“ im DSM-5 und im ICD-11 als eigenständiges Störungsbild behandelt. Das auffälligste Merkmal dieser Erkrankung besteht in einer starken Unordnung und Vermüllung des persönlichen Wohnraums, verursacht durch das kontinuierliche Ansammeln von Gegenständen. Zentrales Symptom sind dabei Schwierigkeiten, sich von Dingen zu trennen, sie wegzuwerfen oder weiterzugeben, auch wenn die betreffenden Gegenstände nicht von hohem Wert oder hoher Nutzbarkeit sind. Viele Betroffene können oftmals einem Drang, Dinge zu erwerben, nicht widerstehen. Dabei handelt es sich vorrangig um kostenlose und objektiv wertlose Gegenstände, z. B. kostenlose Zeitungen, Flyer oder Verpackungen.
Infolge dieser Symptomatik kommt es zu einer Unordnung, die im Weiteren eine Verwahrlosung und Vermüllung des Wohnraums mit sich bringen kann. Das Risiko für mangelnde Hygiene, Erkrankungen und Unfälle steigt, die soziale und berufliche Funktionsfähigkeit ist stark eingeschränkt (z. B. Tolin et al., 2008). Insgesamt verursacht das Pathologische Horten durch hohe Raten von Chronifizierung und Komorbidität großes Leid für Betroffene und ihre Angehörigen (z. B. Drury et al., 2014).
Hinsichtlich der Differenzialdiagnose ist zu berücksichtigen, dass ein überfüllter oder vermüllter Wohnraum nicht zwangsweise für die Diagnose „Pathologisches Horten“ spricht, sondern dass auch andere psychische Störungsbilder in Betracht kommen. Beispielsweise können bei einer vorliegenden Depression eine Ansammlung von Dingen und Verwahrlosung aus Antriebslosigkeit und der Unfähigkeit, Entscheidungen zu treffen, heraus entstehen. Ebenso kann eine Alkohol- oder Drogenabhängigkeit eine Vernachlässigung anderer Lebensbereiche nach sich ziehen. Bei Demenzerkrankungen kann es bedingt durch die Erkrankung des Gehirns zu einer Ansammlung von Gegenständen kommen.
Diagnostik
Nach einem Überblick über bestehende Störungsbilder mit strukturierten klinischen Interviews kann mittels dem „Hoarding Rating Scale Interview“ (Tolin et al., 2010) das Vorliegen der Diagnosekriterien des Pathologischen Hortens ermittelt werden. Als Selbstbeurteilungsinstrument kann die Symptomschwere mit dem „Fragebogen zwanghaften Hortens“ erfasst werden (Mueller et al., 2009). Ein objektiveres Maß stellt die „Clutter Image Rating Scale“ dar, bei der die Unordnung des Wohnraums anhand von Bildern eingeordnet wird (Frost et al., 2008).
Epidemiologie der Störung
Mit einer Prävalenzrate von 4,6 % ist das Pathologische Horten in Deutschland ähnlich weit verbreitet wie im englischsprachigen Raum (Mueller et al., 2009).
Modell zur Entstehung und Aufrechterhaltung des Pathologischen Hortens
Das kognitiv-behaviorale Modell nach Frost & Hartl (1996) ist das am meisten untersuchte Erklärungsmodell des Pathologischen Hortens und umfasst vier Faktoren der Entstehung und Aufrechterhaltung. Nach ersten Studien haben sich diese als relevant für das Pathologische Horten erwiesen:
Informationsverarbeitungsdefizite
An Informationsverarbeitungsdefiziten können z. B. Defizite im visuell-räumlichen Gedächtnis oder in den Exekutivfunktionen (z. B. beim Kategorisieren) dazu beitragen, dass Gegenstände in Sichtweite behalten oder nur schwer aussortiert werden können (z. B. Mackin et al., 2016).
Vermeidungsverhalten
Entscheidungsunsicherheiten beim Aussortieren können zu einem Vermeidungsverhalten führen, mit dem Betroffene unangenehme Gefühle verhindern wollen (z. B. Wheaton et al., 2011).
Dysfunktionale Annahmen über Besitztümer und eine starke emotionale Bindung an Besitztümer
Dysfunktionale Annahmen (z. B. zum erhöhten Verantwortlichkeitserleben bei Gegenständen) sowie eine emotionale Bindung an Objekte zeigten sich im Vergleich zu gesunden Proband:innen als stärker ausgeprägt bei Betroffenen des Pathologischen Hortens (z. B. Kyrios et al., 2018). Dabei betrachteten Personen mit Pathologischem Horten Gegenstände eher als Erweiterung ihrer Identität und schrieben ihnen eher menschenähnliche Eigenschaften zu (z. B. Kwok et al., 2018).
Behandlung des Pathologischen Hortens
Das Behandlungskonzept von Steketee und Frost (2014) setzt an dem kognitiv-behavioralen Modell nach Frost und Hartl (1996) an und fokussiert dabei auf die vier genannten Störungsfaktoren. Es erstreckt sich über 26 Sitzungen in einem Zeitraum von sechs Monaten.
1. Anfangsphase
Die Anfangsphase der ersten drei bis fünf Sitzungen hat zum Ziel, nach einer Diagnostik die individuelle Fallkonzeptualisierung vorzunehmen und darauf aufbauend die Behandlungsplanung abzuleiten. Neben einer biografischen Anamnese sollte die Bedeutung von Besitztümern ausreichend exploriert werden (z. B. hinsichtlich eines überschätzten Nutzwerts oder identitätssteigernden Werts).
Auch wenn ein Besuch des Wohnraums der Betroffenen mit einem entsprechenden Aufwand einhergeht, ist er bereits in der Anfangsphase unumgänglich, um zu einer sicheren Einschätzung über das Ausmaß der Symptomatik zu gelangen. In manchen Fällen kann deutlich werden, dass Außenstehende (z. B. Sozialarbeiter:innen) eingebunden werden müssen.
2. Interventionsphase
Behandlung der exzessiven Beschaffung von Dingen
In der Interventionsphase von ungefähr 20 Therapiesitzungen ist es für viele Patient:innen der erste Schritt, an der exzessiven Beschaffung von Gegenständen zu arbeiten. Zunächst werden individuelle Fragen abgeleitet (z. B. „Brauche ich diese Sache wirklich?“), die in den relevanten „Versuchungssituationen“ zur Unterbrechung der automatisierten Reiz-Reaktions-Kette eingesetzt werden.
Im Weiteren werden mit der Vermittlung des Expositionsrationals und der Erstellung einer Situationshierarchie Expositionen vorbereitet. Mögliche Situationen können z. B. das Aufsuchen des Lieblingskaufhauses, das Durchstöbern von Sonderangeboten oder das Anprobieren eines Kleidungsstücks beinhalten.
Organisations- und Planungstraining
Aufgrund der genannten Probleme in der Informationsverarbeitung ist es häufig erforderlich, ein Organisations- und Planungstraining durchzuführen. Ein systematisches Vorgehen beim Aufräumen und Wegwerfen kann über Hinweise für die Planung (z. B. Festlegung des Zeitpunkts und -aufwands), die Bildung von Kategorien (z. B. Bestimmung von Oberkategorien von Gegenständen) und die konkrete Zielsetzung (z. B. hinsichtlich der aufzuräumenden Bereiche) unterstützt werden.
Exposition gegenüber dem Wegwerfen von Gegenständen
Im zweiten Teil der Interventionsphase wird auf das Wegwerfen von Gegenständen fokussiert. In Vorbereitung darauf werden durch einen sokratischen Dialog und die Anwendung kognitiver Techniken dysfunktionale Annahmen herausgestellt und bearbeitet (z. B. Hinterfragen der erreichten Nutzbarkeit über den Sammelzwang oder Konsequenzen von vermeintlichen Fehlentscheidungen).
Die Expositionen werden über die Vermittlung des Expositionsrationals und die Aufstellung einer individuellen Entsorgungshierarchie gezielt vorbereitet. Die Expositionen (z. B. Wegwerfen von alten Zeitschriften, Gegenstände eines verstorbenen Verwandten) sind häufig über Hausbesuche umzusetzen, teilweise können diese aber auch über das Wegwerfen mitgebrachter Gegenstände während der Sitzung realisiert werden. Bei großen Widerständen kann der zu entsorgende Gegenstand „schrittweise entsorgt“ werden (z. B., indem er zunächst außer Sichtweite oder bei Bekannten gelagert wird).
Um eine Orientierung für den Aufräum- und Wegwerfprozess zu entwickeln, erarbeiten die Patient:innen im Weiteren die für sich hilfreichsten Kriterien zum Aussortieren (z. B. „Habe ich die Sache im vergangenen Jahr genutzt?“).
3. Abschlussphase
In der Abschlussphase der Behandlung werden die Expositionen allein durch die Patient:innen durchgeführt. Dabei können durchgeführte Expositionen und erreichte Erfolge über Fotos dokumentiert und nachbesprochen werden.
Ein übersichtlicher und anschaulicher Einblick in das Manual findet sich auf Deutsch bei Külz und Voderholzer (2018).
Wirksamkeit der Therapie und Ausblick
Zuvor als Subtyp der Zwangsstörung behandelt war das Pathologische Horten konsistent mit einem schlechteren Behandlungsergebnis verbunden (für einen Review siehe Williams & Viscusi, 2016). Mit dem hier vorgestellten Behandlungskonzept von Steketee und Frost (2014) wurden Symptomreduktionsraten zwischen 27 und 39 % festgestellt.
Zusammengefasst kann über erste Therapieansätze eine Verbesserung für einen Teil der vom Pathologischen Horten Betroffenen erreicht werden. In Anbetracht von geringeren Verbesserungsraten ist es allerdings wünschenswert, über ein besseres Verständnis der auslösenden und aufrechterhaltenden Faktoren Ansatzpunkte für effektivere Therapien identifizieren zu können. Dabei wäre - vor dem Hintergrund ähnlich hoher Prävalenzzahlen - eine Intensivierung von Forschungsaktivitäten im deutschsprachigen Raum erstrebenswert.
Dieser Artikel ist eine gekürzte Version des ursprünglich im Report Psychologie erschienenen Artikels: Hansmeier, J. (2024). Das Pathologische Horten. Report Psychologie 2/2024.
Quellenangaben