Durch Entrümpeln das Leben so akzeptieren, wie es geworden ist

Eine Frau ist von mehreren Schichten Kleidung umhüllt und behängt.

Entrümpeln ist weit mehr als bloß „Dinge wegzugeben“. Das weiß auch Gabi Rimmele: Mit ihrem Tauschmobil steht sie jede Woche auf einem Berliner Wochenmarkt und unterstützt als Coachin ihre Klient:innen dabei, Altes loszulassen. Im Interview spricht sie darüber, warum Entrümpeln ein emotionaler Prozess ist – und wieso er langfristig zufriedener macht.

Frau Rimmele, was sind die letzten drei Dinge, die Sie ausgemistet haben?

Im Urlaub habe ich eine kurze Hose ausgemistet, die ich lange nicht anhatte. Sie ist mir immer zu eng gewesen, aber ich habe es mir nie eingestanden. Nachdem ich jetzt gemerkt habe, wie unangenehm sie sich anfühlt, habe ich sie endlich entsorgt. Ansonsten entrümpele ich regelmäßig Bücher. Insbesondere Bücher, die ich mag, gebe ich gerne an Freunde weiter. Ich finde es toll, wenn sie die Bücher auch lesen und wir uns darüber austauschen können. Das Dritte war ein Geschirrtuch, mit dessen Material ich mich nicht anfreunden konnte. Das habe ich dann ins Tauschmobil gegeben.

 

Was genau ist das Tauschmobil?

Das Tauschmobil ist so eine Art Geschenkmobil auf Rädern, das ich betreibe. Jeder, der etwas übrig hat, kann es vorbeibringen. Und jeder, der etwas braucht, kann bei uns stöbern und sich die Dinge mitnehmen. Geben und Nehmen sind unabhängig voneinander: Selbst jemand, der nur etwas mitnimmt, lässt ein Lächeln oder einen Dank da. Ich stehe jede Woche mit diesem Tauschmobil auf einem Wochenmarkt hier in meinem Kiez mit einem kleinen Team von Ehrenamtlichen.

 

Warum ist weniger manchmal mehr?

Weil alles, was wir besitzen, unsere Energie bindet. Beim Materiellen bedeutet das konkret, dass wir aufräumen oder abstauben müssen. Wenn wir weniger haben, bleibt mehr Zeit für das, was ist. Mehr Raum für Ruhe und Erholung. Mehr Zeit für Neues und Spontanes. Wenn ich voll bin und alles voll steht, was kann dann noch Neues dazu kommen? Das hat dann gar keinen Platz.

Unser Besitz bindet uns aber auch gedanklich und emotional, wenn er uns in alten Zeiten hält. Die Gefahr besteht, dass wir unseren Blick nur nach hinten richten anstatt ins Jetzt und nach vorne.

 

Warum fällt es vielen Menschen dennoch so schwer, Altes loszulassen?

Viele von uns haben den Satz verinnerlicht: „Das ist doch noch zu gut zum Wegwerfen!“ Wir sind zwar eine Konsumgesellschaft, aber wir sind keine Wegwerfgesellschaft. Es fällt uns – zurecht – schwer, Dinge einfach in den Müll zu werfen. Das ist auch der Grund, warum ich das Tauschmobil gegründet habe. Ein weiterer Grund ist, dass wir emotional an vielen Dingen hängen, weil sie uns an Personen und Geschichten erinnern. Interessant ist, dass wir manchmal Sachen aufheben, die uns an sehr schmerzhafte Zeiten erinnern. Dadurch halten wir auch den Schmerz fest.

Eine Frau in Jeans und Pull sitzt auf dem Boden und liest ein Buch.

Besteht auch die Sorge, einen Teil der eigenen Geschichte oder Identität zu verlieren?

Ja, grade bei Büchern ist das sehr stark. Leute sagen: „Das bin doch ich! Die haben mich doch geformt!“ Bücher regen unser Denken an und prägen uns, aber wir können darauf vertrauen, dass wir diese Erfahrungen schon lange integriert haben. Wir sind so viel mehr als die Summe unserer Gegenstände, die wir besitzen! Es hilft manchmal, loszulassen und zu erkennen, dass unsere Persönlichkeit sich verändern darf. Das Leben bedeutet Wandel und Veränderung. Wenn ich zu viel an dem Alten festhalte, kann es sein, dass ich mich selbst daran hindere, mich weiterzuentwickeln.

 

Wenn ich zum Beispiel Dinge für ein Hobby aufhebe, das mir vor einiger Zeit viel bedeutet hat, ich aber seit Jahren nicht mehr ausübe…

Genau! Oft kommt da noch das schlechte Gewissen dazu. Dann sieht man diese Sachen und denkt: „Ich müsste doch mal…“. Zum Beispiel: „Ich müsste doch endlich mal die Nähmaschine nehmen und mal wieder was nähen“. Beim Tauschmobil kam letztens eine Person, die sagte mir, sie habe jetzt alle ihre Stoffe zusammengesammelt, weil sie sich eingestanden habe, dass sie daraus nichts mehr machen werde. Sie hatte die Nähmaschine seit zehn Jahren nicht mehr benutzt. Immer wenn sie die Stoffe angeschaut hat, entstand ein schlechtes Gewissen. Wie eine Art Verpflichtung, die wir eigentlich nicht haben. Diese Verpflichtung besteht nur in unserem Kopf.

 

Ich fühle mich ertappt… (lacht). Sie haben eben gesagt, dass man die Dinge dann nicht wegschmeißen möchte. Das kenne ich von mir selbst auch: Ich bin gut im Ausmisten, aber dann sammelt sich alles in einer Ecke, weil ich nicht so richtig weiß, was ich damit machen soll…

Entrümpeln bedeutet auf jeden Fall immer Aufwand, zum Beispiel zu recherchieren, wo man Sachen weggeben kann. In jeder Stadt gibt es zumindest ein Sozialkaufhaus, Kleiderkammern oder offene Bücherschränke. Für viele Dinge, die gut und vollständig sind, gibt es Orte, wo man sie hinbringen kann. Alternativ kann man auch eine Tauschparty veranstalten: Freund:innen einladen und alle bringen etwas mit. Das habe ich ein paar Mal gemacht und es waren sehr lustige Abende.

Eine Frau sitzt vor einigen Kartons und Taschen, aus denen Sachen heraushängen.

Was ich nicht unbedingt rate, ist, die Dinge im Familien- oder Freundeskreis anzubieten. Da besteht die Gefahr, dass sie es mitnehmen, weil sie sich verpflichtet fühlen oder nicht nein sagen können.

Ich kenne aber auch Leute, die sich das Entrümpeln sehr schwer machen, weil sie wirklich alles weitergeben wollen. Dann wird es zur Belastung. Manchmal ist es wichtiger, selber zu einer Entspannung zu kommen und dafür einfach auch mal was wegzuwerfen.

 

Wie sind sie selbst zur Entrümplungsberatung gekommen?

Ich hatte mal eine Phase, in der ich mich emotional wie geparkt gefühlt habe. Alles stagnierte. Dann hat mir eine Freundin ein Buch über Entrümplung geschenkt. Ich hatte das Buch noch nicht mal gelesen - es lag nur auf meinem Nachttisch - , aber es begann bereits, Wirkung zu zeigen (lacht). Allein durch die Anwesenheit dieses Buches habe ich meine Schränke anders angeguckt. Ich habe angefangen auszumisten. Zugleich habe ich gemerkt, dass ich auch anfangen muss, emotional auszumisten und zu sortieren.

Als ich später die Idee zu dem Tauschmobil hatte, dachte ich, ich kenne so viele Menschen, die nicht loslassen können. Ich kannte das ja aus meiner eigenen Geschichte. Also habe ich überlegt, zusätzlich Beratung anzubieten.

 

Wie helfen Sie Ihren Klient:innen dabei, loszulassen und sich von Altem zu trennen?

Ich gehe die Dinge immer auf zwei Ebenen an. Zum einen praktisch: Wo fange ich an? Ich empfehle, bei einem einfachen und begrenzten Bereich anzufangen, z. B. einer Schublade oder einem Schrankfach. Es muss geübt werden, auszuräumen, zu sortieren, Entscheidungen zu treffen und Prioritäten zu setzen. Zum Praktischen gehört aber auch, sich die Zeit im Kalender zu reservieren und zu überlegen: Wann mache ich das?

Zeitgleich schauen wir uns die emotionale Ebene an: Was liegt dahinter? Was ist meine Geschichte? Es hilft, sich selbst zu erkennen, weniger streng mit sich zu werden, Schmerz zu verarbeiten, manchmal zu trauern und Abschied zu nehmen. Das sind alles Themen, die in der Beratung vorkommen.

 

Findet die Beratung bei den Leuten zuhause statt?

Nein, ich gehe nicht zu den Leuten nachhause. Es ist mehr eine Hilfe zur Selbsthilfe. Viele Menschen habe eine Scham, andere ins Haus zu lassen, gerade wenn die Wohnung sehr voll ist. Viele haben die Sorge – und das wäre auch die Gefahr –, dass ich meinen Standard und meine Ideen zu stark auf die Klient:innen übertrage. Dann machen sie Dinge mir zuliebe, obwohl diese nicht ihnen selbst entsprechen. Ich arbeite mit dem, was die Leute an Themen mitbringen. Und ich gehe genau so weit mit ihnen, wie sie möchten. Das ist sehr unterschiedlich: Es gibt die Menschen, die den Anspruch haben, einmal Tabula Rasa zu machen, und andere gehen ein paar Schritte und dann ist es wieder gut.

Porträtfoto der Entrümpelungsberaterin Gabi Rimmele. Sie trägt sehr kurz geschnittenes Haar und eine schwarze Bluse sowie eine kleine Kette und lächelt freundlich in die Kamera.

Wie entscheidet man konkret, was man behält und was man weggibt?

Ich glaube, die Entscheidung fällt am leichtesten, wenn man sich einmal ganz praktisch fragt: Benutze ich den Gegenstand? Wie lange habe ich ihn schon nicht mehr genutzt? Und dann auf die eigenen Gefühle schaut: Wenn ich diesen Gegenstand in die Hand nehme, gefällt er mir? Mag ich ihn? Welche Emotionen löst er aus?

Meistens geht das Hand in Hand. Ich merke, ich habe den Gegenstand ewig nicht genutzt, und stelle dann fest, dass ich ihn gar nicht mehr mag oder ihn nur noch aus schlechtem Gewissen dahabe. Das ist dann ein guter Hinweis, diesen Gegenstand wegzugeben.

 

Es geht also viel ums Nachspüren?

Genau. Beim Kleiderschrank passiert es zum Beispiel häufig, dass Leute Kleidung aufheben, die sie seit Jahrzehnten nicht mehr getragen haben, weil die Kleidung sie an die Zeit erinnert, in der sie mal schlank waren. Sie haben vielleicht den Anspruch, „da müsste ich noch mal reinpassen“. Wir neigen dazu, Dinge zu bereuen oder zu denken: „Wäre ich jetzt schlanker…“ Das ist ein Bedauern, das wir mit uns herumtragen, mit dem wir uns schaden. Es geht beim Entrümpeln darum, zu akzeptieren, dass sich unser Körper oder unser Geschmack verändern. Es geht darum, sich selbst anzunehmen und Akzeptanz zu finden für das Leben, so wie es geworden ist. Insofern ist Entrümpeln ein emotionaler Prozess. Das lässt sich nicht trennen.

 

Welche Rückmeldung bekommen Sie von Ihren Klient:innen?

Meistens sind es am Anfang Rückmeldungen wie: „Ich habe es geschafft!“ Das sind Rückmeldungen voll Freude und Erleichterung darüber, etwas Konkretes weggeben zu haben. Im Lauf der Zeit entwickelt sich das zu einer umfassenderen Zufriedenheit. Sie gewinnen etwas mehr Leichtigkeit. Wenn ich regelmäßig schaue, was mir wirklich guttut und was meine Bedürfnisse sind, kann ich auch entspannter sein.

Von oben blickt man auf eine Tischplatte, auf der akurat angeordnet ein Notizbuch mit der Aufschrift "Reduce, Reuse, Recycle" sowie ein Apfel, ein nachhaltiger Strohhalm aus Metall und eine Rolle Bindfaden liegen.

Gibt es auch manchmal Rückmeldungen, dass Menschen bereuen, etwas weggegeben zu haben?

Das ist Teil der Geschichte. Loszulassen und zu entrümpeln, erfordert Mut. Es ist immer ein Risiko, wenn ich etwas weggebe. Es könnte passieren, dass ich in einem Jahr plötzlich feststelle: „Jetzt könnte ich genau diese eine Bluse gebrauchen!“ Diese Bluse ist aber schon weg. Was ist genau das Problem? Meistens findet sich eine Alternative. Beim Nicht-loslassen-wollen geht es oft darum, sich vor unangenehmen Empfinden zu schützen. Wir haben Angst, dass uns das zu sehr niederdrücken könnte. Aber wir müssen uns nicht vor sämtlichen unangenehmen Gefühlen schützen. Es ist in Ordnung, dass ich mal Bedauern oder Reue empfinde. Das gehört zum Leben dazu. Das werde ich aushalten können.

 

Würden Sie sagen, Entrümpeln ist ein lebenslanger Prozess?

Ja und Nein. Einerseits sind wir eine Konsumgesellschaft: Konsum ist günstig und wir genießen es ja auch, immer wieder was Neues zu haben. Ich glaube aber, wenn Menschen sich darin üben, loszulassen und wegzugeben, und wenn sie parallel lernen, auch beim Konsum vorsichtig zu sein und noch mal kurz innezuhalten („Will ich das wirklich? Wird es mir so viel Freude bereiten, wie ich es erhoffe?“), fällt dieser Druck weg.

 

Gibt es regelmäßige Routinen, die Sie empfehlen können?

Es gibt ein paar Handlungen, die es insgesamt erleichtern. Entrümpeln heißt auch, neue Gewohnheiten zu entwickeln, z. B. gelesene Zeitungen immer direkt ins Altpapier zu bringen oder nebenbei schon etwas aufzuräumen. Ich kann mir auch ein Datum setzen: Wenn ich das nach einem Jahr nicht mehr gebraucht habe, dann ist die Wahrscheinlichkeit gering, dass ich es noch mal gebrauchen werde, dann kann ich es weggeben. Und es ist wichtig, schon bei den Dingen, die neu in die Wohnung reinkommen, Stopp-Signale zu setzen. Geburtstagsgeschenke können sich zum Beispiel zu einem Berg aus schlechtem Gewissen auftürmen. Da hilft es, im Freundeskreis von vorneherein zu sagen: „Ich habe genug. Wenn ihr mir etwas schenken möchtet, lasst uns Zeit miteinander verbringen.“

Vielen Dank für das Interview, Frau Rimmele!

 

Über Gabi Rimmele: Gabi Rimmele ist Diplom-Sozialarbeiterin, freiberufliche Coachin, Supervisorin und Entrümpelungsberaterin. Sie unterstützt ihre Klient:innen bei der Frage: „Was tut mir wirklich gut?“ Jeden Samstag steht sie mit ihrem Tauschmobil auf dem Wochenmarkt in Berlin-Prenzlauer Berg.

https://entruempelungsberatung.de/wp/

http://www.tauschmobil.de/

 

Zum Weiterlesen:

[Werbung] Rimmele, Gabi (2022). Mit Leichtigkeit zur Lebensfreude. Ostfildern: Patmos Verlag.

[Werbung] Rimmele, Gabi (2015). Tausche Chaos gegen Leichtigkeit. So entrümpeln Sie Ihr Leben. Ostfildern: Patmos Verlag.