Plädoyer für eine gendersensible Perspektive in der Psychotherapie

Ein Mann redet mit einer Psychotherapeutin.

Psychische Belastungen drücken sich bei Männern und Frauen unterschiedlich aus. Gesellschaftliche Erwartungen und traditionelle Männlichkeitsbilder können dazu führen, dass Männer weniger bereit sind, Hilfe zu suchen und psychische Probleme zu akzeptieren. Wenn sie den Mut aufbringen, betreten sie die überdurchschnittlich stark weiblich geprägte Sphäre der psychotherapeutischen Versorgung und stoßen auf geschlechtsspezifische Verzerrungen im Diagnoseprozess - eine Passung, die Optimierungsbedarf aufzeigt. 

Eines vorweg: Es ist wichtig zu erwähnen, dass es nicht die männlichen oder die weiblichen Eigenschaften, Umgangsweisen oder Symptomatiken gibt. Wissenschaftliche Untersuchungen weisen auf statistische Unterschiede oder erhöhte Auftretenswahrscheinlichkeiten von Merkmalen hin, die mit einem bestimmten Geschlecht in Verbindung stehen. Die Formulierung „typisch männliche Symptome" soll also bedeuten, dass dieses Symptom beim männlichen Geschlecht häufiger vorkommt.

Angesichts der zunehmenden psychischen Belastungen und der begrenzten Verfügbarkeit von Psychotherapie ist es essenziell, dass Menschen nach meist langer Wartezeit ein für sie passgenaues Angebot finden. Dabei geht es auch um eine gute Passung sowie das Setting, in dem die Hilfe stattfindet. Entscheidend ist, dass die Rahmenbedingungen so gestaltet sind, dass Hilfe bestmöglich ankommt. Das gilt im Hinblick auf das Anliegen oder die Symptome und auch bezüglich der individuellen Bedürfnisse, Erfahrungen, Kommunikations- und Problemlösestrategien. Geschlechtsbezogene Unterschiede spielen hierbei eine wichtige Rolle.

 

Geschlechterunterschiede bestehen in Symptomatik und Hilfesuchverhalten

Psychische Gesundheit und Belastungen sowie deren Behandlung werden durch das Geschlecht maßgeblich beeinflusst. Erst kürzlich wurde z. B. nachgewiesen, dass durch die Corona-Pandemie zwischen den Geschlechtern deutliche Unterschiede im psychischen Wohlbefinden und im Umgang mit Stress vorlagen (Weiß et.al, 2023). Zudem nehmen Frauen doppelt so häufig wie Männer Psychotherapie in Anspruch (Hartmann & Zepf, 2004). Gewisse psychische Störungen werden bei Frauen häufiger diagnostiziert. Beispielsweise unterliegen Depressionen einer geschlechtsspezifischen Symptomatik, die in den aktuellen Diagnosekriterien nicht berücksichtigt wird. Es werden systematisch eher typisch weibliche Symptome wie Niedergeschlagenheit, Antriebslosigkeit und Hoffnungslosigkeit erhoben, während eine typisch männliche Symptomatik in Diagnosekriterien weniger Beachtung findet (Möller-Leimkühler, 2008).

 

Geschlechterbias in der Diagnostik

Bereits vor DSM-III (1980) vermuteten Psychiater:innen, dass Frauen öfter unter Depressionen litten als Männer. Untersuchungen zwischen 1950 und 1980 schlossen z. B. „männliche" Reaktionen wie Suchtverhalten bei Studienteilnehmern aus (Hirshbein, 2006). Das führte zu einem geschlossenen Kreislauf. In der Folge wurden hauptsächlich Frauen untersucht, um die Grundlagen für die Diagnose festzulegen. Dadurch passten mehr Frauen in die Beschreibungen und erhielten die Diagnose, was wiederum zu dem Schluss führte, mehr Frauen als Männer seien depressiv. Diese Fehlannahme hält sich bis heute. Bei exakt gleicher Symptomatik erhalten Männer eher eine körperliche, Frauen hingegen eher eine psychische Diagnose.

Ein Mann sitzt im Dunklen auf einer Couch und hält eine Hand vors Gesicht.

Um diesem Problem entgegenzutreten, sind schon in den 1990ern Diagnosefragebögen entstanden, die solche „männlichen” Reaktionsmuster wie erhöhte Irritabilität, Wut und Risikoverhalten, vermehrter Alkoholkonsum sowie antisoziales Verhalten inkludieren (z. B. die Gotland Male Depression Scale). Bei deren Anwendung verringert sich der Geschlechterunterschied in der Auftretenshäufigkeit von Depressionen deutlich. Nehmen wir an, dass Frauen und Männer in etwa gleich häufig von Depressionen betroffen sind, stellt sich die Frage, warum Männer sich dreimal häufiger das Leben nehmen als Frauen. Angenommen wird, dass Depressionen den Auslöser für 70-80 Prozent der Suizide darstellen. Dieses als Geschlechterparadoxon bekannt gewordene Phänomen stellt viele vor ein Rätsel.

 

Das männliche Rollenbild, gesellschaftliche Erwartungen und Externalisierung

Jungen wachsen oft in Rollenbildern auf, die männliche Identität als das Gegenteil von weiblicher Identität definieren. Sie beobachten, wie Frauen mit negativen Gefühlen umgehen und wissen gleichzeitig, dass dieser Umgang für sie nicht akzeptabel ist. Häufig fehlt ein männliches Vorbild, das zeigt, wie man auf gesunde Weise mit negativen Gefühlen und Belastungen umgeht. Viele Männer lernen also früh, dass sie sich selbst helfen müssen. Sie erlernen Mechanismen der Verdrängung und Externalisierung, bei denen unangenehme Gefühle wie Hilflosigkeit, Angst oder Trauer unterdrückt und nach außen gelenkt werden. Substanzmissbrauch, übermäßiger Leistungsfokus oder andere problematische Verhaltensweisen können die Folge sein. Auch das ist ein Grund dafür, dass Männer häufiger als Frauen unter Suchterkrankungen und Burnout leiden. Das verminderte Hilfesuchverhalten von Männern zeigt sich auch in ihrer niedrigeren Lebenserwartung und dem deutlich erhöhten Suizidrisiko. Insgesamt steht das Zeigen von Verletzlichkeit, das Bitten um Hilfe und gar das bloße Erleben von negativen Gefühlen für viele Männer im direkten Widerspruch zu ihrer Geschlechterrolle.

Neben den genannten Aspekten der Sozialisation und des Rollenbildes kann auch das Unterstützungsumfeld für Männer bei der Hilfesuche problematisch sein. Die Welt der Psychotherapie ist stark von Frauen geprägt, denn als Patient:in trifft man zu 76,8 Prozent auf eine (psychologische) Psychotherapeutin (Kassenärztliche Bundesvereinigung, 2022). Männer berichten über mehr Schamerleben und könnten Probleme damit haben, sich gleich zu Beginn vor einer Frau „die Blöße zu geben“.  Zusätzlich fühlen sie sich generell im direkten Gespräch und in einem emotional intimen Umfeld weniger wohl, was Ängste und Widerstände hervorrufen kann. Das traditionelle Setting der Psychotherapie mit seinem oft gefühlsbetonten Dialog passt eher zum natürlichen Kommunikationsverhalten von Frauen.

 

Geschlechtersensible Hilfsansätze verfolgen

Menschen sind unterschiedlich, die Therapie ein hochindividueller Prozess. Dennoch sind für Männer tendenziell Hilfsansätze förderlich, die zu ihren typischen handlungsbasierten Bewältigungsmechanismen passen. Beispielsweise tendieren sie dazu, eine Herangehensweise zu bevorzugen, bei der Handeln im Vordergrund steht. Das bedeutet, dass die Therapie eine transparente Struktur haben sollte, die direkt auf ein Ziel, also die Lösung des Problems ausgerichtet ist. Es ist dabei entscheidend, dass männliche Patienten von Anfang an transparent in den Therapieprozess eingebunden werden (Walther & Seidler, 2020). Strategien, die Werkzeuge an die Hand geben, um das Problem selbst zu bewältigen, sind zudem mit einer stärkeren therapeutischen Allianz assoziiert (Bedi et. al., 2011), welche als wichtiger Prädiktor für den Behandlungserfolg gilt (Flückiger et. al., 2012).

Eine Therapeutin erklärt ihrem Patienten etwas.

Eine Befragung männlicher Psychotherapiepatienten (Sonnenmoser, 2011) ergab, dass auch ganz klassische Techniken für die Behandlung wichtig sind, beispielsweise:

  • Das Gesagte zusammenfassen.
  • Gedanken und Gefühle entpathologisieren.
  • Den Patienten konfrontieren, fordern und ermutigen.
  • Nicht nur über Probleme, sondern auch über andere Lebensbereiche sprechen.
  • Als Therapeut:in ehrlich sein und von eigenen Erfahrungen berichten. 
  • Beim Thema bleiben und den Patienten entscheiden lassen, worüber er sprechen will.

Insgesamt ist es wichtig, Männer die Erfahrung machen zu lassen, dass das Öffnen und Teilen von Gefühlen positive Reaktionen auslösen kann.

Unabhängig vom Geschlecht profitieren alle Hilfesuchenden davon, Ängste und Widerstände schnell zu thematisieren und nachhaltig abzubauen. Eine respektvolle, ermutigende und authentische Zusammenarbeit auf Augenhöhe ist dabei von Vorteil. In früheren Stadien oder bei weniger schweren Problemen kann auch ein digitales Selbsthilfeprogramm hilfreich sein. Auf diese Weise können Menschen die Hürde, sich vor einem Fremden zu öffnen, zunächst umgehen.

Auch wenn geschlechtersensible Behandlungsansätze noch in den Kinderschuhen stecken, muss sich die Psychotherapie mit all ihren Beteiligten abschließend die Frage gefallen lassen, ob sie alle Mitglieder der Gesellschaft gleichermaßen abholt und gemäß ihren individuellen Bedürfnissen versorgt. Die oben aufgeführten Asymmetrien in Geschlechterpartizipation und Suizidrate lassen den Rückschluss zu, dass sie dies bis dato noch nicht tut.

 

Literatur

Bedi, R. P.; Richards, M. (2011). What a man wants: The male perspective on therapeutic alliance formation. Psychotherapy, 48(4), 381–390. https://doi.org/10.1037/a0022424

Flückiger C., Del Re A. C., Wampold B. E., Symonds D., Horvath A. O. (2012). How central is the alliance in psychotherapy? A multilevel longitudinal meta-analysis. J Couns Psychol;59(1):10-7.

Hartmann, S., & Zepf, S. (2004). Verbesserung psychischer Allgemeinfunktionen durch Psychotherapie: Drei psychotherapeutische Verfahren im Vergleich. Psychotherapeut, 49, 27-36.

Hirshbein, L. D. (2006). Science, gender, and the emergence of depression in American psychiatry, 1952–1980. Journal of the history of medicine and allied sciences, 61(2), 187-216.

Kassenärztliche Bundesvereinigung, Gesundheitsdaten https://gesundheitsdaten.kbv.de/cms/html/16396.php

Möller-Leimkühler, A. M. (2008). Depression – überdiagnostiziert bei Frauen, unterdiagnostiziert bei Männern. Der Gynäkologe, 41(5), 381-388.

Sonnenmoser, M. (2011). Psychotherapie mit Männern: Was sie wirklich wollen. Ärzteblatt PP 10, Ausgabe September 2011, Seite 405.

Walther, A., Seidler, Z. E. (2020). Männliche Formen der Depression und deren Behandlung. PiD - Psychotherapie im Dialog 2020; 21(04): 40-45. https://doi.org/10.1055/a-0987-5902

Weiß, M., Gründahl, M., Deckert, J. et al. (2023). Differential network interactions between psychosocial factors, mental health, and health-related quality of life in women and men. Scientific Reports 13, 11642. https://doi.org/10.1038/s41598-023-38525-8