„Positive Psychologie ist die Wissenschaft zu meiner Lebensphilosophie“ – Interview mit Muriel Böttger

Positive Psychologie boomt – sei es in Podcasts, Ratgebern oder in sozialen Medien. Was steckt dahinter? Und heißt Positive Psychologie „positive vibes only“? Muriel Böttger ist Psychologin und bietet in Köln Coachings an. In unserem Interview verrät sie dir, wie sie Positive Psychologie in ihren Coachings anwendet und was sie daran so liebt.

Muriel, was hat dich dazu bewegt, dich in Positiver Psychologie zu spezialisieren?

Meinen Bachelor habe ich ganz normal in Psychologie gemacht. Erst im Master habe ich mich spezialisiert. Am Anfang des Bachelors habe ich immer noch gedacht, dass ich in die klinische Richtung gehe, habe dann aber gemerkt, dass das nichts für mich ist. Also war ich auf der Suche: Wohin kann’s stattdessen gehen? Irgendwann ließ ein Dozent in einem Seminar den Begriff „Positive Psychologie“ fallen und ich dachte: was ist das denn? Das war überhaupt nicht Bestandteil vom Studium und ich hatte bis dato kaum was davon gehört. Ich habe direkt gemerkt, dahinter steckt, was ich schon immer in mir hatte: eine positive Einstellung zum Leben. Es war so, als hätte ich die Wissenschaft zu meiner eigenen Lebensphilosophie gefunden. Da war für mich klar, die Richtung wird es werden. Ich habe meine Bachelorarbeit in Positiver Psychologie geschrieben und stand danach vor der Entscheidung, ob ich erst einen allgemeinen Master mache und mich dann fortbilde (in Deutschland gibt es z.B. das Inntal Institut in Süddeutschland von Daniela Blickhahn) oder direkt einen spezialisierten Master im Ausland mache. Bislang wird der Master in Positiver Psychologie nur im Ausland angeboten... und ich wollte ohnehin Auslandserfahrungen sammeln.
 

Was fällt denn überhaupt alles unter den Begriff „Positive Psychologie“?

Die Psychologie, wie wir sie heute kennen, hat sich nach dem Zweiten Weltkrieg entwickelt. Die Positive Psychologie ist aber erst später entstanden, vor ca. 21 Jahren. Der bisherige Fokus in der Psychologie war so defizitorientiert und die Positive Psychologie sollte einen Ausgleich schaffen. Nach der WHO ist Gesundheit die Abwesenheit von Krankheit. Wir wissen aber alle: Nur weil wir nicht krank sind, heißt das nicht, dass es uns wirklich gut geht, dass wir uns wohl fühlen oder glücklich sind. Die Positive Psychologie schaut: Was kommt über diesem Normallevel? Was ist mit Menschen, die aufblühen? Wie können wir unsere Stärken einsetzen? Da fällt viel drunter, was es in der Psychologie ohnehin schon gab, wie z.B. Stärken, Resilienz und Flow. Die Positive Psychologie bildet eine Art Regenschirm, unter den das alles drunter fällt. Das Ziel ist, die Positive Psychologie jedem Menschen zugänglich zu machen, der sagt, er möchte sich optimieren. Man kann präventiv arbeiten, aber auch, wenn man erkrankt ist.

Positive Psychologie eignet sich also für wirklich jeden?

Ja. Auf jeden Fall. Ich selber biete zwar keine Therapie an, aber es gibt z.B. Ansätze, wie man Positive Psychologie in der Therapie anwenden kann. Für mich macht das auch total Sinn, denn es kann sehr hilfreich sein, den Blick auf Dinge, die vielleicht passiert sind, zu ändern. Das merke ich auch in den Coachings, bei denen die Menschen ja auch ihre Vorgeschichten mitbringen.


Wie wendest du Positive Psychologie in deinen Coachings an?

Die Positive Psychologie versucht mithilfe der Forschung sogenannte PPIs zu entwickeln, also positiv-psychologische Interventionen. Das sind kleine Übungen, die jeder von uns anwenden kann, ob krank, gesund, jung, alt – ganz egal. Diese Übungen baue ich in meine Coachings ein. Dann gibt es noch diverse Stärkenkonzepte, mit denen ich arbeite. Wenn jemand z.B. etwas an seiner Arbeit verändern möchte, weil er da nicht ganz zufrieden ist – oder noch zufriedener werden und etwas verbessern möchte, dann kann man einen Status Quo erheben und schauen: wie setzt diese Person gerade ihre Stärken ein? Dazu machen wir einen Stärkentest. Ich arbeite mit dem VIA Strength Finder, der größtenteils von Martin Seligman mit erforscht wurde. Martin Seligman ist sozusagen der „Gründervater“ der Positiven Psychologie. Ich sage das bewusst in Anführungszeichen, weil natürlich viele andere den Begriff ebenfalls geprägt haben. Nach dem Stärkentest nehmen wir die Top 5 Stärken und ich lasse die Klienten sortieren: wie sehr nutzten sie ihre Stärken in ihrem Beruf? Was möchte die Person verändern? Und mit welchen Handlungsschritten könnte sie das konkret machen?


Hast du von den PPIs eine (oder mehrere) Lieblingsmethode(n)?

Es gibt ultra viele (lacht). Eine, die ich gerne als Aufgabe mitgebe – auch wenn Leute einfach mal was ausprobieren möchten – ist die „Three good things“-Übung, bei der man jeden Tag für sieben Tage am Stück drei Dinge aufschreibt, die gut gelaufen sind. Und zwar Dinge, die gut gelaufen sind, weil man selbst etwas dazu beigetragen hat, z.B. dass man pünktlich bei der Arbeit war, weil man sich rechtzeitig auf den Weg gemacht hat. Die Forschung, die dahintersteckt, hat gezeigt, dass, wenn du das für sieben Tage machst, du bis zu sechs Monate danach nachweislich glücklicher und zufriedener bist und ein gesteigertes Wohlbefinden hast. Den Effekt finde ich krass. Wenn du das hochrechnest: Das ist bei 5 Minuten am Tag gerade mal etwas mehr als eine halbe Stunde, die du in der Woche dafür aufwendest, und du hast sechs Monate einen Effekt davon!

Es gibt ja auch viele, die dann sagen: „Das ist ja gut gelaufen, aber...“

Das darf da halt nicht sein (lacht). Das kommt nicht mit in die Übung. Natürlich kannst du dir Gedanken darüber machen, was du optimieren kannst. Das soll das nicht ausblenden. Aber in der Übung geht es darum, mal anzuerkennen, was man selber mitbringt und darauf stolz zu sein. Häufig heißt es gesellschaftlich, „Stolz sei nicht gut“, z.B. gibt es dieses Sprichwort: „Nichts gesagt, ist genug gelobt“. Es ist aber ok, auf sich selber stolz zu sein! Das korreliert ganz hoch mit unserem Selbstwert und der Selbstwert ist wichtig für jeden Lebensbereich und für alles, was wir angehen wollen. Deswegen finde ich es völlig legitim, sich fünf Minuten am Tag Zeit zu nehmen und sich darauf zu fokussieren, was man gut kann.


Wie reagieren deine Klienten auf die Methoden?

Total gut. Die Leute kennen die Positive Psychologie meistens schon von meinem Podcast und haben sich bereits im Vorfeld damit auseinandergesetzt, das eine oder andere sogar schon ausprobiert. Oft kommen sie mit dem Wunsch, genau damit arbeiten zu wollen. Oft sind sie positiv überrascht, dass da noch mehr dahintersteckt, dass z.B. auch negative Gefühle nicht ausgegrenzt werden und genauso ein wichtiger Bestandteil sind.


Positive Psychologie heißt also nicht „positive vibes only“?

Nee, genau. Das wird ganz oft unterstellt. Die Positive Psychologie bezieht aber alles mit ein, denn jede Emotion ist wichtig. Es gibt einfach Dinge, durch die du im Leben gehst und die schwierig sind. Die Positive Psychologie soll dabei helfen, einen optimistischen Blick in die Zukunft zu haben, auch wenn man mal in einer schwierigen Phase steckt. Es kann dabei helfen, den Wert von schwierigen Phasen anzuerkennen. Es geht nicht darum zu sagen: „Das ist jetzt nicht gut gelaufen, das blende ich aus“, sondern zu überlegen: „Was habe ich daraus gelernt?“ Denn nur so entsteht Wachstum. Sonst passiert es, dass Menschen immer wieder in die gleichen Handlungsschleifen fallen, weil sie das Muster, das dahintersteckt, nicht durchbrechen. Es gibt also immer der Blick in die Zukunft: Wie nutze ich das jetzt für mich?

Good vibes only

Aber wenn man gerade deprimiert oder traurig ist, fällt es vielleicht schwer, optimistisch zu sein. Wie geht man damit um?

Das ist sehr individuell. Aber gerade, wenn es schwerfällt, optimistisch zu bleiben, kann man sich daran erinnern, dass es immer Hochs und Tiefs im Leben gibt. Ein wichtiger Forschungsbestandteil der Positiven Psychologie ist die Resilienz. In einer Übung, die bestimmt viele kennen, schreibt man seine Lebenslinie auf und zeichnet die Hoch- und Tiefpunkte auf. Daran kann man gut sehen, dass das Leben wellenförmig verläuft. Es gibt immer wieder ein Tief, aber danach kommt meist auch wieder ein Hoch. Gerade in dieser Phase, in der es einem schwerfällt, optimistisch zu sein, kann diese Reflexion der eigenen Lebensgeschichte zeigen, dass man zwar gerade in einer Down-Phase ist, aber dass es danach weitergeht. Was hast du aus bisherigen Tiefen gelernt? Wie kannst du schneller wieder in eine Hochphase kommen? Es ist eben nicht immer „super gut drauf sein“ und „immer alles toll und klasse“, sondern ein „in Balance kommen“. Die Positive Psychologie hilft dir dabei, durch das Erleben von positiven Emotionen Resilienz aufzubauen. Dadurch vermeidest du nicht, dass ein Tief kommt, aber du bist in Balance, weil du von einem Rückschlag schneller auf ein Normallevel kommen kannst. Du kommst schneller wieder in deine Kraft und an deine Ressourcen. Wenn du das übst, fühlt sich das Tief irgendwann nicht mehr so tief an, weil du gelernt hast, dass du da wieder rauskommst und dass du die Fähigkeiten hast, die dir dabei helfen werden.

Wie findet man im Coaching die richtige Balance aus Ressourcenaktivierung und Problembearbeitung?

Auch das ist total individuell. Es gibt Coachees, die hangeln sich um das Problem und du merkst, sie drehen sich im Kreis. Da muss man schneller in die Ressourcenaktivierung kommen, um sie aus dieser Spirale rauszuholen. Andere sind so auf die Ressourcenaktivierung fokussiert und wollen nach vorne rennen, da ist es auch mal wichtig, sie festzuhalten und zu sagen: Lass‘ mal kurz schauen. Was ist das Problem und wie können wir daran arbeiten? Deswegen lässt sich das nicht pauschalisieren. Ich finde es wichtig, sich als Psychologin die Zeit zu nehmen und zu schauen, was braucht die Person, die da vor mir sitzt? Worum kreist sie gerade? Was braucht sie, um die Richtung zu ändern und etwas verbessern zu können? Dazu ist ein Coach da: um die Fragen zu stellen, die einen Perspektivenwechsel auslösen können.


Man kann also auch in der positiven Psychologie mal nur über Probleme reden...

Klar, ich verspreche auch niemandem, dass das – nur weil es Positive Psychologie heißt – einfach und lustig wird. Es gibt einfach Dinge, die müssen verarbeitet werden.  Jede Emotion hat ihre Daseinsberechtigung. Aber die Frage ist eben: Gehe ich durch die Angst und fokussiere mich dabei nur auf die Angst? Oder schaue ich, was die Angst für mich will und was ich für die Zukunft daraus mitnehmen kann? Welche Stärken habe ich, mit dieser Angst zusammenzuarbeiten, wenn sie mich begleitet?  Positive Psychologie ist kein Bäume-Umarmen und auch kein naiver, verschleierter Blick. Es ist ein konstruktiver, optimistischer Blick.

In den sozialen Medien, in Podcasts und Ratgebern boomt die positive Psychologie – warum fühlen sich aktuell so viele Menschen davon angezogen?

Ich glaube, das ganze Thema Digitalisierung weckt eine starke Sehnsucht nach Menschlichkeit. Fakt ist, es gibt gewisse Berufe, die auf der Kippe stehen, weil sie durch die Digitalisierung abgelöst werden. Zum Beispiel Buchhaltungssysteme. Es gibt Menschen, die lieben es, Buchhaltung zu machen, aber es gibt jetzt Systeme, die es so viel einfacher machen, sodass man dafür keine Menschen mehr braucht. Was uns also auszeichnet – sowohl in der Arbeitswelt als auch in persönlichen Kontakten – ist, wie viel Menschlichkeit ich mitbringe. Das hat auch damit zu tun, wie sehr man mit sich selbst verbunden ist. Positive Psychologie kann dabei helfen, diesen Zugang zu dir selbst zu finden und mehr in deine authentischen Stärken zu kommen.


Du hast selber einen Podcast – worum geht es da?

Positive Psychologie! Aber auch um Erkenntnisse aus der Psychologie an sich. Im Endeffekt alles, was dem Menschen im Alltag helfen kann, kleine Alltagshürden zu überwinden oder auch mehr in positive Emotionen zu kommen. Die Folgen dauern 10-15 Minuten, sodass man sie z.B. auf dem Weg zur Arbeit hören kann. Ich stelle ein wissenschaftliches Konzept, eine Übung oder eine persönliche Erfahrung vor und gebe einen Handlungsimpuls mit auf den Weg. Aktuell war z.B. das Thema „Wie kann ich mich von Emotionen anderer abgrenzen?“


Wenn jetzt interessierte Kollegen Elemente der Positiven Psychologie in ihre Coachings einfließen lassen möchten, was wäre ein erster Schritt?

Als aller erstes: sich damit auseinandersetzen und schauen, ob das eine Teildisziplin ist, mit der sie sich identifizieren können. Es gibt z.B. von Martin Seligmann das Buch „Flourish“, in dem er beschreibt, wie er zur Positiven Psychologie gekommen ist. Das ist, glaube ich, ganz schön, um zu spüren, was dahintersteckt. Und dann gibt es noch massenweise Bücher, z.B. „Positive Psychologie in Coaching, Therapie und Beratung“. Darin sind Übungen mit dem jeweiligen Forschungshintergrund, die man nutzen kann. Aber wichtig finde ich auch, in die Selbsterfahrung zu gehen, z.B. Seminare zu besuchen, um zu sehen, was das bei einem selbst bewirken kann. Etwas selbst zu erfahren bringt viel mehr, als ein Buch zu lesen.