Akzeptiere, was in der Therapie veränderbar ist - und was nicht

Ein junger Patient und sein Psychotherapeut bei einer Sitzung.

Unangenehme Gefühle, Trennungen oder Tod – es ist menschlich, den Schmerz auf Abstand halten zu wollen. Ihn anzunehmen, scheint zunächst kontraintuitiv. Doch erst durch Akzeptanz wird in der Therapie oft ein neuer Umgang damit möglich. Unser Autor Boris Pigorsch erklärt, wie du als Therapeut*in einen sicheren Rahmen für deine Patient*innen schaffst und sie in dem Prozess begleiten kannst.  

Vor einigen Sitzungen brachte es eine meiner Patientinnen auf den Punkt: „Es ist nicht so, dass meine Ängste inzwischen weg wären - ganz im Gegenteil -, aber ich lerne, dass ich es in der Hand habe, wie ich mit ihnen umgehe: Ob ich ihnen nachgebe oder trotzdem aus dem Haus gehe und mich zeige.“

So banal diese Erkenntnis in der eigenen Bewertung klingen mag, so tiefgreifend und verändernd kann es sein, wenn Menschen diesen „Shift“ in der Bewertung vornehmen und erkennen, was sie verändern können und was nicht; was in ihrer Macht liegt und was eben nicht. Ich habe in meiner Tätigkeit viele Patient*innen erlebt, die 

  • das Auftreten ihrer eigenen Gedanken, Gefühle und Schwächen mit Selbstverurteilung und -abwertung bekämpften, sodass diese nur noch stärker wurden; 
  • (über Jahre) gegen die Tatsache ankämpften, dass ein lieber Mensch verstorben ist; 
  • versuchten, jemanden (oder mehrere) Familienmitglieder aufopfernd zu retten, zu vermitteln und die Familie zu stabilisieren;  
  • sich wütend dagegen auflehnten, dass ihr Arbeitsplatz sich veränderte, oder 
  • dem Entstehen einer eigenen Erkrankung mit lang andauernder Bitterkeit oder auch gelegentlich einem resigniertenSich-fallen-Lassen“ begegneten. 
Traurige junge Frau sitzt an einem offenen Fenster

Den Schmerz auf Abstand halten? 

Es ist menschlich, dem eigenen Schmerz mit „Fight or Flight“ oder einem zeitweiligen „Freezing“ aus dem Weg gehen, ihn „wegmachen“ oder betäuben zu wollen - wie eine Muschel sich vor einem als invasiv erlebten Gefühl oder einem äußeren Trigger zu verschließen und sich möglichst weit abzukapseln versucht, um wieder ein Erleben von Sicherheit und Stabilität zu gewährleisten.

Es erscheint zunächst kontraintuitiv, sich in Bezug auf eigenen Schmerz ein wenig zu öffnen. Viele befürchten, dass die Gefühle sie überfluten könnten.  Aber vielmehr geht es um eine Akzeptanz und ein Anerkennen des belastenden Elementes, um erst dadurch einen konstruktiven Umgang mit ihm zu erlernen:Ja, der Schmerz ist da und ich kümmere mich um ihn, indem ich……. Denn wie soll ich jemals einen Umgang mit Leid lernen, wenn ich es ständig auf starkem Abstand halte? Wie soll ich ein Paket irgendwann loslassen oder ablegen können, wenn ich es nie angenommen habe?  

Ein Psychotherapeut in seinem Arbeitszimmer

Sicherheit und Stabilität schaffen 

Viele Menschen brauchen für diesen Prozess zuallererst Sicherheit und Stabilität. Als Therapeut*innen lassen wir zunächst sämtliche funktionalen und viele dysfunktionalen Verhaltensweisen wirken und versuchen ganz langsam und behutsam auszuloten, inwiefern unsere Patient*innen bereit sind, die allzu schädlichen Kompensationsstrategien intrinsisch motiviert (!) durch gesündere auszutauschen – ohne dass wir als Therapeut*innen glauben, sie „retten“ zu müssen und ohne sie damit zu bevormunden. Auch das Hadern, Bedauern und Kämpfen darf dabei seine Zeit haben und zum Prozess der Verarbeitung dazugehören, sofern die betreffende Person lernt, achtsam zu sein, nicht darin steckenzubleiben oder dem Irrtum zu erliegen, das Auftreten von Tatsachen (z. B. eine Krankheit, Scheidung, aufkommende Gefühle, Gedanken, negative Reaktionen auf mich) ändern zu können. 

Im therapeutischen Setting können hier folgende Rahmenbedingungen helfen, unangenehme Realitäten zuzulassen und sich mit ihnen sukzessive zu beschäftigen: 

  • Eine Bereitschaft als Therapeut*in, mich selbst in einer guten Freundschaft, Partnerschaft, einer Selbsterfahrung oder Ähnlichem mit den eigenen Gefühlen und Lebensrealitäten offen und annehmend auseinanderzusetzen – und falls ich dabei Widerstand merke, diesen ebenso zu registrieren und erstmal da sein zu lassen! 

  • Eine grundlegende Offenheit und Neugier der Person gegenüber entwickeln, die zu mir in die Praxis kommt. Achtung: Hier ist keine „perfekte“ Grundhaltung gemeint, sondern eine Offenheit, die ich auch widersprüchlichen Gefühlen entgegenbringen kann, die diese Person in mir auslöst. 

  • Das Markieren von emotionalem Erleben in den Sitzungen („Was spüren Sie gerade?“; „Ich habe den Eindruck, gerade meldet sich ein Gefühl…“) kann ebenso einladend sein, hinzuschauen und dem Erleben Raum zu geben. 

  • Ein Normalisieren von Gedanken, Gefühlen und Impulsen als Teil einer durchaus „normalen“, wenn leider auch unangenehmen Realität ist oft entlastend (Patient*in: „Und ich dachte, ich sei allein damit… dachte, das sei völlig unnormal und krank!“). 

  • Ein Verdeutlichen, dass die Tatsache einer Erkrankung, eines Gefühls, Gedankens oder einer Lebensrealität eben nicht veränderbar ist, wohl aber unser Umgang damit.  

  • Das Sammeln von allen gesunden Elementen, die das Leid (ohne langfristig neue Probleme zu erzeugen) etwas lindern und eine Selbstfürsorge fördern: Menschen, Tiere, Orte, Hobbys, Spiritualität, Kochen, Handwerken, Tanzen, Musik usw. Mit diesen können Patient*innen dann im Selbstmanagement (die wesentliche Therapie findet zwischen den Sitzungen statt…) üben, vom Problemerleben hin zu ressourcenreichen „Modi“ zu switchenwie wenn man ein etwas eingerostetes Pendel gezielt wieder in Bewegung bringt, hin zu Stabilität und Lebensfreude.

Ein Mann läuft mit dem Rücken zur Kamera durch ein Feld

Neue Wege gehen 

Ein Patient, der sich im Elternhaus nie angenommen fühlte, begann beispielsweise mit der Zeit, mehr und mehr handwerkliche Dinge im Haus zu erledigen, zu kochen und zu backen, anstatt sich im Kämpfen und Grübeln über Gefühle zu verlieren. So lernte er, sich zu „erden“ und eine hilfreichere Strategie für den Umgang mit Ängsten einzuüben. Getreu nach dem Motto: „Tust du das, was du immer getan hast, bekommt du das, was du immer bekommen hast. Willst du etwas anderes bekommen, musst du etwas anderes tun.“

Wichtig: Er entschied sich selbst dazu, einen neuen Weg lernen zu wollen und in kleinen Schritten einen neuen Umgang mit seinem Schmerz und seiner Biografie einzuüben, anstatt den Kummer „loswerden“ zu wollen. Er konnte die Tatsache, dass Traurigkeit und Wut Teil seines Lebens waren, tatsächlich als Realität annehmen und im weiteren Schritt lernen, diese Gefühle durch Handwerken, Kochen und Backen zu verarbeiten. Hier ist definitiv kein rein kognitives Annehmen gemeint, sondern ein tieferes JA/OKwas wiederum nicht mit Gutheißen des elterlichen Verhaltens oder des Schmerzes zu verwechseln ist! Dieser neue Weg brauchte auch bei ihm Zeit und die Erlaubnis, beim Üben der neuen Werkzeuge unperfekt und einfach menschlich sein zu dürfen.  

Wir können unseren Patient*innen dabei sicher durch unsere akzeptierende Haltung eine neue, positiv korrigierende Beziehungserfahrung ermöglichen, die sie entlastet und Raum schafft für Schwieriges und „Macken“. Auf dass sie diese Haltung mit der Zeit mehr und mehr in sich aufnehmen und perspektivisch für sich selbst offener und annehmender da sein können - was sie auch unabhängiger von der Therapie werden lässt. Zudem können wir mit den Patient*innen nach Ressourcen suchen, die wir für den Therapieprozess unbedingt brauchen können. Eine meiner Patientinnen nahm so nach langer Zeit wieder Kontakt zu einer Cousine auf, was beiden sichtlich guttat und Verbundenheit wie Lebensfreude förderte. 

Eine junge Frau vor einem See schaut in die Kamera

Die Patient*innen haben die Wahl (auch wenn es sich oft anders anfühlt) 

Manchmal, wenn ein/e Patient*in sehr feststeckt, versuche ich ihm oder ihr zu verdeutlichen, dass er oder sie eine Wahl hat: Weiter mit allen vermeintlichen Vorteilen und Nachteilen gegen die Tatsachen des eigenen Lebens zu kämpfen oder mit allen Vor- und Nachteilen diese Realitäten hinzunehmen und das zu ändern, was beeinflussbar ist (eigene Bewertungen, Selbstfürsorge, konstruktives Engagement, Kümmern). So versuche ich der Person zu verdeutlichen, dass sie es tatsächlich in der Hand hat, wie sie weiter mit ihrer Lebensrealität umgehen will (anstatt sich nur als Opfer zu erleben). Wenn dann Trauer über den „Abschied“ von nicht erfüllten Bedürfnissen oder Sehnsüchten aufkommt, kann diese behutsam angeschaut und anerkannt, wie auch bearbeitet werden.

In diesem Zusammenhang kann es sehr „aufweckend“ sein, sich das berühmte Gebet (in Kurzform) des US-Theologen Reinhold Niebuhr (1892-1971) zu vergegenwärtigen, das durch die Aufnahme in die Literatur der Anonymen Alkoholiker weltweite Verbreitung fand:

Gott, gib mir die Gelassenheit, Dinge hinzunehmen, die ich nicht ändern kann, den Mut, Dinge zu ändern, die ich ändern kann, und die Weisheit, das eine vom anderen zu unterscheiden.

Auch falls du oder deine Patient*innen nicht gläubig sein solltet, könnte das Gebet (übrigens: in allen Religionen gibt es ähnliche Gebete oder Lehrreden) dennoch für euer Leben und eure Arbeit einen wichtigen Schatz beinhalten: sich dafür zu entscheiden, nicht veränderbare Dinge hinzunehmen, aber veränderbare Dinge anzugehen beispielsweise die Bewertung von Ereignissen und den mutigen Umgang mit den Realitäten des Lebens. Die Weisheit, beides voneinander zu unterscheiden, ist sicherlich ein Lernprozess, bei dem der Austausch mit anderen, wie beispielsweise in der Therapie, sehr helfen kann.

 

Quelle

Niebuhr, Reinhold. Gelassenheitsgebet. Online abrufbar unter https://de.wikipedia.org/wiki/Gelassenheitsgebet (zuletzt abgerufen am 07.12.2020).