Gender sichtbar machen: Wie Psychotherapie geschlechtersensibel gelingt

Psychotherapie findet nie im luftleeren Raum statt. Unsere Gesellschaft ist von Geschlechterrollen und Machtstrukturen geprägt, die auch therapeutische Prozesse beeinflussen. Dieser Beitrag beleuchtet, warum geschlechtersensible Psychotherapie unverzichtbar ist, und gibt konkrete Anregungen für Therapeut:innen, um Genderaspekte in der Praxis zu berücksichtigen.
In der Psychotherapie müsse laut Prof. Dr. Brigitte Schigl (auf dem BPtK-Fachtag Gender & Psychotherapie) „Gender als maßgebliche soziale Kategorie erfasst, das Wissen um genderspezifische Besonderheiten gestärkt sowie gendersensible und genderspezifische Versorgungsangebote entwickelt und implementiert werden.“
Geschlecht bzw. Gender sind gesellschaftliche Konstruktionen, die wir ständig (re)produzieren (vgl. Doing Gender). Um mit Simone de Beauvoir zu sprechen: Man wird nicht als Frau geboren, man wird dazu gemacht. Auch auf biologischer Ebene existiert Vielfalt – genetisch, hormonell, gonadal, phänotypisch. Dennoch wird in Medizin, Psychotherapie und Forschung Geschlecht oft binär gedacht. Ich möchte noch weiter gehen und sagen, Geschlecht wird grundsätzlich zunächst männlich gedacht, weiblich wird oft als anders, abweichend oder auch irrelevant markiert.
Diese abstrakten Mechanismen haben ganz praktische Auswirkungen auf den Berufsalltag. Therapeut:innen wirken mit ihrer eigenen Geschlechtsidentität, Sozialisierung und ihren Vorannahmen auf die Behandlung ein. Daneben spielen strukturelle Faktoren eine zentrale Rolle:
- Die Grundlagenforschung für Medikamente findet überwiegend an männlichen* Zelllinien und männlichen* Organismen statt. Auch solche für Medikamente, die später überwiegend Frauen* verordnet werden.
- Es gibt Zugangsbarrieren zu bestimmten Räumen für Frauen, beispielsweise in der Politik, wo grundsätzliche Entscheidungen zur Gewichtung oder Finanzierung bestimmter Forschungsbereiche oder Hilfsangebote getroffen werden. In den Gremien zur Genehmigung von Forschungsgeldern oder Anträgen sitzen aktuell immer noch überwiegend männlich sozialisierte Personen, was mit dazu führt, dass Forschung zu speziell weiblich konnotierten Themen weniger Gelder bekommt, auch wenn es die Hälfte der Bevölkerung betrifft.
- Studien werden, wenn weibliche* Personen eingeschlossen werden, überwiegend an Personen ohne Zyklus durchgeführt, also Menschen, die hormonell verhüten oder bereits nach den Wechseljahren sind. Mir ist kein Wirkstoff bekannt, bei dem spezifisch beforscht wurde, wie er in den verschiedenen Zyklusphasen wirkt. Bei einigen wurde durch Anwenderinnen-Feedback bekannt, dass sie Auswirkungen auf den Zyklus haben können. Als Beispiel seien hier die Impfstoffe gegen das Sars-CoV-2 genannt, die Zyklusverschiebungen hervorrufen können, oder Nichtsteroidale Antiphlogistika wie Ibuprofen oder Diclofenac, die den Eisprung verschieben können.
- Ärztliches Personal wird vor allem von männlichen Personen ausgebildet, es werden eher typische Symptombilder männlicher Patienten gelehrt. So ist der klassische Herzinfarkt-Symptomkomplex eher bei Männern zu finden, während Frauen häufig mit unspezifischen Beschwerden wie Übelkeit oder Rückenschmerzen vorstellig werden – mit dem Risiko einer Fehldiagnose.

Auch im Bereich Psychotherapie finden sich ähnliche Themen. Es gibt eine Häufung psychischer Erkrankungen aus den Bereichen Essstörungen, Depressionen und Angst bei Frauen (sogenannte internalisierende Störungen) und eine Häufung in den externalisierenden Störungen wie ADHS oder Suchterkrankungen bei Männern. Das ist aus verschiedenen Perspektiven begründbar:
- Viele Erkrankungen sind in einem Geschlecht häufiger als in einem anderen, weil die Diagnosesysteme das so erfassen, weil die Gesellschaft unterschiedliche Rollenerwartungen an die Geschlechter hat, und damit was als normal und als pathologisch eingeordnet wird, oder auch wie Personen sozialisiert werden („Mädchen kümmern sich, Jungs raufen“).
- Weiterhin sind Frauen oft wirtschaftlich schlechter gestellt, tragen Care-Arbeitsverantwortung für Kinder oder Angehörige und sind dadurch einem erhöhten Stresslevel ausgesetzt, was wiederum das Risiko erhöht, psychisch oder körperlich zu erkranken.
- Der Einfluss der Hormone auf bestimmte Verarbeitungsprozesse im Gehirn spielt möglicherweise eine Rolle; zum Beispiel sind in hormonellen Umbruchphasen wie prämenstruell, postpartal oder postmenopausal Erkrankungsgipfel depressiver Episoden nachweisbar.
- Auch die Kommunikationsmuster von Frauen und Männern unterscheiden sich, was Auswirkungen auf die therapeutische Beziehung haben kann, aber nicht muss. Eine Konkordanz von Therapeut:innen- und Patient:innengeschlecht scheint Vorteile zu haben.
- Auch im Bereich digitaler Anwendungen in der Psychotherapie, etwa bei Chatbots oder KI-gestützten Diagnostiktools, reproduzieren sich gesellschaftliche Ungleichheiten. Die zugrundeliegenden Trainingsdaten stammen meist aus männlich dominierten Quellen und berücksichtigen selten geschlechtsspezifische Unterschiede. Für eine faire Mensch-Maschine-Interaktion ist es wichtig, dass Daten divers und geschlechtssensibel erhoben und ausgewertet werden – inklusive der Perspektiven von trans*, nicht-binären und inter* Personen.
Handlungsempfehlungen für Therapeut:innen
Für eine geschlechtersensible psychotherapeutische Praxis lassen sich folgende Punkte empfehlen:
- Reflektiere regelmäßig deine eigene Haltung und Vorannahmen:
Welche Annahmen habe ich über Weiblichkeit und Männlichkeit?
Welche Rollenerwartungen und Stereotype beeinflussen meine Wahrnehmung?
Inwiefern prägen diese Vorstellungen meine therapeutische Haltung und Diagnostik? - Beziehe Gender als relevante Analysekategorie mit ein: Berücksichtige geschlechtsspezifische Lebensrealitäten und Belastungen aktiv.
- Fördere eine patient:innenzentrierte Kommunikation: Führe Gespräche offen und ressourcenorientiert. Nimm individuelle Anliegen ernst.
- Entwickle ein Bewusstsein für strukturelle Machtverhältnisse: In konsenstoxischen Machtstrukturen fällt es Menschen, die mehrfach marginalisiert sind, oft schwerer, ihre Bedürfnisse und Grenzen zu artikulieren. Gestalte Konsensverhandlungen achtsam und beachte die soziale Position deiner Klient:innen.

- Wende eine gendersensible Diagnostik und Anamnese an: Erkenne und benenne z. B. zyklusabhängige Schwankungen oder genderspezifische Symptome.
- Prüfe digitale Angebote kritisch: Hinterfrage KI-gestützte Tools und Apps auf Bias und Diversitätskompetenz.
- Thematisiere die Rolle sozialer Medien: Soziale Medien beeinflussen Wahrnehmung und Selbstwert vieler Patient:innen. Hier werden Genderstereotype, Sexismus und Rassismus fortlaufend reproduziert. Hilf deinen Patient:innen, ihre Position in dieser Dynamik zu reflektieren.
- Nutze Fortbildungen und Supervision: Erweitere dein Fachwissen zu Genderfragen kontinuierlich.
Strukturelle Veränderungen sind notwendig
Neben der individuellen Verantwortung braucht es aber auch strukturelle Änderungen:
- Gremien, Leitlinienkommissionen und Patient:innenvertretungen sollten divers und paritätisch besetzt sein.
- Forschung, Lehre und Weiterbildung müssen gendersensibel gestaltet werden.
- Fördergelder sollten geschlechterspezifische und intersektionale Themen gleichwertig berücksichtigen.
Fazit
Geschlechtersensible Psychotherapie bedeutet, sich der eigenen Haltung bewusst zu sein und die Lebensrealitäten von Klient:innen ernst zu nehmen. Sie eröffnet die Chance, Psychotherapie für alle gerechter und wirksamer zu gestalten.
Zum Weiterlesen:
(Werbung) Caroline Criado-Perez (2019). Unsichtbare Frauen – wie eine von Daten beherrschte Welt die Hälfte der Bevölkerung ignoriert. München: btb Verlag.
(Werbung) Beatrice Frasl (2022). Patriarchale Belastungsstörung – Geschlecht, Klasse und Psyche. Innsbruck: Haymon Verlag.
* Das Sternchen markiert, dass sich die Bezeichnung auf die Cis- oder Endogeschlechtlichkeit bezieht. Im restlichen Text sind die sozialen, konstruierten Rollen als weiblich oder männlich gelesene Person gemeint.