„Frauen sind nicht krank, sie haben einen Zyklus“

In der Psychotherapieausbildung kommen der weibliche Zyklus und damit auch die Wechseljahre meist nicht vor. Das begünstigt Fehldiagnosen, wenn Wechseljahressymptome mit Depressionen, Schlafstörungen oder anderen psychischen Erkrankungen verwechselt werden. Psychotherapeutin und Zyklusmentorin Tiffany Jacob berichtet, wie sie betroffenen Frauen dabei hilft, mehr im Einklang mit ihren natürlichen Bedürfnissen zu leben, und was es für einen bewussteren Umgang mit den Wechseljahren in der Gesellschaft braucht.
Liebe Tiffany, warum bist du Zyklusmentorin geworden?
Aufgrund von Zyklusschwankungen und hormonellen Dysbalancen habe ich mich privat viel mit dem weiblichen Zyklus befasst und versucht, Lösungen für mich und meinen Körper zu finden. Ich war erstaunt, wie wenig Informationen rund um den Zyklus mir zu Hause, in der Schule, an der Universität und in meiner Ausbildung zur Psychotherapeutin begegnet waren. Damit andere Menschen nicht so lange wie ich nach weiterhelfendem Wissen suchen müssen, möchte ich als zertifizierte Zyklusmentorin das Thema Zyklus und Wechseljahre in der Bevölkerung, aber insbesondere auch im Bereich Psychologie, Psychotherapie und Psychiatrie einbringen. Dafür habe ich mein Unternehmen MIND.YOUR.CYCLE gegründet und gehöre als klinisch-psychologische Expertin dem Kompetenzzentrum the-change.org an. Dieses Kompetenzzentrum ist als zentrale Anlaufstelle für diejenigen, die fundierte Informationen suchen, überaus sinnvoll, da der Markt mittlerweile voll ist von mehr oder weniger seriösen Ratgebern rund um Hormone, Zyklus und die Wechseljahre.
Es fehlt also grundsätzlich bei Betroffenen und Fachleuten an Wissen zu den Wechseljahren?
Ja, dieses Wissensdefizit betrifft den ganzen weiblichen Zyklus. Die Wechseljahre sind ein Teil davon. Ich kenne kaum Menschen, die in ihren Familiensystemen mit fundiertem Zykluswissen aufgewachsen sind. Was im Biologieunterricht in der Schule zum Zyklus gelehrt wird, ist ebenfalls sehr überschaubar.
Fachpersonen haben den Zyklus und die Wechseljahre oft nicht auf dem Schirm. Grund dafür ist mitunter, dass die Wechseljahre im Medizinstudium bisher höchstens am Rande besprochen werden. Im Psychologiestudium und in der Psychotherapie-Weiterbildung wird der Zyklus ebenfalls meist nicht thematisiert. Die wissenschaftliche Forschung steckt in diesem Bereich noch in den Kinderschuhen.
Welche Risiken bestehen, wenn Symptome in den Wechseljahren nicht als solche erkannt werden?
Wenn sich der Hormonhaushalt verändert, dann wirkt sich das auf diverse Prozesse im Körper einer Frau aus. Hormone steuern und regulieren das Immunsystem, das Wachstum, die innere biologische Uhr, die Stimmung, den Schlaf und vieles mehr. Im Rahmen der Wechseljahre befinden sich die Hormone in einem neuen Zustand. Das Progesteron sinkt und mit der Zeit beginnt auch das Östrogen stark zu fluktuieren, bis es ebenfalls vollständig absinkt.

Das Absinken dieser Hormone ist mit Veränderungen in der Stimmung, der Konzentration, Körperempfindungen und vielem mehr verbunden. Das ist zunächst ganz normal. Ein Drittel der Frauen hat gar keine Wechseljahresbeschwerden, ein weiteres Drittel milde und ein weiteres Drittel sehr starke Symptome. Wenn diese Beschwerden durch fehlendes Wissen nicht mit den Wechseljahren in Verbindung gebracht werden, können sie sowohl von Betroffenen wie auch Fachpersonen fälschlicherweise als Symptome einer psychischen Erkrankung im Sinne einer Depression, Angststörung, Schlafstörung oder eines Burnouts eingeordnet werden. Dabei kommt es zu einer Pathologisierung eines eigentlich natürlichen Veränderungszustands, mit dem wir nicht gelernt haben umzugehen. Zugleich müssen wir aufpassen, dass wir nicht alle Symptome auf die Wechseljahre schieben, denn psychische Erkrankungen können genauso vorliegen. Wir sollten in der Summe möglichst differenziert hinschauen.
Kommt es bei Frauen in der Lebensmitte denn oft zu Falschdiagnosen?
Dazu gibt es noch keine eindeutigen wissenschaftlichen Daten. Ich beobachte jedoch, dass Frauen bei mir in der Psychotherapie landen, obwohl sie eher eine gynäkopsychologische Beratung bräuchten. Meine Sichtweise ist: Frauen sind nicht per se krank, sie haben einen Zyklus. Sie müssen in die Lage versetzt werden, sich selbst und ihre zyklische Natur besser zu verstehen, und brauchen ein entsprechendes Umfeld. Dann würden meiner Einschätzung nach auch weniger Symptome auftreten.
Wie gehst du diagnostisch vor, um herauszufinden, ob die Symptome deiner Patient:innen wirklich von den Wechseljahren herrühren?
Oberste Priorität hat dabei eine sorgfältige und umfangreiche Anamnese. Neben den aktuellen Lebensumständen, der Biografie, der sozialen Eingebundenheit, der beruflichen Situation und vielen anderen Faktoren frage ich auch gezielt danach, wie die Person ihren Zyklus erlebt. Dazu gehören auch Themen wie Verhütung, Geburten, Menstruation und Wechseljahre. Die meisten erwarten diese Fragen nicht im Rahmen eines Psychotherapiegesprächs.

Äußerst relevant ist meiner Ansicht nach auch die Befragung naher Bezugspersonen. So erinnere ich mich an ein Abklärungsgespräch mit einem Paar, bei dem der Ehemann den Verdacht äußerte, dass die Veränderungen und Symptome seiner Ehefrau mit der hormonellen Umstellung im Rahmen der Wechseljahre zusammenhängen könnten. Ich versuche mir entsprechend ein möglichst umfassendes Bild zu machen und hypothesengeleitet gemeinsam mit den Hilfesuchenden ein biopsychosoziales Erklärungsmodell für das aktuelle Befinden zu entwickeln.
Wann ist bei Wechseljahresbeschwerden eine Psychotherapie indiziert und welche alternativen Behandlungssettings gibt es?
Der passende Ansatz richtet sich nach dem Schweregrad der Symptome, dem Leidensdruck der betroffenen Person sowie den subjektiven und objektiven Auswirkungen auf Alltagsfunktions- und Arbeitsfähigkeit. Niederschwellig können verschiedene Expert:innen wie Zyklusmentor:innen und Wechseljahresberater:innen Aufklärung und Informationen, auch zu Veränderungsmöglichkeiten, geben. Für solche Beratungsgespräche haben Gynäkolog:innen und andere Ärzt:innen oftmals keine Abrechnungsmöglichkeiten. Zugleich kann der Gang zum bzw. zur Psychotherapeut:in scham- oder vorurteilsbehaftet sein.
Über Lifestyle-Faktoren wie Bewegung, Ernährung, Schlaf und soziale Kontakte kann zwar bereits viel bewirkt werden; wenn die Beschwerden jedoch so stark sind, dass diese Faktoren nicht mehr eigenständig verändert werden können, dann braucht es mehr. Hier können einzeln betrachtet die Psychologie, Gynäkologie und Endokrinologie Abhilfe schaffen, genauso wie eine Kombination dieser. Stichworte in diesem Zusammenhang sind die kognitive Verhaltenstherapie, pflanzliche und medikamentöse Therapien oder die Hormonersatztherapie. Es geht zentral darum, den Umgang mit den Wechseljahresbeschwerden zu verbessern. Welcher Weg dazu der Beste ist, kann nur individuell betrachtet werden.
Wie unterstützt du Frauen dabei, mehr im Einklang mit ihren natürlichen Bedürfnissen zu leben?
Der erste Schritt ist, die eigenen Bedürfnisse überhaupt wahrnehmen zu lernen. Viele Menschen, mit denen ich zusammenarbeite, können die Bedürfnisse anderer sehr gut erkennen. Doch die eigenen Bedürfnisse haben sie oft nicht auf dem Radar. Ich unterstütze Menschen also darin, den Blick vermehrt auf sich selbst und das Innere zu richten.

Die Frage „Was möchte und brauche ich gerade?“ ist dabei nicht immer so trivial. Bei Frauen empfehle ich häufig, dass sie ein Zyklustagebuch führen und sich täglich Stichworte zur aktuellen Befindlichkeit, Stimmung, ihrem Energieniveau und zu anderen Bereichen aufschreiben. Dadurch werden Zusammenhänge und Tendenzen ersichtlich und die Frauen lernen zu erkennen, was sie in welchem Zyklusabschnitt brauchen. Denn unsere Bedürfnisse schwanken und verändern sich. Es gilt also, immer wieder innezuhalten und zu prüfen: Wie ist es jetzt gerade und was brauche ich?
Was sollten Psychotherapeut:innen unbedingt wissen, wenn sie Frauen in den Wechseljahren behandeln?
Zunächst müssen sie überhaupt an die Wechseljahre denken und ihre Patient:innen aktiv danach befragen, um mögliche Zusammenhänge mit dem aktuellen Befinden zu explorieren. Sie sollten wissen, dass Frauen im Vergleich zu Männern ein doppelt so hohes Risiko haben, in ihrem Leben an einer Depression zu erkranken, und dass sich das Risiko während der Wechseljahre nochmal um das 1,5- bis 4-fache erhöht. Ähnliches gilt für andere hormonelle Umstellungsphasen wie die Pubertät, während einer Schwangerschaft und nach der Geburt.
Durch die Veränderung der Hormone entsteht ein Fenster erhöhter emotionaler Verletzlichkeit, was ein idealer Nährboden für psychische Zustandsbilder sein kann. Wenn sich das Zustandsbild trotz regelmäßiger Psychotherapie nicht ausreichend verbessert, sollten Psychotherapeut:innen auch an eine Zusammenarbeit mit Gynäkolog:innen und Endokrinolog:innen zur eventuellen biologischen Unterstützung der Hormone denken.
Wie erklärst du dir das Tabu, über Wechseljahre zu sprechen, und wie kann man es reduzieren?
Viele halten den Zyklus für eine Privatsache, in der Arbeitswelt bekommt er noch viel zu wenig Aufmerksamkeit. Das hat auch die Umfrage meno@work von the-change.org und kununu gezeigt. Doch wir Frauen können unsere zyklische Natur nicht einfach bei der Arbeit an die Garderobe hängen oder ganz zu Hause lassen.
Ich erlebe, dass der Zyklus und die Wechseljahre mit Gefühlen wie Ärger, Frustration, Scham oder Ekel verbunden sind und dass noch immer die Annahme kursiert, dass Frauen da einfach durchmüssen, und zwar möglichst, ohne dass es auffällt. Zudem wird es von patriarchalen Strukturen belohnt, so zu funktionieren, als hätte man keinen Hormonzyklus, was das Verstecken und Verheimlichen fördert.
Damit Frauen und Männer im Einklang mit ihren natürlichen Bedürfnissen leben und selbstfürsorglich leben und arbeiten können, braucht es Nachsicht mit sich selbst und anderen. Außerdem brauchen wir im Arbeitskontext eine Kultur der emotionalen und psychologischen Sicherheit. Dann kann eine Öffnung und Enttabuisierung ohne Stigmatisierungs- und Verurteilungsgefahr erfolgen.
Vielen Dank für das Gespräch!
Wir sprachen mit:
Tiffany Jacob ist eidgenössisch anerkannte Psychotherapeutin und kommt aus der Schweiz. Sie arbeitet dort in einer stationären psychiatrischen Klinik und hat mit ihrem Unternehmen MIND.YOUR.CYCLE ein Angebot für Interessierte, Betroffene und Therapierende geschaffen, das für mehr Einklang des eigenen Lebens mit dem Zyklus sorgen soll. Mit dieser Expertise ist sie auch Teil von the-change.org.

Zum Weiterlesen:
the-change-org. (2024). Eine Chance für zukunftsorientierte Führung und mehr Wirksamkeit. Insights aus der Umfrage meno@work. Online hier abrufbar.