Die Gänseblümchen des Lebens genießen: Frauen in der zweiten Lebenshälfte

Eine ältere Frau liegt lächelnd auf einem Sofa und streckt ein Bein in die Höhe.

Die Kinder sind aus dem Haus, der Beruf ist gesetzt. Zeit durchzuatmen und sich zu fragen: Wo geht es nun hin? Was macht mich zufrieden? Psychologin Tanja Köhler erzählt im psylife-Interview über die Herausforderungen und Chancen der zweiten Lebenshälfte, was Frauen unterstützt und wie du dein Coaching- oder Beratungsgebot gestalten kannst, um sie abzuholen. 

Tanja, du hast ein Buch über Coaching-Methoden für Frauen in der Lebensmitte geschrieben. Warum war dir grade dieses Thema ein Anliegen? 

Das Buch ist für Frauen, die mitten im Leben stehen. Gerade dadurch sind sie unglaublich vielen Erwartungen und Aufgaben ausgesetzt. Was müssten sie tun, um zu sagen: „Jetzt bin einfach auch mal ich dran!“? Es geht darum, die eigene Zufriedenheit zu finden und auch zu spüren, dass man nicht nur nach außen lebt, sondern bei sich selbst ist. Mein Lieblingsspruch ist: „Du bist nicht auf der Welt, um so zu sein, wie andere da draußen dich gerne hätten“. 

Ist das in bestimmten Lebensphasen mehr Thema?  

Ich glaube, dass uns dieses Thema unterschwellig immer begleitet. Aber ich merke, dass grade Menschen in meinem Alter - Stichwort Kriegskinder-Generation – jetzt in eine Lebensphase kommen, in der wir mal ein bisschen nach Luft schnappen können, weil die Kinder aus dem Haus sind und der Beruf gesetzt ist. Wir können uns die Frage stellen: Wo geht es nun hin? 

Wann genau ist eigentlich „die Lebensmitte“?  

Da gibt es eine statistische Antwort: Die Geburtenjahrgänge der Babyboomer-Generation haben eine statistische Lebenserwartung von ungefähr 82 Jahren bei den Frauen. Wenn du dir einen Zollstock nimmst und deinen Finger dahin legst, wo dein Alter ist, dann wissen alle Frauen über 41 Jahre: Statistisch gesehen haben sie ihre Lebensmitte schon erreicht.  

Ich glaube aber, dass wir die Dissonanztheorie nach Festinger walten lassen und sagen können: „Wir werden trotzdem älter. Meine Oma ist es schließlich auch geworden!“ (schmunzelt) 

ein eingekringeltes Maßband vor einem dottergelben Hintergrund

Die Lebensmitte ist eine persönliche Empfindung und bei jedem unterschiedlich. Tatsächlich ist sie mir erst in den letzten 1 bis 2 Jahren bewusst geworden - also deutlich über der „statistischen Mitte“. Ich merke es daran, dass z. B. die Studierenden mich nicht mehr so einfach duzen können, obwohl das die vorherigen Jahrgänge immer gemacht haben. Ich merke, dass meine Haut nicht mehr ganz so spannkräftig ist. Oder ich merke bei gesellschaftlichen Themen: Da komme ich nicht mehr mit. Mein Sohn ist siebzehn Jahre, da wird mir das viel vor Augen geführt. Wenn zum Beispiel die Kinder aus der Nachbarschaft, die noch zusammen in den Kindergarten gegangen sind, auf einmal mit der Schule fertig werden und wegziehen. Man merkt, dass das Viertel auf einmal älter wird. An sowas mache ich es fest.  

Was sind die besonderen Herausforderungen in der zweiten Lebenshälfte? 

Die meisten Eltern meiner Generation sind Kriegskinder gewesen. Seitdem Sabine Bode das Buch „Die vergessene Generation“ geschrieben hat, ist es mehr zum Thema geworden, dass wir einen ganz besonderen unsichtbaren Staffelstab von den Eltern mitbekommen. Während unsere Eltern die Trümmer wegräumen mussten, ist unsere Generation nun in der Herausforderung, die seelischen Trümmer wegzuräumen. Wir sind den Glaubenssätzen und Themen unserer Familien ausgesetzt und die wirken auch weiter. Du willst als Kind schließlich immer zur Familie gehören, egal wie alt du bist. 

Ein Riesenthema für meine Generation sind Leistung und Leistungserbringung: Wie wurde Leistung früher zuhause belohnt? Was wurde von dir erwartet? Wie oft leistest du mehr, als andere überhaupt von dir erwarten? Wurden Erfolge mal gefeiert? Wenn du draußen auf dem Liegestuhl liegst und einfach mal nichts tust, wie lange kannst du das genießen, ohne dass du sagst: „So jetzt muss ich mal!“? Viele haben den Anspruch: Du darfst nicht rasten, sonst giltst du als faul. Und was damit zusammenhängt, ist auch die Selbstwertschätzung: Bin ich gut genug? Gelte ich was? Stichwort Impostor-Syndrom

Ich glaube, das ist auch der große Konflikt mit den Generationen, die jetzt hinterherkommen: zu sehen, was ihr als jüngere Generationen für euch leistet.... wir leisten halt (lacht). Den jüngeren Generationen wird immer so nachgesagt, sie seien so „Ich-zentriert“. Aber das finde ich gar nicht. Ich finde sie ziemlich ausgewogen.  

Würdest du sagen, dass die Herausforderungen der zweiten Lebenshälfte für spätere Generationen andere sein werden? 

Ich glaube, dass ein Teil der Herausforderungen gleich sein wird. Aber es gibt natürlich ganz spezifische Einflüsse, von denen wir heute noch nicht wissen, wie sie sich auswirken werden. Coronapandemie, Ukrainekrieg…  

Was sind die Herausforderungen der Lebensphase an sich? 

Ich glaube, das ist die erste Wahrnehmung der eigenen Vergänglichkeit. Auf einmal werden 60. Geburtstage gefeiert. Plötzlich sterben vermehrt Menschen in deinem Umfeld, die so alt sind wie du. In der Jugend geht man davon aus, der Tod ist kein Thema – es sei denn, man macht Erfahrungen damit. Plötzlich merkt man, da kommt ein Ende. Man denkt vielleicht an verpasste Chancen. Jede:r kennt ja die Bucket-Liste. Die mag ich überhaupt nicht, weil sie einem den Tod so vor Augen führt: Die Dinge, die ich noch tun will, bevor ich meinen Löffel abgebe… Deswegen habe ich daraus die Teelöffel-Methode entwickelt: Die drei Dinge, die ich dieses Jahr machen möchte, die mir das Leben versüßen. 

Was steht dieses Jahr auf deiner Teelöffel-Liste?  

In diesem Jahr steht drauf, dass ich am Strand von Holland ein Herz aus Muscheln legen möchte und dass ich jeden Monat einen Tanja-Tag mache. Bei jedem Tanja-Tag werde ich einen Spaziergang machen und einen Stein einsammeln, die ich am Ende des Jahres auch zu einem Herz formen werde. Das klingt vielleicht etwas kitschig, aber ich arbeite gerne mit Bildern und das Herz schenke ich ja mir.  

Porträt der Psychologin Tanja Köhler

Welche Chancen liegen in der zweiten Lebenshälfte?  

Wenn man aus der Wahrnehmung ein Tun ableitet. Wenn du jetzt die Gänseblümchen des Lebens noch nicht genießen kannst, dann musst du vielleicht noch eine BÄM!-Entscheidung für dich treffen - im Job, in der Liebe oder im Lebensentwurf insgesamt. Du musst nicht in der Situation verhaftet bleiben, in der vielleicht deine Eltern verhaftet geblieben sind. Klarissa hatte zum Beispiel einen super Job als Vertriebsprofi. Sie war 52 Jahre alt, als sie diesen gutbezahlten Job an den Nagel gehängt hat. Andere würden vielleicht sagen: „Warum? Du hast doch nur noch zehn Jahre! Du kannst doch deinen guten Job nicht verlassen!“ Die Elterngeneration hätte das nicht gemacht. Da galt: Was du hast, hast du. Da ging es um das Thema Sicherheit. Aber wir müssen diese Sicherheit aktuell gar nicht in dem Maße leben. Klarissa hat eine Ausbildung zur Schneiderin gemacht und führt jetzt eine eigene Maßschneiderei. Das war ihr Lebenstraum und das war eine BÄM!-Entscheidung. Es hat aber 3-4 Jahre gedauert, bis sie gemerkt hat: Ich muss da was verändern, sonst kann ich all die anderen Sachen nicht voll genießen. Dafür braucht es Mut und Unterstützung. Das sage ich auch im Buch: Das musst du nicht mit dir selbst ausmachen. Gönn dir da eine Unterstützung! Das muss nicht immer Therapie sein, aber vielleicht ein:e Coach:in an deiner Seite oder ein:e Freund:in.  

Als wie offen erlebst du die Frauen gegenüber Coaching- und anderen Unterstützungsangeboten? 

Viele sind offen für Bücher, gönnen sich dann aber den Schritt einer Beratung oder eines Coachings nicht mehr. Coaching ist für viele immer noch seltsam behaftet. Deswegen benutze ich auch lieber das Wort Beratungsgespräche. Beratungsgespräche sind unverfänglicher. Da geht man hin und lässt sich mal kurz beraten.  

Wie müssten Beratungs- oder Coachingangebote gestaltet sein, um Frauen in der zweiten Lebenshälfte mehr abzuholen? 

Es ist wichtig, die Schwelle so niedrig wie möglich runterzusetzen. Das Gefühl zu geben: „Es ist super, wenn du mal 1-2 Stunden in dich investierst. Das ist, als würdest du Wellness für die Seele machen.“  Das in der Marketingkommunikation hinzubekommen, ist eine Herausforderung. 

Also die Erlaubnis: Du musst nicht direkt eine ganze Coaching-Palette mit 10 Terminen kaufen. Es ist ok, wenn du 1–2-mal vorbeischaust? 

Genau! In dem Gespräch kommt dann vielleicht die richtige Frage oder ein Impuls. Es macht schon „klick“, wenn jemand in Resonanz und Selbstreflektion mit dem geht, was ich gesagt habe.  

Da merke ich direkt meinen eigenen Anspruch: „Das muss dann aber auch eine gute Stunde werden! Was ist, wenn ich nicht die richtigen Fragen stelle…?“ 

Wir haben oft eine sehr gute Nase dafür, was das Thema ist. Ich bin da manchmal direktiver, formuliere Hypothesen als systemisches Angebot. Dann spürst du schon, ob die Person in Schwingung geht oder nicht.  

Und wir dürfen nicht vergessen, dass auch eine Selbstverantwortung in der Reflektion liegt. Du bist nicht für die Lösung verantwortlich! Aber wir können über die Impulse, die wir setzen, den Boden dafür bereiten. Wenn die Person dann doch noch was braucht, wird sie sich wieder melden. 

Gänseblümchen mit Wäscheklammern an einer Paketbandkordel befestigt

Was sind die Impulse, die Frauen in der Lebensmitte als unterstützend erleben? 

Da habe ich eine mahnende Aussage und zwei Methoden. Die mahnende Aussage ist: Ohne Zeit keine Zeit. Wenn du dir nicht die Zeit nimmst, darüber nachzudenken, was du anders machen willst und wie dir das gelingen kann, bleibt es nur bei „ich hätte gerne mehr Zeit“. Das ist also deine Verantwortung.  

Die erste Methode ist die Zollstock-Methode, die ich eben schon beschrieben habe. Sie weckt die Dringlichkeit: Wenn nicht jetzt, wann dann. Zu dieser Methode bekomme ich die meisten Rückmeldungen: „Dann habe ich meinen Finger draufgelegt und für mich eine Entscheidung getroffen“. Die Entscheidung kommt immer vor der Veränderung.  

Wenn es dann heißt: „Für die Veränderung habe ich kein Geld oder keine Zeit“, mache ich gerne das Energiemodell. Dafür stelle ich Marmeladentöpfchen hin und nehme Zucker oder Salz und frage: Wie voll ist dein Finanzglas? Wie voll ist dein gesundheitlicher Zustand? Wie voll ist dein soziales Umfeld? Wie voll ist die Zufriedenheit mit dem Job? Was bräuchtest du, wenn du jetzt eine Veränderung anstrebst, um da weiterzugehen? Es hilft, dass so sinnesspezifisch konkret zu sehen, um ins Tun zu kommen. 

Und natürlich die Erkenntnis der Gänseblümchen! Die ist so banal, aber so schön, wenn man merkt: Ich muss mein Leben vielleicht gar nicht so groß verändern. Mit dem, was ich habe, bin ich zufrieden. Dann schaff dir lieber viele schöne Gänseblümchen im Alltag – und nimm dir die Zeit dafür, plane sie dir ein. Denn: Ohne Zeit, keine Zeit.  

Das Buch ist im Übrigen kein Mut-mach-Buch. Es ist ein Lust-mach-Buch. Ich möchte die Frauen erreichen, die Lust haben, etwas auszuprobieren.  

Wo siehst du den Unterschied zwischen Mut und Lust?  

Jemanden Mut zu machen, ist anstrengender, als jemanden Lust zu machen. Wenn ich Mut mache, schaut derjenige immer noch mal zurück auf den vorherigen Zustand. Aber wenn jemand Lust auf etwas bekommt, dann will er da auch hin. Es zieht sie magisch an. Dann kommt diejenige in Bewegung und schnappt sich ihre Gänseblümchen (lacht).  

Lieben Dank, Tanja, für das Gespräch! 

 

Zum Weiterlesen:  

[Werbung] Tanja Köhler (2023). Vorwärts heißt zurück zu mir. Aufbruch in ein selbstbestimmtes Leben - Coaching-Methoden für Frauen in der Lebensmitte. München: Kösel Verlag. 

[Werbung] Sabine Bode (2013). Die vergessene Generation: Die Kriegskinder brechen ihr Schweigen. Stuttgart: Klett-Cotta.
 

Über Tanja Köhler:

Tanja Köhler (geb. 1968) ist Diplom-Psychologin, Systemische Beraterin, Coachin, Unternehmensberaterin und Spiegelbestsellerautorin. Sie begleitet Unternehmen, Führungskräfte und Privatpersonen in Veränderungsprozessen. Ihre wöchentliche einstündige Radiosendung »Sag mal, Tanja!?« bei antenne 1 Neckarburg Rock & Pop, dem Talk rund um die Psychologie und das Leben, hat eine Tagesreichweite von 75.000 Hörer:innen. 

www.die-tanja-koehler.de/