„Das Leben ist ein Prozess des Wandels und dazu gehört auch der Tod“

Holzkiste mit alten schwarz-weiß Bildern von Menschen

Durch die Pandemie sind wir alle mit existenziellen Fragen konfrontiert: Krankheit, Einsamkeit und Sterblichkeit. Themen, die bislang in der Psychotherapie eine viel zu geringe Rolle gespielt haben, findet Luise Reddemann. Im psylife-Interview erzählt die Psychoanalytikerin, warum wir alle aufgefordert sind, mehr hinzugucken - und was dabei helfen kann. 

 

Frau Reddemann, was sind für Psychotherapeut*innen die besonderen Herausforderungen in der Pandemie?  

Psychotherapeut*innen sind durch die Pandemie herausgefordert, sich deutlich mehr um existenzielle Themen zu kümmern als früher: Themen wie Einsamkeit, Isolation und Angst vor dem Tod, aber auch die Erkenntnis, dass wir nicht alles kontrollieren können, so wie wir es vielfach angenommen haben. Wir brauchen die Bereitschaft, uns auf diese existenziellen Themen einzulassen und die Patient*innen dabei mehr zu begleiten, anstatt zu meinen, dass wir „wissender“ sind als sie. Dazu gehört, sich einzugestehen, dass wir selbst Betroffene sind - und damit einen Umgang zu finden. 

Bislang haben existenzielle Themen allerdings eine viel zu geringe Rolle in der Psychotherapie gespielt - außer, wenn man sich an Yalom orientiert hat. Das war aber bislang nicht  Mainstream.

Wie kann das sein? Sind diese Themen nicht unabhängig von Pandemien bedeutsam? 

Ich denke, dass sich das historisch so entwickelt hat. Die psychodynamischen Therapien gehen auf Freud zurück. Ihm ging es um andere Themen, wie den Ödipus-Komplex. Die Verhaltenstherapie hat sich auch nicht um existentiellen Themen gekümmert, ebenso wenig wie die systemische Therapie. Das sind in Deutschland nun mal die zugelassenen Verfahren. Wenn man sich in Österreich und der Schweiz an Viktor Frankl orientiert, sieht das gleich ganz anders aus.  

Das Buch von Irvin Yalom „Existenzielle Psychotherapie“ (erschienen bei EHP) gibt es bereits seit den achtziger Jahren! Es haben sich immer mal wieder Kolleg*innen daran orientiert, aber insgesamt hat man sich zu wenig darum gekümmert – außer die Menschen, die mit Sterbenden und Trauernden arbeiten, z. B. die Kolleg*innen aus der Psychoonkologie und palliativen Versorgung. Aber jetzt ist einfach klar geworden, dass alle, die in Therapie kommen, existenzielle Themen mitbringen. 

Würden Sie sagen, viele Psychotherapeut*innen scheuen sich vor existentiellen Themen?  

Leider ja. Schon Yalom hat die Vermeidung – insbesondere des Themas Sterblichkeit – klar kritisiert und beschrieben, wie seine Supervisand*innen dem Thema ausweichen. Die Angst vor diesen Themen haben nicht nur die Patient*innen, sondern Therapeut*innen können sie auch haben! Dazu kommt, dass es oft einen undifferenzierten Blick auf existenzielle Themen gibt, so dass man sich auch nicht damit beschäftigen möchte. Dabei kann z. B. die Einsamkeit auch etwas Positives haben.

Zwei Hände eines jungen Menschen halten eine alte, faltige Hand.

Was brauchen Psychotherapeut*innen, um mit dieser Herausforderung gut umgehen zu können?  

Wir sollten uns unbedingt selbst mit den existenziellen Fragen befassen. Wir lernen alle bis zum Ende unseres Lebens. Auch in unserer Profession sollten wir immer offen sein für neue Themen und uns als Lernende definieren. Das sind jetzt natürlich Themen – Krankheit, Einsamkeit, Sterblichkeit –, die nicht unbekannt sind, aber uns durch die Pandemie neu erfassen. Daher sind wir alle aufgefordert hinzuschauen. Das ist meine Empfehlung und auch meine Bitte an die Kolleg*innen: Schaut bitte auch dorthin!  

Ich bemühe mich mit meinem Buch („Die Welt als unsicherer Ort“ erschienen bei Klett Cotta) und Seminaren, das Thema weiterzugeben, und es gibt auch andere Kolleg*innen, die dies tun, (z. B. Steven Taylor: „Die Pandemie als psychologische Herausforderung - Ansätze für ein psychosoziales Krisenmanagement“, erschienen im Springer Verlag). Ich denke aber, dass sich das Kollektiv der Therapeut*innen damit auseinandersetzen sollte. Es ist auch eine Aufgabe der Fachgesellschaften, das Thema anzubieten und es in den öffentlichen Diskurs zu bringen.  

Wir sollten anerkennen, dass wir alle verletzliche und sterbliche Wesen sind, aber auch, wie reich uns das Leben beschenkt. Vergänglichkeit ist nicht nur Tod, sie ist auch eine Chance in Dinge hineinzuwachsen und zu mehr fähig zu sein als man dachte. 

Das klingt wahrscheinlich leichter, als es ist… was hilft dabei, das anzuerkennen? 

Man könnte sich liebevoll damit beschäftigen und sich auch mit anderen Kulturen befassen. Zum Beispiel gibt es einen chinesisch-französischen Philosophen François Cheng, der hat das Buch geschrieben „Fünf Meditationen über den Tod“ (erschienen bei C.H. Beck) und befasst sich mit diesen Themen.  

Ich finde gerade die Beschäftigung mit den ostasiatischen Religionen oder Philosophien unglaublich hilfreich, denn dort ist viel mehr Akzeptanz. Für uns hat der Tod oft etwas Strafendes. Aber das Leben ist ein Prozess des Wandels und dazu gehört auch der Tod. Man muss sich nur mal in die Natur begeben und einfach mal den Wandel in der Natur angucken: Da stirbt immer etwas und es entsteht auch wieder Neues. Das ist mit uns Menschen genauso.

Kleine gelbe Blume wächst auf einem Untergrund aus großen Steinen.

Wie greife ich existentielle Fragen mit meinen Patient*innen auf?   

Indem ich zuhöre, was die Patient*innen beschäftigt und vielleicht ängstigt. Viele sprechen ihre Ängste nicht direkt an und wir sollten behutsam nachfragen, bis wir eventuell etwas Existenzielles benennen können, wie z. B. Einsamkeit. In jedem Fall sollten wir mit diesen Themen rechnen und uns vor allem dafür interessieren, welche Lösungen die Patient*innen bereits haben. Wir sollten sowieso als Therapeut*innen auf das eingehen, von dem wir merken, dass die Patient*innen dort suchend sind. Aber dafür brauchen wir auch ein Ohr. Wir müssen sozusagen mit dem „existenziellen Ohr“ zuhören. 

Sie arbeiten gerne mit Imaginationen. Welche Bilder können in diesen Zeiten hilfreich sein?  

Bilder von guten Orten der Geborgenheit auf jeden Fall. Aber auch Bilder, die Veränderungen deutlich machen, z. B. auf einer Wanderung zu erkennen, wie sich die Umgebung verändert. Oder sich das eigene Leben bewusst zu machen - vom Beginn an bis zum Tod - und all die vielen Veränderungen betrachten und begrüßen. 

Gibt es etwas, das wir aus den letzten Monaten für die Zukunft mitnehmen sollten?  

Stetiger Wandel und dass wir geborgen sind, wenn wir uns verbunden fühlen und uns bewusst machen, dass wir mit jeder Scheibe Brot, die wir zu uns nehmen, verbunden sind: mit der Natur und mit vielen Menschen, die uns unterstützen, bis wir unsere Scheibe Brot haben. Es ist nichts Großes, es geschieht in jedem Augenblick! 


Vielen Dank für das Interview! 

 

 

(Werbung) Zum Weiterlesen:  

Reddemann, Luise (2021). Die Welt als unsicherer Ort. Psychotherapeutisches Handeln in Krisenzeiten. Stuttgart: Klett Cotta.  

Cheng, François (2015). Fünf Meditationen über den Tod: und über das Leben. München: C.H. Beck. 

Taylor, Steven (2020). Die Pandemie als psychologische Herausforderung - Ansätze für ein psychosoziales Krisenmanagement. Gießen: Psychosozial Verlag.

Vogel, Ralf T. (2020). Existenzielle Themen in der Psychotherapie. Stuttgart: Kohlhammer.

Vogel, Ralf T. (2020). Psychotherapie in Zeiten kollektiver Verunsicherung: Therapieschulübergreifende Gedanken am Beispiel der Corona-Krise. Berlin. Springer. 

Yalom, Irvin (2010). Existenzielle Psychotherapie. Gevelsberg: EHP.