Im Hier und Jetzt: So nutzt du die therapeutische Beziehung

Eine junge Frau lümmelt desinteressiert auf einem Sessel, ihr Gegenüber sitzt die Therapeutin.

Was passiert hier gerade zwischen uns? Interpersonelle Konflikte zeigen sich auch im Mikrokosmos der therapeutischen Beziehung. Das Hier und Jetzt ist wie ein Tor, durch das wir hindurchgehen können. Doch viele Therapeut:innen scheuen davor zurück. Warum es sich lohnen kann - und welche therapeutische Haltung dir hilft, das Hier und Jetzt für den Therapieprozess zu nutzen.

Wieso spüre ich Ärger, wenn meine Klientin von etwas scheinbar Traurigem spricht? Wieso blitzen die Augen voller Lust, wenn mein Patient von seiner Wut redet? Wieso erwähnt mein Patient immer wieder, wie enttäuscht er von der Therapie ist, obwohl er doch fast jedes Mal am Ende der Stunde aus dem Praxisraum getragen werden muss? Wieso erwähnt meine Patientin, wie wichtig ihr die Therapie ist, wenn ich ihr während der Stunde jedes Wort aus der Nase ziehen muss? Warum fühle ich mich bei einem Klienten so befangen, ihn zu konfrontieren?

 

Das Hier und Jetzt ist die „Goldgrube“ der psychotherapeutischen Arbeit

Im Hier und Jetzt der therapeutischen Begegnung finden wir alle zentralen, nötigen Informationen, um einen Zugang zur Innenwelt unserer Patient:innen mit ihren Konflikten und Problemen zu finden. Das gilt insbesondere für interpersonelle Konflikte. Diese bilden sich im Mikrokosmos der therapeutischen Beziehung ab. Wertvolle Informationen liefern uns das Gesprochene, das Nonverbale und unser eigenes Erleben in der Beziehung. Du kannst dir im Gespräch erlauben, alles zu fühlen und wahrzunehmen. Die Analytiker:innen nennen diese Haltung „freischwebende Aufmerksamkeit“.

Das Hier und Jetzt ist wie ein Tor, durch das wir hindurchgehen und fragen können: Was passiert hier gerade zwischen uns? Wollen wir uns das einmal anschauen? Halte kurz inne und führe dir eine Situation in der Therapie vor Augen, in welcher du starke Gefühle in Bezug auf eine:n Klient:in empfunden hast. Hast du die Gefühle für dich behalten oder sie angesprochen? Wenn du sie für dich behalten hast, warum? Wie geht es dir bei dem Gedanken, in dieser Situation die Frage zu stellen: Was passiert hier gerade zwischen uns?

 

Die tatsächliche Begegnung kann Angst machen

Viele scheuen davor zurück! Wenn du durch dieses Tor gehen möchtest, brauchst du eine klare Haltung, wie du dich dort bewegen willst. Wenn wir die Beziehung zu unseren Klient:innen im Hier und Jetzt anschauen, dann geben wir ein Stück Kontrolle über das Geschehen ab. Viele erleben eine Art „Begegnungsangst“ (Dörner et al., 2007, S. 260), sich wirklich zu berühren und den anderen zu sehen.

Dabei sind diese Begegnungsmomente oder „Now-Moments“ (Stern et al., 1998, S. 302) häufig zart, wunderschön und sehr tief. Das Hier und Jetzt ist lebendig und immer im Wandel. Im Hier und Jetzt gibt es keine Expert:innen oder Schüler:innen, es entsteht eine Beziehung zwischen zwei fehlbaren Menschen auf Augenhöhe. Natürlich musst du dich fragen, ob du dazu bereit bist, dich aus deiner Deckung zu wagen. Als Therapeut:innen werden wir im Hier und Jetzt zwangsläufig mit unseren eigenen Unsicherheiten konfrontiert. Unsere Aufgabe ist es, Sicherheit in der Unsicherheit zu finden. Für mich ist das eine der spannendsten und herausforderndsten Lernaufgaben als Therapeut. Im Hier und Jetzt können wir unsere Klient:innen nicht auf Antworten lenken, die wir selbst schon haben. Wir müssen diese gemeinsam herausfinden. Wir müssen uns wirklich öffnen für den Prozess, in dem Erkenntnisse aus der Begegnung kommen.

Blick aus einem dunklen Tunnel ins Grüne.

Aus diesem Grund gehen viele an diesem Tor vorbei und begnügen sich mit Geschichten über das Damals und Dort oder mit Interventionen, die vom subtilen und faszinierenden Beziehungsgeschehen zwischen dir und deinen Klient:innen ablenken. Hier bleibst du in einem Halbkontakt stecken, in dem du die tiefere Begegnung vermeidest. Du verpasst in diesem Modus die Chance auf eine lebendige und offene Auseinandersetzung, unerwartete Wendungen und tiefe Erkenntnisse!

Wenn das Beziehungsgeschehen zwischen dir und deinen Klient:innen zur Sprache kommt, solltest du dich selbst zurücknehmen und gleichzeitig nicht ganz herausnehmen (Winkler, 2022)!

Letztendlich musst du prüfen, wie viel Selbstoffenbarung für dich stimmig ist. Du solltest einen Stil finden, der zu deiner Persönlichkeit passt, und dich nicht zu etwas zwingen, bei dem du das Gefühl hast, das bist nicht du! Ich selbst habe viel ausprobiert. Folgende Haltungen haben mir dabei geholfen:

 

Sich selbst zurücknehmen

Du musst dich selbst zurücknehmen, wenn du deinen Klient:innen ermöglichen möchtest, aus einer bestimmten Situation einen Erkenntnisgewinn zu ziehen. Ich hatte beispielsweise einen Klienten, der mich einmal auf mein „schrottiges Fahrrad“ ansprach. Ich rechtfertigte mich sofort und erklärte, warum das Fahrrad nicht schrottig wäre! Leider habe ich mich und den Klienten damit um die Chance gebracht, aus dieser kurzen Kommunikationssequenz Erkenntnisse zu ziehen. Wenn ich mich selbst zurücknehme, dann nehme ich zunächst meine Gefühle wahr, exploriere jedoch drucklos. Ich beschwichtige nicht, ich erkläre mich nicht und ich rechtfertige mich auch nicht. Ich könnte dann fragen: Wann ist Ihnen das aufgefallen? Wie ist es für Sie, einen Therapeuten zu haben, der Ihrer Meinung nach ein schrottiges Fahrrad fährt? Stellen Sie häufiger Kontakt zu anderen auf diese Art her? Was glauben Sie, erlebe ich, wenn Sie mir das sagen? etc. So könnten wir darauf kommen, dass diese Art der eher aggressiven Kontaktaufnahme möglicherweise andere abschreckt und zu seinem Kernproblem beiträgt, nämlich dass er sich immer wieder, ohne es zu verstehen, abgelehnt und gemieden fühlt.

Je nach Klient:in passe ich meinen Grad an Offenheit an. Jemand mit einer starken und rigiden Abwehrstruktur lässt dich gern mal mit deiner Offenheit „stehen“. Ich hatte einen Patienten, der in mir eine starke Unsicherheit auslöste. Genau dies war auch sein Konfliktthema: Er kam in die Therapie, weil er in Beziehungen jeden kontrollieren musste und dies nicht mehr wollte. Ich äußerte, dass ich mich in diesem Moment unsicher fühlte und ob er das auch kenne. Er sagte nur triumphierend: „Erleben Sie das häufig in den Therapien, Herr Winkler?“ Ich fühlte mich beschämt und mit meiner Offenheit ausgenutzt. In solchen Fällen sollten wir unser Erleben besser klientenzentriert formulieren. Statt unsere Unsicherheit zu offenbaren, können wir unser eigenes Erleben als Hypothese formulieren und fragen: Kann es sein, dass Sie in dieser Beziehung Unsicherheit erleben?

Ein Mann und eine Frau stehen eng beieinander und haben die Hände in einander verschlungen. Ihre Köpfe sind nicht zu sehen.

Sich selbst nicht herausnehmen

Ein Klient, der viel Sicherheit durch die Beziehung zu mir erlebte, äußerte einmal irritiert, dass ich heute so anders als sonst auf ihn wirke. Ich sei nicht so interessiert und bei der Sache wie sonst. Auch hier kann ich mein unmittelbares Erleben auf diese Aussage wahrnehmen (ich habe mich irgendwie kritisiert, kontrolliert und bedrängt gefühlt). Dann kann ich drucklos explorieren: Wann genau ist Ihnen dieser Gedanke gekommen? Was haben Sie bei mir gesehen, dass Sie diesen Gedanken hatten? Wie hat sich das für Sie angefühlt? Wie hat das Ihre Beziehung zu mir in diesem Moment verändert? Wie ist es, dies direkt anzusprechen? Wie ist es für Sie, einen Therapeuten zu haben, bei dem Sie wahrnehmen, dass er nicht ganz bei Ihnen ist?

In der Tiefe meiner Exploration orientiere ich mich daran, ob die Beziehungsaussage ein bekanntes Konfliktthema des Patienten berührt: Kontrolliert er häufiger Beziehungen? Erlebt er abhängige Beziehungen? Wie sehr ist er bei sich, wie sehr bei seinem Gegenüber? Wenn wir drucklos exploriert haben, sollten wir jedoch noch eine persönliche Antwort auf die Frage geben. Wenn wir das nicht tun, so entsteht eine Unterbrechung im Kontakt mit den Patient:innen und die Bindungsebene wird geschwächt. Ich kann dann, je nachdem, was zutrifft, sagen, dass ich heute tatsächlich etwas müde bin und dass seine Wahrnehmung diesbezüglich stimmt, ich aber dennoch interessiert bin an dem, was er mir schildert.

 

Mutig gemeinsam explorieren

Wenn die Beziehung zur Sprache kommt, sollten wir immer vorher um Erlaubnis bitten, ob wir uns das Geschehen gemeinsam anschauen sollen. Meiner Meinung nach sollten wir uns mit Interventionen und Deutungen zurückhalten. Meine Supervisorin betonte immer: Als Therapeut:innen müssen wir gar nichts wissen! Wir müssen uns interessieren und gemeinsam verstehen, klären und explorieren. Mich hat diese Haltung entlastet. Sie ermöglicht es mir, mich sicherer in der Unsicherheit des Hier und Jetzt zu bewegen.

Neben dieser Haltung benötigen wir eine gesunde Anbindung an unsere eigene Aggression. Sind wir selbst aggressionsgehemmt, können wir nicht konfrontieren. Wir brauchen eine neugierige, risikofreudige und mutige Energie, wenn wir gemeinsam auf das Hier und Jetzt schauen möchten. Frage dich selbst, ob du in deinen Therapien aggressionsgehemmt bist oder ob du eine Anbindung an deine Kraft erlebst und auch bereit bist, mit Widerständen umzugehen und diese zu provozieren.

Wenn du ein bestimmtes Verhalten angesprochen hast, kannst du immer betonen, dass es nicht darum geht, „dass es nicht okay ist“. Du kannst die Gemeinsamkeit der therapeutischen Aufgabe betonen: Es geht darum, dass wir gemeinsam verstehen, was los ist, und Wege der Veränderung finden!

 

Zum Weiterlesen:

[Werbung] Winkler J. (2022). Mut zum Hier und Jetzt. Übertragung und Gegenübertragung im therapeutischen Dialog. Berlin: Springer.

 

Literatur

Dörner K., Plog U., Teller C., Wendt F. (2007). Irren ist menschlich. Lehrbuch der Psychiatrie und Psychotherapie. 3. Aufl. Bonn: Psychiatrie-Verlag.

Stern DN, Bruschweiler‐Stern N, Harrison AM, Lyons‐Ruth K, Morgan AC, Nahum JP, Sander L, Tronick EZ (1998). The process of therapeutic change involving implicit knowledge: Some implications of developmental observations for adult psychotherapy. Infant Mental Health J 19(3): 300–308.