Tagebücher und Geschichten – Anregungen für den therapeutischen Prozess

Ob Geschichten, Tagebücher oder Gedichte: Die Arbeit mit Sprache und Schriftsprache kann therapeutische Prozesse erleichtern, unterstützen oder anregen. Unsere Autorin Angelika Rohwetter hat für dich einige Übungen und Inspirationen zusammengestellt, die du in deinen Therapien leicht umsetzen kannst, und verrät dir auch, worauf du dabei achten solltest.

 

Gummibärchen

Als Kind wurde ich zum Einkauf geschickt, wenn bei uns zu Hause das Geld knapp wurde. Ich musste anschreiben lassen. Eines Tages begann unser alter Tante Emma Laden sich in einen Supermarkt zu verwandeln. Erste Veränderung war eine runde kleine Gondel mit lauter Süßigkeiten. Wie genau es geschah, wusste ich nicht, aber plötzlich hatte ich eine Tüte mit Süßigkeiten in der Hand – und in der Hosentasche. In mein Herzklopfen hinein hörte ich die schrille Stimme eines anderen kleinen Mädchens sagen: „Die hat gerade eine Tüte Gummibärchen geklaut!“ Jetzt schien mein Herz ganz auszusetzen und ich dachte an die Strafe, die zu Hause erfolgen würde. Dann erklang die ruhige Stimme von Frau Breuer, einer Verkäuferin: „Das ist Angelika, die tut so etwas nicht!“ Mein Herz beruhigte sich – und ich legte die Gummibärchen zurück, sie hätten mir sowieso nicht mehr geschmeckt.

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Manchen Patientinnen geht es nicht schnell genug. Dass Veränderungen ihre Zeit dauern, macht sie ungeduldig. Da hilft auch die Metapher nicht, die ich von einem meiner eigenen Therapeuten übernommen habe. Er sagte zu mir, wenn es mir zu lange dauerte: „Ja, eine Therapie ist kein Hanomag!“ Vielleicht wissen viele gar nicht mehr, was ein Hanomag ist, weil es diese Firma gar nicht mehr gibt. Sie produzierte starke Bau- und Nutzfahrzeuge, mit denen man alle schwierigen Wege meistern konnte. Solche und andere Geschichten erzähle ich oft in den Sitzungen. Die Patientinnen sind dann für einen Augenblick interessiert – und ihre oft heftigen Gefühle treten in den Hintergrund. Für mich ist das immer ein Zeichen dafür, dass wir uns nicht von unseren Gefühlen beherrschen lassen müssen. Aber das ist ein anderes Thema.

Geschichten von Rettung und Dankbarkeit

Was hat nun die Geschichte über die entwendeten Gummibärchen mit unserem Thema zu tun? Sie stammt aus einem Ordner in meinem PC, der den Titel trägt „Wie ich viele Male gerettet wurde“. Darin habe ich Geschichten gesammelt, in denen mir Menschen geholfen haben, glücklich aus einer schwierigen, gefährlichen oder bedrohlichen Situation herauszukommen.

Solche „Geschichten der Rettung“ zu sammeln, kann für verschiedene therapeutische Prozesse sehr unterstützend sein. Ich empfehle es zum Beispiel Patientinnen, die sich vom Leben ungerecht behandelt und als Opfer fühlen. Auch Prozesse von Versöhnung mit kränkenden, ja sogar mit gewalttätigen Eltern können so unterstützt werden. Meine Frage dazu ist: „Haben Sie denn nie etwas Positives mit Ihrem Vater erlebt?“ Manche, vor allem traumatisierte Patienten müssen lange nachdenken. Fällt ihnen aber eine noch so kleine Situation ein, ist die Tür geöffnet. So erzählte zum Beispiel Frau H., die einen sehr cholerischen Vater hatte, nach langem Überlegen: „Doch! Einmal war ich sehr krank und habe mir gewünscht, etwas vorgelesen zu bekommen. Da ist mein Vater in die Stadt gefahren, hat ein Märchenbuch gekauft und mir nach der Arbeit etwas vorgelesen.“

Wie aus dem obigen Beispiel mit den Gummibärchen hervorgeht, können solche Retter auch andere Menschen als die Eltern sein, Großeltern, Nachbarn, oder auch ganz Fremde.

Manchmal wird bei solchen Geschichten die eigentliche Rettung erst im Nachhinein deutlich, wie zum Beispiel diese: Frau M. war sehr traurig darüber, ihre Freunde wegen einer Erkältung nicht ins Konzert ihres Lieblingssängers begleiten zu können. Die Anreise hätte drei Stunden gedauert. Leider gerieten die Freunde in einen Stau und haben so das Konzert auch verpasst.

So ergeben sich viele Geschichten aus Erlebnissen, die ursprünglich schmerzhaft waren, und die dann später sinnvoll und positiv erscheinen, wie zum Beispiel die Trennung von einem Freund – um ein Jahr später dem Mann fürs Leben begegnen zu können.

Tagebuch der Freuden

Diese „Geschichten der Rettung“ aufzuschreiben, fällt manchen Patientinnen leichter als das sogenannte Freudentagebuch zu schreiben, das in der Traumatherapie oft empfohlen wird. Nachdem ich einige Male erlebt habe, dass diese Übung abgebrochen wurden, obwohl die weitere Beschäftigung damit vereinbart war, habe ich intensiv nachgefragt, warum das so sei und habe folgende wichtige Antworten bekommen:

  1. Ich kann das Gefühl nicht wirklich fühlen, nur mein Kopf sagt mir, dass das wohl etwas Schönes war, was ich da gesehen/erlebt habe.
  2. Ich habe das Gefühl, das Kind von damals zu verraten, wenn ich mich heute freue.

Geschichten der Rettung stärken das innere verlassene oder traurige Kind vor allem, wenn sie ihm in der schweren Zeit geschehen sind. Ein Gefühl wird gestärkt, das da lautet: „Es hat auch etwas Gutes in meiner Kindheit gegeben, sonst hätte ich sie ja nicht überlebt.“ Danach ist es „erlaubter“, sich auch heute zu freuen. Hier setzt der Sinn des Freudetagebuches ein.

Unterstützende Rituale

Zu dieser Technik des Tagebuchschreibens gehört zur Unterstützung ein Ritual, das die Patientin selbst entwirft und bei dem sie sich wohl und geborgen fühlt. Der Klassiker sieht so aus: Finde ein kuscheliges Plätzchen, an dem du nicht gestört bist, schaffe eine friedliche, entspannte Atmosphäre, mit Musik, Kerzen, Tee... Es gehören ein schönes Buch und ein schöner Stift dazu, vielleicht eine kleine Atemübung vor dem Schreiben. Das Buch darf auch illustriert werden. Vor allem braucht es einen festen Platz im Tagesablauf, zum Beispiel immer vor dem Zähneputzen am Abend. Am besten ist es, die Therapeutin hilft bei der Entwicklung dieses Rituals, ohne viele Vorgaben zu machen.

Das Ritual zum Aufschreiben der Freuden, die dieser Tag gebracht hat, hat einen sehr heilsamen Nebeneffekt: Die Patientin entwickelt ein Gefühl der Selbstfürsorge, wird also in ihrem Autonomiewunsch gestärkt. Gleichzeitig kann eine positive Selbstwirksamkeitserwartung wachsen.

In der Therapie ist es zur Aufrechterhaltung der Motivation nötig, immer wieder auf dieses Buch zurückzugreifen, sich einzelne Szenen genauer beschreiben zu lassen – und sich mitzufreuen!

Geschichte meiner Gefühle

Wenn es immer noch schwer bleibt, Freude zu finden und zu fühlen, hilft vielleicht ein anderes Geschichtenbuch. In dem werden Geschichten vom Umgang mit Gefühlen beschrieben, die dazu führten, dass eben diese Gefühle verdrängt oder sogar abgespalten werden mussten. Das geschah nach einer Reihe von Enttäuschungen, Zurückweisungen von oder sogar Strafen für Gefühle.

Dass eine Strafe auf einen Wutausbruch erfolgt, ist vielen Menschen aus ihrer Kindheit geläufig. Gleiches kann aber auch mit der Freude geschehen, wenn Versprechen nicht eingelöst werden, eine freudevolles Spiel unterbrochen wird mit der Aufforderung, etwas Sinnvolles zu tun oder Geschenke missachtet werden. So erzählte mir eine Patientin, sie habe für ihre Mutter, die Märchen sehr liebte, selbst ein Märchen erfunden und es in ihrer schönsten Schrift aufgeschrieben. Die Mutter las es durch und sagte: „Sieben Rechtschreibfehler auf drei Seiten sind aber viel!“

Auf diese Weise aufdeckend zu arbeiten, kann bei Menschen mit Hemmungen im Affektausdruck sehr hilfreich sein, sollte aber nicht zu lange angewendet werden, um die Gefühle nicht zu sehr zu reaktivieren. Es geht darum, zu verstehen, warum ein Ausdruck von Freude, Angst, Wut oder auch Liebe so schwer fällt. Anschließend kann der Patientin vermittelt werden, dass alle diese Gefühle nicht nur erlaubt, sondern im sozialen Kontext sogar gewünscht sind.

Gedichte

Eine schöne Möglichkeit, Gefühle auszudrücken, ist das Schreiben von Gedichten. Wenn die Patientin mit den obigen Übungen Freude am Schreiben gefunden hat, kann sie hier weitermachen, die Möglichkeiten der Sprache erkennen und entwickeln.

Mit dieser Technik gehe ich folgendermaßen vor: Wenn wir ein Gefühl definiert haben, lasse ich die Patientin assoziieren, Das kann so aussehen: Wut – Heiß – Feuer – Rauch – Wärme – Nacht... Dann kann sie mit dem benannten Gefühl und den gefundenen assoziierten Begriffen kleine Sätze bilden, fertig ist das Gedicht. Am Anfang mag es sich noch holprig anfühlen, doch bald schon kommen wunderbare Texte zustande. Diese Übung eignet sich auch für Gruppen: Es geht um ein Gefühl, jeder Teilnehmer bekommt seinen eigenen Begriff und schreibt einen Satz. Verblüffender Weise entstehen sehr schöne gemeinsame Texte. Das fördert das Zugehörigkeitsgefühl in der Gruppe, die Freude an der Sprache und die Fähigkeit, Gefühle auszudrücken.

Du siehst, der Einsatz von Geschichten und Tagebüchern in der Therapie kann vielfältig ausfallen. Allen gemeinsam ist aber, dass der Patient darin unterstützt wird, den eigenen Gefühlen Raum zu geben, sie zu integrieren oder auszudrücken. Und Spaß machen sie auch. Warum also nicht mal ein bisschen kreativ sein?