Therapie mit hochbegabten Erwachsenen – wie immer oder doch anders?

Eine Hand mit der Fläche nach oben, darüber auf grauem Hintergrund ein Gehirn gezeichnet.

Hochbegabt sein ist mehr als nur ein IQ ≥ 130 - es ist Teil des eigenen Selbstkonzepts und folglich mit der eigenen Lebensgeschichte verbunden. Gerade deshalb sollte in einer Psychotherapie das hochbegabungsspezifische Erleben und Verhalten von Patient:innen sowohl beim Erstellen der Fallkonzeption als auch bei der Therapieplanung und -durchführung angemessen berücksichtigt werden.

Zum Thema „Hochbegabung im Erwachsenenalter“ (im Vgl. zum Kindesalter) erscheinen erfreulicherweise in letzter Zeit immer mehr Beiträge auf diversen Plattformen. Erwachsene rücken nun in den Fokus, schließlich „wächst“ sich eine weit überdurchschnittliche Intelligenz nicht einfach aus. Neben wissenschaftlichen Publikationen finden sich jedoch auch überzogene populärwissenschaftliche Beiträge und vermitteln bedauerlicherweise weiterhin ein stereotypes Bild über hochbegabte Menschen. Vorurteile über Hochbegabte scheinen sich noch immer sehr hartnäckig zu halten (Baudson, 2016). Befinden sich Hochbegabte in Psychotherapie, ist es umso wichtiger, als Therapeut:in den eigenen Wissensstand, aber auch die eigenen Annahmen zu Hochbegabung zu reflektieren, um die Patient:innen angemessen in ihrem Erleben unterstützen zu können. Ein differenzierter Blick lohnt sich! 

Was versteht man unter Hochbegabung? 

Eine Person gilt dann als intellektuell hochbegabt, wenn sie in einem psychologisch evaluierten Intelligenztest einen IQ-Wert ≥ 130 erreicht. Gemäß der Normalverteilung der Intelligenz ist anzunehmen, dass ca. 2% der Bevölkerung hochbegabt und ca. 0,01% höchstbegabt sind, d. h. einen IQ ≥145 aufweisen. Hochbegabt sein bedeutet vor dem Hintergrund der weit überdurchschnittlichen Intelligenz, ein sehr hohes kognitives Potenzial zu besitzen (Preckel & Vock, 2021). Dies manifestiert sich natürlich nicht nur in klassischen Leistungssituationen (verbunden mit schulischem/beruflichem Erfolg), sondern ist übergreifend für die Person mit einem spezifischen Erleben verbunden. Kurzum: Hochbegabte zeigen ein logisch-analytisches Denken, erkennen leicht Muster und Probleme und lösen diese sehr schnell, setzen sich kritisch und tiefgreifend mit Fragen auseinander, betrachten Probleme in ihrer Komplexität, weisen eine hohe Auffassungsgabe, Verarbeitungsgeschwindigkeit, Konzentrationsfähigkeit sowie ein sehr gutes Gedächtnis auf, zeigen eine hohe Kreativität, sind vielfältig interessiert, eigenen sich breites Wissen an, möchten Ideen umsetzen und Neues gestalten, benötigen Freiheit im Denken, suchen Herausforderungen, möchten hohe Ansprüche umsetzen, haben oftmals ein sehr hohes Energielevel sowie intensive Wahrnehmung und Emotionalität (Brackmann, 2012; Heil, 2021a/b; Niehues, 2021). 

Eine Hand hält einen Stift und füllt einen Intelligenztest aus.

Verallgemeinernde Aussagen über den/die „typische“ Hochbegabte respektive regelrechte „Typologien“ sind wenig zielführend und wissenschaftlich auch nicht belegt. Hochbegabte unterscheiden sich nicht qualitativ hinsichtlich sozial-emotionaler Kompetenzen (Neihart et al., 2021) oder persönlichkeitspsychologischer Merkmale (Wirthwein et al., 2019). Auch zeigen sich keine erhöhten Prävalenzen für psychische Störungen (Williams et al., 2022). Einseitigen Mediendarstellungen über Hochbegabte (im Sinne „alle Hochbegabten sind… Nerds, seltsam, autistisch, einsam…“) sollte nicht gefolgt werden. 

Hochbegabung als Teil des Selbstkonzepts 

Hochbegabte setzen sich gemäß ihrer spezifischen „Grundausstattung“ mit sich, anderen und der Welt auseinander und erleben sich im Vergleich zu anderen auf eine bestimmte Weise. Demnach ist die Hochbegabung ein Teil des Selbstkonzepts und eng mit biografischen Lernerfahrungen verbunden (Blut, 2020). Nicht immer berichten hochbegabte Erwachsene, sich offen mit ihrem spezifischen Erleben in allen Lebenskontexten gezeigt zu haben bzw. zeigen zu können (bspw. ungeniert über hervorragende Kompetenzen zu sprechen, sich mit komplexen Ideen und Gedanken oder intensivem Erleben mitzuteilen). Viele haben die Erfahrung gemacht, sich anders als die anderen im unmittelbaren Umfeld oder nicht verstanden zu fühlen, aber auch Reaktionen wie Überforderung oder Neid zu erhalten. Kam es wiederholt im Lebenskontext zu solchen negativen Lernerfahrungen, können sich Selbstkonzeptschemata, wie „Ich bin anders und muss mich anpassen“, „Ich bin zu viel und werde nicht verstanden“ etc., und entsprechende Copingstrategien entwickelt haben, bspw. eigene Kompetenzen herunterzuspielen (Stark, 2024). Dies kann auch zu weiteren Herausforderungen für die Person führen, bspw. unterfordert zu sein oder sich in den eigenen Interessen nicht ausleben zu können.  

Zu berücksichtigen ist zudem, dass einerseits nicht alle heute Erwachsenen um ihre Hochbegabung wissen, da nicht immer im Kindes-/Jugendalter eine Testung erfolgt ist. Für viele kann folglich ein Erklärungsrahmen für eigenes Erleben fehlen. Andererseits hat das Beratungsangebot in den letzten Jahren deutlich zugenommen (s. a. Karg-Stiftung oder Deutsche Gesellschaft für das hochbegabte Kind (DGhK)), sodass vornehmlich jüngere Erwachsene mit dem Label aufgewachsen sind und andere Lernerfahrungen gesammelt haben, bspw. eine besondere Förderung in der Schule erhalten oder vielleicht auch Leistungsdruck verspürt zu haben. 

So oder so ist das hochbegabungsspezifische Erleben und Verhalten eng mit der eigenen Lebensgeschichte verwoben. 

Psychotherapie – wie immer oder doch anders?

Oftmals suchen Patient:innen eine professionelle Anlaufstelle auf, um sich mit der Frage, ob überhaupt eine Hochbegabung vorliegen könnte, auseinanderzusetzen. Andere möchten Hilfestellungen im Umgang mit hochbegabungsspezifischen Herausforderungen. Insbesondere sog. spät erkannte, also erst im Erwachsenenalter getestete, Hochbegabte möchten oftmals sowohl rückblickend die eigenen biografischen Erfahrungen einordnen als auch nach vorne gerichtet sich mit einer Neuausrichtung beschäftigen. Natürlich stellt die eigene Hochbegabung nicht in jedem Fall den expliziten Anlass für eine Psychotherapie dar. Jedoch fühlen sich hochbegabte Patient:innen besser verstanden und sind zufriedener mit der Therapie, wenn die Hochbegabung angemessen einbezogen wird (Heil, 2021a/b).  

Unabhängig vom spezifischen Anlass sollte jedoch – kurz und knapp auf den Punkt gebracht – eine Therapie nicht ohne die angemessene Berücksichtigung des hochbegabungsspezifischen Erlebens bzw. Lernkontextes durchgeführt werden (Heil, 2018; Niehues, 2021; Stark, 2024).  

Eine Schülerin sitzt an ihrem Schulpult und bearbeitet eine Aufgabe, ein Lehrer hilft einer Schülerin hinter ihr.

Dies beginnt bereits bei der Anamneseerhebung, in der die bewertungsfreie Exploration der oben genannten Aspekte und Erfahrungen zielführend erscheint. Ebenso spielt es bei der diagnostischen Einordnung eine wesentliche Rolle. Nicht selten werden hochbegabungsspezifische Merkmale als pathologische Symptome fehlinterpretiert, sodass die Gefahr für Fehldiagnosen steigen kann (Webb et al., 2020). Gerade für das Aufstellen des – unter verhaltenstherapeutischer Perspektive – Funktionalen Bedingungsmodells, also dem Herzstück für das Fallverständnis, erscheint es wesentlich, die biografischen Lernerfahrungen unter einer Hochbegabungsperspektive zu berücksichtigen (Stark, 2024). Würde dies nicht angemessen eingeordnet, können keine passenden Ansatzpunkte für Veränderung, entsprechende Zielklärung und Therapieplanung stattfinden. Auch bei der Gestaltung der therapeutischen Beziehung und Umsetzung der Interventionen empfiehlt es sich, Anpassungen vorzunehmen (Heil, 2018; Niehues, 2021). Hochbegabte Patient:innen möchten – gemäß ihrer „Grundausstattung“ – mitdenken dürfen, sich mitgestaltend in der Therapie einbringen, die Interventionen verstehen, die Probleme in ihrer Komplexität begreifen und nachhaltig verändern. Es hat sich als hilfreich erwiesen, genügend Freiraum einzuräumen, die Therapie besonders transparent zu gestalten und im Austausch mit den Patient:innen die Interventionen zu modifizieren (bspw. weil zwischen zwei Sitzungen bereits selbst viel erarbeitet und vorangebracht wurde).  

Aus der praktischen Erfahrung heraus hat sich gezeigt, dass sich hochbegabte Patient:innen eine maßgeschneiderte Therapie wünschen, in der das eigene Sein wertgeschätzt und erlebbar gemacht wird und sie in ihrer Individualität und Kompetenz bei der Lösung der zugrundeliegenden Probleme unterstützt werden. Gerade der psychotherapeutische Rahmen sollte es ermöglichen, sich mit einem von der „Norm“ abweichenden Erleben (Brackmann, 2020) in den vorhandenen Ressourcen gefördert zu fühlen. 

Zum Weiterlesen:  

(Werbung) Stark, S. (2024). Hochbegabte Erwachsene in der Verhaltenstherapie. Kohlhammer.  

Quellen: 

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