Vom Hirnstuss zum Hirnkuss: Lassen sich hinderliche Glaubenssätze verändern?

Ein junger Mann mit Mütze und in nachdenklicher Pose vor einer Berglandschaft im Hintergrund, blauer Himmel, vom Sonnenlicht beleuchtete Wolken.

„Ich bin nichts wert“ – „Ich muss es allen recht machen“ – Solche Glaubenssätze haben ihren Ursprung in der Biografie und verfestigen sich mit der Zeit. Im Hier und Jetzt können sie zu Blockaden, Stress und anderen Beschwerden führen. Sie „einfach nicht mehr zu denken“ resultiert oft im Gegenteil. Wie kann es gelingen, sich von hinderlichen Glaubenssätzen zu lösen und sich stattdessen danach auszurichten, wohin man im Leben eigentlich möchte? 

Glaubenssätze (oder auch Einstellungen) sind Kopfsache. Sie sind unsere generalisierten Leitprinzipien. Sie bestehen aus Überzeugungen, Einstellungen (über uns, über die Welt, über Veränderungen, Motivation und vieles mehr), Arbeits- und Verhaltensprinzipien sowie Ursache-Wirkungs-Ideen. Sie sind eine Art innere Landkarte, welche wir benutzen, um der Welt Sinn zu geben, und sie bieten uns Stabilität und Kontinuität (vgl. O’Connor/Seymour, 2001, S.137 ff.).

Glaubenssätze sind nicht genetisch festgelegt, sondern sie sind unsere eigenen Konstruktionsleistungen aus den Erlebnissen in Herkunftsfamilie, Kita, Schule, Arbeit, Privatleben und Gesellschaft. Wir entwickeln innere Bilder und Glaubenssätze (Mindsets) dadurch, dass wir unsere Erfahrungen, die wir mit der Welt und unseren Mitmenschen in der Erziehung und Sozialisation gemacht haben, generalisieren. Das heißt, dass wir Verallgemeinerungen ableiten. Wenn wir etwas glauben, verhalten wir uns oft so, als sei es „wahr“. Es gibt förderliche Glaubenssätze (diese nenne ich gerne „Hirnküsse“) und hinderliche Glaubenssätze (die ich ganz wohlwollend „Hirnstuss“ nenne).

Gedanken und Glaubenssätze sind nicht löschbar. Der Versuch, Denk-Konstrukte und Gefühle zu beseitigen, grundlegend zu transformieren oder umzustrukturieren ist wenig erfolgreich. „Unser Nervensystem besitzt keine ,Löschtaste‘ und Gedanken und Erinnerungsprozesse sind viel zu komplex, um sie zu vereinfachen und in Ordner abzulegen“ (Hayes, 2021, S. 30). „Die Psychologie kennt kein ,Verlernen‘“, gibt Hayes an, es könne sogar sein, dass negative Gedanken reaktiviert werden, wenn wir versuchen, sie mit positiven Denk-Konzepten zu bekämpfen (vgl. Hayes, 2021, S.111).

 

Die 7 Facetten der Mindset-Veränderung

In meinem Buch habe ich 7 Facetten der Mindset-Veränderung beschrieben. Die Verwendung des Begriffs „Facetten“ anstelle von „Schritten“ ist angemessener, da alle Aspekte, die hier aufgeführt werden, miteinander in Zusammenhang stehen – es sich also nicht um ein „Schrittprogramm“ handelt.

Ich werde diese Facetten kurz beschreiben und an einigen Stellen konkrete Übungen skizzieren. Ich beschreibe diese Übungen in der direkten Ansprache. Du kannst sie in deinen Therapien oder Coachings übernehmen. Gleichfalls sind beratend Tätige ebenso nicht frei von Glaubenssätzen. Nutz die folgenden Gedanken also gerne auch für deine eigene Selbstreflexion.

Grafische Illustration der 7 Facetten der Mindset-Veränderung in Form eines Sterns

Facette 1: Die drei großen Fragen – Wohin, Wofür und Wer?

Um ein „gewolltes“ statt ein „gesolltes“ Leben zu führen, ist es wichtig, dass wir Menschen wissen, wer wir sind (oder sein wollen), welchen Lebenssinn/Lebenszweck wir verfolgen und welche Ziele und kühnsten Hoffnungen wir verwirklichen möchten. Konkrete Fragen sind also: Wofür lebst du? Was ist dein Lebenssinn/Lebenszweck?  Wohin willst du? Wer bist du?

 

Übung: Der Friedhofsbesuch

Denke vom Ende her! Lebst du ein „gesolltes“ oder „gewolltes“ Leben?

Nimm dir Zeit und gehe auf einen Friedhof. Während du dich dort umschaust, denke über folgende Fragen nach:

  • Wie alt möchte ich noch werden?
  • Was mache ich mit meiner Zeit bis dahin?
  • Wozu bin ich auf der Welt? Was ist der Sinn?
  • Wer bin ich heute und wer will ich am Ende sein?
  • Was darf sich alles noch in meinem Leben verändern?
  • Gern kannst du auch noch weitergehen: Wie sieht deine Beerdigung aus? Wer ist gekommen? Wer hält deine Grabrede und was wird darin über dich erwähnt? Wer wird noch etwas über dich erzählen?

 

Facette 2: Begrenzungen identifizieren oder auch „Suche den Hirnstuss!“

Finde deine Glaubenssätze, die dir oft als „Begrenzer“, „Bremser“ oder „Verbieter“ in die Quere kommen, und frage dich, woher diese stammen!

Das, was ich ganz wohlwollend „Hirnstuss“ nenne, sind Mindsets, Einstellungen, Erwartungen, Vorannahmen, Überzeugungen, Bewertungsmuster, Lebensregeln, Glaubenssätze, Schemen, Projektionen, welche

a) selbstschädlich/hinderlich oder
b) sozialschädlich/beziehungshemmend wirken.

Selbstschädlicher Hirnstuss schadet uns, indem er uns bei der Zielerreichung blockiert, uns Druck und Stress macht etc. und damit einhergehend oft negative Gefühle und Unwohlsein auslöst.

Sozialschädlicher Hirnstuss sind Gedanken, die Beziehungen stören und das soziale Miteinander negativ beeinflussen. Beispiele dafür sind zum einen das Übertragen von eigenen Ansprüchen auf andere Menschen im Sinne von „Man muss das so machen“ oder „Der/die muss das doch genau so sehen wie ich“. Andererseits gehören auch menschenfeindliche Einstellungen zum sozialschädlichen Hirnstuss.

Straßenabsperrung mit orange-weißen Planken und einem weißen Schild, auf dem "ROAD CLOSED" geschrieben steht

Leider sind unsere Köpfe oft voll ungünstiger Denkkonstruktionen und kognitiver Verzerrungen. Hirnstuss sind zum Beispiel solche Aussagen wie:

  • „Das haben wir schon immer so gemacht!“
  • „Ich kann das nicht!“
  • „Ich bin nichts wert.“
  • „Das machen die, um uns zu schaden.“
  • „Erst wenn ich alles perfekt erreicht habe, darf ich mich ausruhen.“
  • „Ich muss es allen recht machen.“
  • „Ich darf mir keine Fehler leisten.“
  • „Man darf keine Schwäche zeigen.“
  • „Man darf nicht Nein sagen!“
  • „Das muss man doch so machen!“
  • „Wenn mein Chef nicht für mich ist, dann ist er gegen mich.“

Wie oft resultieren aus einem derartigen Denken Unwohlsein und Stress, welche sich in diversen Spielformen zeigen: Gereiztheit, Anspannung, erhöhte Fehlerquote, Konzentrationsstörung oder diverse körperliche Beschwerden. Das braucht nun wirklich niemand.

Zur Reflexion eignen sich zahlreiche Modelle und Tools, wie z. B.: Stressverstärkermodell nach Kaluza, Lösungsblockaden nach Bohne, Liste von „kognitiven Verzerrungen“, „Mussturbationen“ oder „irrationalen Einstellungen“ aus der Verhaltenstherapie (Ellis, Beck u. a.) u.v.m.

Ebenso ist ein Blick in die eigene Herkunftsfamilie und der Familienregeln eine Fundgrube für hinderliche Glaubensätze.

 

Facette 3: Würdigung und Ressourcen

Würdige deine Glaubenssätze! Finde positive Soundeffekte, Gegenspieler sowie Ressourcen, die auch in deinem inneren Team vorhanden sind!

Neben den hinderlichen Glaubenssätzen gibt es im inneren und äußeren Team sicher auch Gegenspieler und Unterstützendes für eine Veränderung, welche es zu ergründen gilt. Ebenso sind die „guten Gründe“ des hinderlichen Denkmusters zu würdigen. Methoden dafür sind z. B. das innere Team, Systembrettarbeit, Ressourcenlandkarten u.v.m.

 

Facette 4: Disputation, Transformation und Defusion

Mache einen „Realitätscheck“ und überprüfe die hinderlichen Gedanken nach ihrer Gültig- und Nützlichkeit! Dazu können wir den Sokratischen Dialog anwenden bzw. andere Fragestellungen nutzen, um den hinderlichen Gedanken kritisch zu überprüfen (Disputation).

Eine zweite Möglichkeit ist eine Transformation des hinderlichen Gedankens. Aus einem hinderlichen Satz kann z. B. ein Erlaubnissatz abgeleitet werden. Dazu gibt es viele Tools, die zur „Umwandlung“ genutzt werden können (z. B. Glaubenspolaritätsaufstellung, Verflüssigung der Irrationalität, Annika-Pippi-Strategie).

Die dritte Möglichkeit besteht darin, den Gedanken (geht auch bei Gefühlen) ein anders Gewicht zu geben. Dafür folgende Übung:

 

Übung: Schalte den Autopiloten ab!

Gehe raus aus der Verkettung von Gedanken und Verhalten. Die Akzeptanz- und Commitment-Therapie (ACT) unterscheidet zwei verschiedene Haltungen, die wir hinsichtlich unserer Gedanken beziehungsweise inneren Bilder einnehmen können: Fusion und Defusion. Im Zustand der Fusion sind wir mit schwierigen Gedanken und Gefühlen wie „festgebunden“ und unfrei. Diese Fusion besteht zum Beispiel hinsichtlich der Vergangenheit oder Zukunft, des eigenen Selbstbildes, Regularien, Begründungen und Beurteilungen/Bewertungen. Durch Defusion lösen wir uns aus dem Knoten und werden frei, das zu tun, was uns wirklich wichtig ist.

Man sieht die Hände einer älteren Person in gelbem Pullover, die eine grüne Kordel in den Händen hält und einen Knoten entwirrt.

Bei der ACT geht es weniger um die Veränderung von Gedanken, sondern eher um Akzeptanz und Defusion. Akzeptanz bezieht sich auf die Fähigkeit, sich den eigenen inneren Reaktionen (Gefühlen, Gedanken, Impulsen, körperlichen Reaktionen) gegenüber zu öffnen und sie so anzunehmen, wie sie sind, anstatt sie vermeiden, loswerden oder verändern zu wollen. Vielleicht lässt du dich von einer kleinen Übung aus dem Youtube-Video „ACTitude“ inspirieren, wie du mit drei Schritten deine kognitive Defusion einleiten kannst:

  • Erster Schritt: Gedanken wahrnehmen (zum Beispiel: „Ich schaffe das nicht!“)
  • Zweiter Schritt: Gedanken benennen (zum Beispiel: Ich habe den Gedanken „Ich schaffe das nicht!“. Hier erfolgt eine erste Distanzierung von „ich bin“ zu „ich habe“.)
  • Dritter Schritt: Gedanken beobachten (zum Beispiel: „Ich bemerke, dass ich den Gedanken habe, dass ich das nicht schaffe“. Hier erfolgt eine noch weitere Distanzierung vom Gedanken aus der Vogelperspektive.)

 

Facette 5: Hirnküsse und Mottoziele (er)finden

Hirnküsse sind Mindsets, Einstellungen, Glaubenssätze, Denkmuster, Modelle, Leitsätze, Vorannahmen, Konstruktionen, Lebensregeln, Gesetzmäßigkeiten, Mottoziele und Erlaubnissätze,

a) die uns Orientierung und Sinn geben,
b) Wahlmöglichkeiten erweitern, neue Verhaltensmuster eröffnen, Potenziale entfalten und
c) das eigene und soziale Wohlbefinden steigern.

Es geht darum, eigene Ziele zu entwickeln, die an unsere eigenen Werten („gewolltes Leben“) gekoppelt sind. Dazu gibt es ebenfalls zahlreiche Tools, die uns einladen, Ziele zu formulieren, wie z. B. Mottoziele (Storch), die fünf Freiheiten (Satir), die Orientierung an den Kernbedürfnissen (Witzleben).

Eine Person sitzt auf dem Boden und breitet eine Weltkarte aus Papier aus.

Übung: Selbstverpflichtung

Stelle eine Selbstverpflichtung mit dir her. Nachdem du dir dein gewolltes Leben ausgemalt hast und in den weiteren Facetten deinen hinderlichen Gedanken auf die Spur gekommen bist:

  • Was sind deine bisherigen Schlüsse?
  • Was sind deine Werte, die du verstärkt leben möchtest?
  • Welche Bedürfnisse sollen in den Vordergrund geraten?
  • Welches Ziel steht an?
  • Was möchtest du anders denken und fühlen?
  • Welche konkreten Verhaltensweisen, an deinen eigenen Werten und Zielen ausgerichtet, möchtest du zeigen?

Überprüfe deinen Hirnkuss auf die Praxistauglichkeit:

  • Besteht eine hohe Motivation, eine Selbstverpflichtung einzugehen, um den Hirnkuss/das Mottoziel in die Zukunft zu übertragen?
  • Beschreibt mein Hirnkuss den Anfang (und nicht das Ende) von etwas?
  • Liegt der Hirnkuss in der eigenen Verantwortung?
  • Gibt es eine klare Erlaubnis (und kein Verbot, keine Negationen) für etwas? Beginnt der Hirnkuss mit „Ich darf …“ oder „Ich erlaube mir…“ oder „Ich bin ...“?
  • Ist mein Hirnkuss konkret genug? Kann ich (und mein Körper) damit etwas anfangen?
  • Löst der Hirnkuss ein positives körperliches Signal (ein „Go!“) bei mir aus?
  • Ist er so kurz und prägnant wie möglich?
  • Ist es möglich, ihn flüssig zu sprechen und vielleicht sogar zu singen?

 

Facette 5: Verkörperung und Perspektive

Erarbeite eine »wundersame Perspektive« und »verkörpere« deinen Hirnkuss!

Es ist nützlich, sich auszumalen, wie die neue Zukunft aussieht. Mit der Idee der Wunderfrage (De Shazer) können wir uns in die Zukunft hineinversetzen.

Wir können unser äußeres Verhalten und auch unser inneres Erleben beschreiben. Mit verschiedenen Tools können wir dies visualisieren. Möglichkeiten dafür sind z. B. das Somatogramm (Storch) oder eine Körperarbeit. Das heißt, wir nehmen eine körperliche Haltung wie im Zielzustand ein (Gestik, Mimik, Atmung etc.).

 

Facette 6: Verankern und WOOPen

Hier geht es darum, sich Erinnerungshilfen zu suchen, um eine Verankerung der neuen Hirnküsse oder Mottoziele im Alltag zu ermöglichen.

 

Übung: Reflektiere regelmäßig

Nutze jeden Abend deine Hand zur Reflexion des Tages. Ich selbst möchte auf diese Übung nicht mehr verzichten. Gehe Finger für Finger durch, berühre die Finger und stelle dir die jeweilige unten abgebildete Frage (die Frage zum kleinen Finger ist mir persönlich am liebsten).

Reflexions-Methode anhand der 5 Finger

Überlege dir ebenso Strategien für den Umgang mit Hindernissen. Dazu gibt es ebenso zahlreiche Konzepte, wie z. B. Kraftfeldanalyse (Lewin), WOOP (Oettingen) oder das Wunderrad (Storch).

Nützlich ist, einen Plan zu haben, wie du in schwierigen Situationen an deinen Zielen festhalten kannst.

 

Zum Weiterlesen:

[Werbung] Küchler, Tom (2023). Hirngeküsst: Nützliche Tools zur Veränderung von inneren Bildern, Mindsets und Glaubenssätzen. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht.

 

Literatur

Hayes, Steven C. (2021). Kurswechsel im Kopf. Von der Kunst anzunehmen, was ist, und innerlich frei zu werden. Weinheim: BELTZ.

Küchler, Tom (2016). Veränderung muss S.E.X.Y. sein! Lösungsorientierte Anregungen für das (Selbst-) Management von Veränderungen. Dortmund: verlag modernes lernen.

Küchler, Tom (2023). Hirngeküsst: Nützliche Tools zur Veränderung von inneren Bildern, Mindsets und Glaubenssätzen. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht.

O’Connor, Joseph & Seymour, John (2001). Neurolinguistisches Programmieren: Gelungene Kommunikation und persönliche Entfaltung. Kirchzarten bei Freiburg: VAK.

Oettingen, Gabriele (2017). Die Psychologie des Gelingens. München: Droemer.

Storch, Maja & Kuhl, Julius (2017): Die Kraft aus dem Selbst. Sieben PsychoGyms für das Unbewusste. Göttingen: Hogrefe.