Wenn Heimweh psychisch krank macht

„Ich lebe in meiner Traumstadt und sollte doch glücklich sein?!“ Ob Studium oder Job: viele Menschen ziehen weg. Wo die gewohnte Umgebung wegfällt, ist Heimweh eine natürliche Reaktion. Manchmal entstehen jedoch ein hoher Leidensdruck und psychische Symptome, die ernst zu nehmen sind. Wie du Heimweh in der psychothera­peutischen Behandlung berücksichtigst.

„Sei nicht so ein Baby. Du wolltest das doch!“ Wenn Erwachsene über Heimweh sprechen, wird ihnen in erster Linie nicht viel Empathie und Verständnis entgegengebracht. Heimweh sei etwas für Kinder. Wenn die erwachsene Person den Umzug auch noch selbst gewählt hat, „müsse es ihr doch gut gehen“ oder „sie solle einfach wieder nach Hause kommen“.

Mobilität hat viele wunderbare Seiten: wir wechseln die Sprache, die Kultur und unser soziales Umfeld. Allerdings verlieren wir dabei gleichzeitig auch viel Vertrautes, wie den schnellen Rückgriff auf ein soziales Netzwerk und die gewohnte Struktur. Das Ankommen in einem unbekannten Land oder in einer fremden Stadt, kein soziales Netzwerk und unter Umständen auch mangelnde Sprachkenntnisse sind enorme Herausforderungen. Wo gehe ich zum Bäcker? Wie komme ich zu einem Bankkonto? Wie sind die neuen Kolleg*innen? Wie komme ich in die Arbeit? Das alles sind Fragen, die sich stellen. Heimweh ist die Sehnsucht in der Fremde, wieder in der Heimat und bei der Familie und Freund*innen zu sein.

“You’re not literally just missing your house. You’re missing what’s normal, what is routine, the larger sense of social space, because those are the things that help us survive,”, so der klinische Psychologe Dr. Josh Klapow über Heimweh in einem Interview (siehe CNN).

Heimweh kann schwierig nachzuvollziehen sein

Ich kann mich an meine eigenen Erfahrungen erinnern, als ich (nicht zum ersten Mal) das Land gewechselt habe. Damals war es Bordeaux in Frankreich. Ich bekam eine interessante Stelle an der Universität als Lektorin angeboten. Als ich mich in einem Sportklub einschreiben wollte, teilte mir der Trainer mit, dass ich einen Monat gratis bekäme, wenn ich ein*e Freund*in empfehle. Ich kannte aber niemanden, absolut niemanden, was er mir nicht glaubte. „Eine Person werden Sie doch wohl kennen, Sie sind ja sicherlich nicht ganz alleine hier!“, meinte er darauf. Doch das war ich  und es fühlte sich aufregend, aber auch schrecklich an. Eine gewisse Scham gesellte sich zu dieser Aussage. Was der wohl von mir denken mag?

Dies ist nur eine von vielen Facetten, die zum Ausdruck bringt, wie schwierig es oft für Menschen aus einem monokulturellen System ist, solche Erfahrungen nachzuvollziehen.

Der Leidensdruck führt zu unterschiedlichen Symptomen

Menschen leben aus vielen unterschiedlichen Gründen im Ausland oder in einer ihnen fremden Stadt: ob es die Arbeit, das Studium, die Partnerschaft mit einem Menschen aus einem anderen Land oder die Flucht ist.

Heimweh ist zunächst eine natürliche Antwort auf den Verlust des Gewohnten. Es kann Zeit brauchen, bis wir uns in einem anderen Land eingewöhnt und diesen Verlust bewältigt haben. In der Regel legt sich die Symptomatik mit der Zeit bzw. wird milder.

Manchmal entsteht jedoch ein Leidensdruck, der sich in psychischer Symptomatik zeigen kann und ernst zu nehmen ist. Panikattacken, Ängste, ausgeprägte Gefühle der Einsamkeit, Appetitverlust, Konzentrations­schwierig­keiten, Gefühl der Hilflosigkeit, Selbstwertverlust, Motivations­verlust und sozialer Rückzug, Stimmungs­schwankungen und Verzweiflung sind gängige Symptome bei Heimweh.

Die primären Auswirkungen von Heimweh können der Symptomatik einer Depression ähneln, unterscheiden sich aber in ihrer Herkunft.

Heimweh sollte therapeutisch berücksichtigt werden

Bei der psychotherapeutischen Arbeit mit Menschen, die nicht in ihrer Heimat leben wollen oder können, gilt es diesen Aspekt des Heimwehs im Hinblick auf die Symptomatik und Behandlung immer mitzudenken.

Eine Patientin, die ein Erasmusjahr in Barcelona begann, bekam kurz nach ihrem Umzug regelmäßig Panikattacken und dachte monatelang, dass sie einen Herzinfarkt bekäme oder an einer Herzkrankheit litt. Im Zuge unserer Arbeit und körperlichen Abklärung verstand sie den Zusammenhang zwischen ihren Symptomen und dem Heimweh, der nicht integriert werden konnte. Ihr Selbstkonzept ließ die Möglichkeit, mit der Symptomatik des Heimwehs auf die Erfahrung im Ausland zu reagieren, nicht zu. Sie versuchte monatelang andere Gründe für ihre Panikattacken zu finden. Diese Gefühle widersprachen sich zu sehr. „Ich sollte doch glücklich und zufrieden sein. Ich bin doch in Barcelona auf Erasmus.“

Erst als sie diesen Zusammenhang bewertungsfrei verstehen konnte, war ihr ein Verständnis und emphatisches Verhalten sich selbst gegenüber möglich. Die Scham über das empfundene „Versagen“ war monatelang im Vordergrund. Das empathische Verstehen bedeutete in ihrem Fall den Abbruch des Auslandssemesters. Die Panikattacken verschwanden nachdem sie diese Entscheidung getroffen hatte.

Es ist nicht allen Menschen möglich, gut weit weg von zu Hause zu leben. Dies gilt es zu erkennen und falls möglich danach zu handeln, wenn es diesen Handlungsspielraum gibt.

Dauer und Qualität von Heimweh kann stark variieren 

Die Zeit, die wir brauchen, um uns an ein neues Umfeld, eine neue Sprache, einen Ort ohne soziales Umfeld zu gewöhnen, variiert beträchtlich und hängt von vielen unterschiedlichen Faktoren und Erfahrungen ab.

Bei längeren Auslandaufenthalten kann z. B. Schuld entstehen, sich nicht ausreichend um die alternden Eltern und Daheimgebliebenen kümmern zu können. Eine Patientin, die seit Jahren in Peru arbeitete und alternde Eltern in Europa hatte, entwickelte eine mittelgradige Depression aufgrund des inneren Konflikts. Die Ansprüche an sich selbst als liebende Tochter und der Wunsch nach Selbstverwirklichungen im Beruf ließen sich nicht vereinbaren.

Unterstütze deine Patient*innen im Umgang mit Heimweh 

Wichtig ist es, die individuelle Dauer und Qualität der Symptomatik in der Therapie ernst zu nehmen und deine Patient*innen bei der Entwicklung von Strategien zu unterstützen: 

  1. Mache deinen Patient*innen bewusst, dass es Zeit braucht, sich an das neue Umfeld zu gewöhnen.

  1. Ermutige sie, sich aktiv ein neues soziales Netzwerk aufzubauen.

  1. Unterstütze sie dabei, neue Routinen zu entwickeln oder alte Routinen aufrecht zu erhalten

  1. Kläre sie psychoedukativ über die Symptome des Heimwehs auf und sprich mit ihnen über die Schuld und Ambivalenz, die die meisten begleitet.

  1. Ermutige sie mit Familie und Freund*innen zu Hause in Kontakt zu bleiben und über ihre Gefühle zu sprechen.

  1. Verstehe mit ihnen gemeinsam, was genau ihnen fehlt und so Gefühle des Mangels verursacht.

  1. Ermutige sie, sich sportlich zu betätigen. Erstens ist es eine gute Möglichkeit, neue Menschen zu treffen, und zweitens gilt Sport bei depressiven Episoden als wirksames Therapeutikum.

Baskettballspieler

Eine Patientin, die ein Auslandsjahr in den Niederlanden gemacht hatte, kontaktierte mich ebenfalls auf Grund ihres starken Heimwehs. Sie litt unter massiven Schlafstörungen, zog sich sozial stark zurück, hatte Konzentrations­­schwierigkeiten und fühlte sich sehr einsam. Gemeinsam erarbeiteten wir einen Plan und besprachen gleichzeitig die Möglichkeit eines Abbruches.

Es fiel ihr anfangs sehr schwer, aber sie schrieb sich in einem Volleyball­­verein ein, wo sie relativ schnell Anschluss fand. Wir arbeiteten an Routinen, die ihr als Orientierung halfen. Jede Woche nahm sie sich vor, eine Sehenswürdigkeit zu erkunden. In der Therapie thematisierten wir das Gefühl der Schuld, da sie dein Eindruck hatte, dankbar und glücklich sein zu müssen für die Gelegenheit, die sich ihr bot. Das Gefühl des Heimwehs und die Ambivalenz durften keinen Platz haben, nicht symbolisiert werden und verstärkten dadurch die Symptomatik. Im Laufe der psychoedukativen Aufklärung verstand sie (nicht nur rational sondern auch emotional), dass ihr Heimweh eine natürliche Reaktion war, welche Anerkennung und Zeit benötigte.

Die erarbeiteten Strategien gaben der Patientin Sicherheit und sie beendete ihr Studienjahr erfolgreich. Ihre Symptome reduzierten sich zusehends und sie berichtete sogar von einer gewissen Traurigkeit über das Ende ihres Aufenthalts als es für sie wieder zurück nach Hause ging.