Dissoziation bei Kindern: Von Räuberhöhlen und dunklen Verstecken

Ein Mädchen schaut unter einer Decke hervor.

In Beratung und Therapie begegnen uns Kinder mit ihrem Kummer und ihren Problemen. Eine bemerkenswerte Fähigkeit zur Bewältigung von Herausforderungen ist die Dissoziation. Wenn wir uns mit der menschlichen, körpereigenen Fähigkeit zur Dissoziation vertraut machen, können wir Kinder und Familien ressourcenorientiert bei Konflikten und in der Emotionsregulation unterstützen.

Fachkräfte aus therapeutischen Feldern verbinden dissoziative Phänomene in erster Linie mit traumatischen oder stark belastenden Erlebnissen und ihren Folgen. Wenn Dissoziation aufgrund von massiven Überforderungen oder Grenzüberschreitungen für ein Kind zum Dauerzustand wird, kann dies die Entwicklung gefährden und psychotherapeutische Unterstützung ist notwendig. Als Fachkräfte sollten wir auch Alltagsdissoziationen erkennen lernen. Manchmal dissoziieren Kinder beispielsweise bei Geschwisterstreit oder wenn Eltern schimpfen. Die Dissoziation ist eine wichtige und natürliche Fähigkeit.

Um zu verstehen, was Dissoziation eigentlich ist, möchte ich zunächst ein ganz grundlegendes Prinzip benennen: Wir versuchen fortwährend, unser inneres Gleichgewicht zu erhalten bzw. wieder herzustellen.

Stelle dir folgende Familienszene vor: Am Morgen nach dem Aufstehen gähnt die fünfjährige Paula erst einmal herzhaft und räkelt sich ausgiebig. Sie begrüßt die Kuscheltiere in ihrem Bett, was ihr erste Orientierung am Morgen und ein Gefühl von Sicherheit vermittelt. Dann läuft sie zu ihrem Papa ins Badezimmer und streckt die Arme nach ihm aus, weil sie für das Ankommen im Tag eine Kuscheleinheit gebrauchen kann. Paulas Papa nimmt sie auf den Arm und schließt das Fenster. Die frische Morgenluft hat ihm gutgetan und ihm dabei geholfen, munter zu werden. Alle Familienmitglieder sind hungrig, daher wird gefrühstückt. Die Erwachsenen trinken einen warmen Tee, um sich für die ersten Aufgaben des Tages zu stärken. Paula isst ein paar Löffel von ihrem Müsli und als ihr Hunger gestillt ist, beginnt sie, auf dem Stuhl hin und her zu rutschen. Sie ist nun aktiv und braucht Bewegung. Schließlich springt sie vom Stuhl und flitzt durch das Esszimmer. Dies hilft ihr dabei, ihr Aktivitätslevel zu regulieren. Paulas Eltern sprechen die Planung für den Tag durch, so dass Zuständigkeiten sinnvoll verteilt werden können.

 

Modus 1: Die Suche nach dem inneren Gleichgewicht

Das Beispiel zeigt, dass sich unser inneres Gleichgewicht häufig durch kleinere Maßnahme erhalten oder wiederherstellen lässt. Je größer die Fähigkeit zur Wahrnehmung eigener innerer Zustände dabei ist, desto besser gelingt es einem Menschen in Balance zu bleiben.

Wenn Kinder und Erwachsene in ihrem Gleichgewicht sind,

  • fühlen sie sich wohl,
  • atmen sie in den Bauch,
  • ist ihr Hormonhaushalt ausgeglichen,
  • können sie sich auf eine Sache konzentrieren,
  • sind sie offen für neue Erfahrungen,
  • können sie sprechen und anderen Menschen zuhören,
  • können sie in Konfliktsituationen selbstbewusst verhandeln,
  • fallen ihnen Lösungen für Probleme ein.

Auf der Ebene unseres Nervensystems dominiert in einem solchen „Gleichgewichtszustand“ der ventrale Vagus.

 

Modus 2: Der Stress-Modus

Nun läuft aber im Alltag nicht alles so rund. Wenn Kinder und Erwachsene vor einer Herausforderung stehen, bei der ihr Stress­level steigt, ist in ihrem Körper einiges los. Das sympathische Nervensystem steigert seine Aktivität und stellt Energie bereit, damit die Situation bewältigt werden kann. Manchmal kämpfen wir um eine Sache, wenn wir uns unterlegen fühlen. Und wenn wir zu der Einschätzung kommen, dass die Situation „eine Nummer zu groß ist“, laufen wir lieber davon. Im Alltag können wir zum Beispiel beobachten, dass Kinder ihre Geschwister oder Freund:innen in einer Konfliktsituation hauen oder treten und dass es ihnen hinterher oft sehr leidtut. Oder wir Erwachsene pflaumen unsere:n Partner:in in einer schroffen Weise an, die uns selbst gar nicht gefällt. Die bereitgestellte Energie in sinnvoller und verträglicher Weise zu nutzen, ist ein Prozess, den zu steuern wir Menschen ein Leben lang üben. Kinder tun dies im besten Fall mit geduldiger Unterstützung von ihren Bezugspersonen.

Eine Mutter hat den Arm um ihre Tochter gelegt, die in eine Decke eingehült ist und an einer Tasse Tee nippt.

Modus 3: Die Notfallstufe Dissoziation

Manchmal stehen wir vor Herausforderungen, die wir mit den uns aktuell zur Verfügung stehenden Möglichkeiten nicht bewältigen können. Wenn es nicht möglich ist, eine Herausforderung mit den Modi 1 und 2 zu lösen, dann gibt es noch eine Notfall-Stufe. Diese nutzen Kinder und Erwachsene, wenn sie sich überfordert fühlen und es darum geht, eine (schmerzvolle) Situation zu überstehen. Hier sprechen wir von „Dissoziation“.

Am Abend sitzen Paula und ihre Eltern wieder gemeinsam am Esstisch. Die Eltern sind müde. Paulas Eltern fangen über ein Missverständnis an zu streiten, wodurch Paulas Anspannung steigt. Wie schon am Morgen springt sie auf und flitzt durchs Wohnzimmer. Da ihre Eltern gerade außerhalb ihres inneren Wohlfühlbereichs sind, erleben sie den Lärm durch Paulas Rennen aber als unangenehm und haben in dieser Situation kein Verständnis für Paula. Paulas Papa fordert Paula auf, sich wieder hinzusetzen. Als Paula dies nicht tut, schreit Paulas Mutter sie an. Paula ist mit der Situation überfordert, sie kriecht unter die Decke auf dem Sofa. Innerlich zieht sie sich zurück.

Dissoziation ist so etwas wie eine innere Pause, wenn „es zu viel wird“. Alle Menschen dissoziieren, nur eben unterschiedlich häufig und stark. Dissoziation in ihrer alltäglichen bzw. leichten und zeitlich begrenzten Form kennen die meisten von uns etwa durch das Gefühl „neben sich zu stehen“. Leichte Dissoziation kann sich auch in Erschöpfung oder Alltagsamnesien zeigen, also wenn wir uns nicht mehr an Dinge erinnern, die wir eigentlich wissen. Bei Kindern ist auch das Eintauchen in eine Fantasiewelt mit imaginären Freund:innen eine Form der Dissoziation. Manchmal verstecken sich Kinder unter einer Decke, wenn ihnen „etwas zu viel ist“.

Einerseits kann es hilfreich sein, sich innerlich „wegzuzaubern". Andererseits impliziert Dissoziation die Abspaltung von Gedanken, Gefühlen und Körperempfindungen sowie ein Getrennt-Sein von unseren Mitmenschen.

Wenn Kinder und Erwachsene dissoziieren,

  • fällt der Puls ab,
  • wird ihnen kalt,
  • bewegen sie sich weniger oder nicht mehr,
  • fällt Orientierung schwer,
  • sprechen sie wenig oder gar nicht.

Insbesondere Kinder, die durch die Abhängigkeit von ihren Bezugspersonen besonders verletzlich sind, sollten vor andauernder Überforderung geschützt werden. Es ist die Aufgabe von Erwachsenen, Zeichen von Überforderung bei den Kindern erkennen zu lernen und Unterstützung anzubieten.

Im Folgenden möchte ich dir einige praktische Empfehlungen für die Begleitung von Kindern und Familien mit an die Hand geben:

 

1. Eine offene, dissoziationssensible Haltung kommunizieren

In offener und unaufgeregter Weise über dissoziative Phänomene mit Kindern und Eltern zu sprechen, kann an sich schon eine wertvolle Form der Unterstützung sein. Wir dürfen mit Familien darüber sprechen, dass es ganz normal ist, manchmal nicht mehr weiterzuwissen. Wir können Kindern sagen: „Es gibt ein kleines Versteck in dir drin. Wie eine Höhle oder einen Geheimraum – wie mit einem Vorhang, den du zuziehen kannst. Dort gehst du hin, wenn eine Herausforderung viel zu groß ist. Wenn Toben und Laut sein nichts bringt und Davonlaufen nicht geht.“

Wir dürfen außerdem mit Kindern darüber sprechen, dass auch Erwachsene manchmal so überfordert sind, dass sie sich verstecken. Kindern hilft es, wenn wir nach einer schwierigen Situation Erklärungen anbieten, um Gefühle und Verhaltensweisen einordnen zu lernen. Gerade in der therapeutischen Arbeit können dazu auch Kinderbücher wunderbar genutzt werden. Geschichten können uns erfahren lassen: „Wir sind nicht allein damit!" und die Protagonist:innen in Büchern zeigen, wie ein Umgang mit Herausforderungen aussehen könnte.

Ein junge steht mit dem Rücken an einer Wand und schaut betreten in die Kamera, im Hintergrund sieht man die Eltern streiten.

2. Spielerische Externalisierung von inneren Prozessen

In Geschäften für Sportbedarf gibt es sogenannte „Koordinationsleitern“. Diese Leitern können mit beliebig vielen Sprossen versehen und auf den Boden gelegt werden. Bildlich gesprochen, gehen wir „in den Keller“ oder rutschen auf unserer inneren Leiter nach unten, wenn wir vor Herausforderungen stehen. Du kannst mit Kindern und Erwachsenen auf die Suche nach Auslösern für Gefühle von Überforderung und Hilflosigkeit gehen (Herabsteigen auf der Leiter) sowie nach Ressourcen fürs Hochklettern (z. B. Lieblingsmenschen, stärkende Musik oder Mantren, hilfreiche Formen von Bewegung usw.). Gemeinsam kann dann am Auf und Ab auf der Leiter gearbeitet werden.

Auch können im Therapieraum mit Stühlen, Decken, Kissen und Schaumstoff-Bausteinen Höhlen gebaut werden. Situationen, in denen ein Familienmitglied überfordert reagiert hat, können genutzt werden, um zu schauen: Was bräuchte es, damit man sich aus der Höhle wieder herauswagt?

 

3. Spielerische Förderung der Regulationsfähigkeit

Wie können wir Kinder dabei unterstützen, ihren Körper zu spüren und dessen Regulationskräfte zu nutzen? Und um aus dissoziativen Zuständen immer leichter wieder herauszukommen?

Die Atmung ist ein wertvolles Werkzeug. Wir können gemeinsam mit den Kindern tief einatmen und langsam ausatmen. Eine kindgerechte Anleitung könnte etwa wie folgt lauten: „Stell‘ dir mal vor, hier vor dir steht eine große Torte mit ganz vielen Kerzen drauf, die du alle auspusten möchtest!“

Bewegung nutzen wir häufig intuitiv, um unser Gleichgewicht wiederzufinden. Ge­rade, wenn wir jüngere Kinder aufmerksam beobachten, stellen wir fest, dass sie immer wieder plötzlich vom Esstisch aufstehen und beginnen zu hüpfen oder zu tanzen. Bewegung können wir in Therapiesituationen einbauen. Erwachsene können wir dazu ermuntern, Bewegung bewusst in Familienalltag anzuregen, auch um angespann­te Situation zu Hause zu entspannen. Eine Einladung zur Bewegung an die Kinder könnte zum Beispiel auf diese Weise formuliert werden: „Ich glaube unser Streitmonster schleicht hier herum – lasst es uns fangen!“ Das Streit-Monster kann imaginiert werden oder eine erwachsene Person schlüpft in diese Rolle und schleicht durch den Raum.

 

4. Ins Hier und Jetzt zurückholen

Wenn Klient:innen in der Therapie dissoziieren, sind Fragen ein wichtiges Werkzeug - auch damit wir uns einen Überblick darüber verschaffen können, wo sich ein:e Klient:in innerlich gerade befindet:

  • „Bist du wieder da?“
  • „Wo warst du gerade?“
  • „Was brauchst du, damit du hierbleiben kannst?“
Eine Mutter sitzt auf der Couch und versucht spielerisch, ihre Tochter hervorzulocken, die sich hinter einem Kissen versteckt hat.

Auch der Überraschungseffekt kann genutzt werden, um das Kind wieder ins Hier und Jetzt zu holen, z. B. das Kind mit dem Namen des Haustiers oder Lieblingskuscheltiers ansprechen. Im Nachhinein sollte mit den Kindern darüber gesprochen werden, warum wir einen anderen Namen benutzt haben, in etwa: „Du warst gar nicht mehr richtig da und ich hatte die Idee, dass ich dich hierhin zurückholen kann, wenn ich mir etwas Überraschendes ausdenke, einen Quatsch-Namen oder einen Namen, den du gerne magst, der aber nicht deiner ist… War das ok?"

Um das Sicherheitsgefühl zu stärken, kann Wärme eingesetzt werden; beispielsweise Decken, in die Klient:innen sich einwickeln können.

Paulas Eltern haben vor einigen Monaten eine Elternpaartherapie begonnen. Sie sind mit den Anzeichen von Überforderung bei Kindern und bei ihnen selbst vertraut. Derzeit üben sie, eigene Stressreaktionen immer früher wahrzunehmen. Sie nutzen das Verkriechen von Paula als Hinweissignal dafür, dass die Familie an diesem Abend aus der Balance geraten ist. Paulas Vater öffnet das Fenster und nimmt ein paar tiefe Atemzüge der frischen Abendluft. Paulas Mutter geht ein paar Mal energiegeladen die Treppen auf und ab und nimmt dann einen Schluck Wasser. „Lass uns am Wochenende noch einmal über das Thema sprechen, wenn wir mehr Energie haben!", sagt Paulas Mutter zu ihrem Partner. Kurz darauf setzen sich beide Elternteile mit Paulas Lieblingskuscheltier auf das Sofa und klopfen vorsichtig auf die Decke. Mit verstellter Stimme sagt Paulas Vater: „Hier spricht Fred, deine Kuschelmaus! Ich habe die Lage überprüft, der Streit ist vorbei. Mama und Papa sitzen hier neben dir. Wenn du magst, kannst du aus deinem Versteck herauskommen! Oder darf ich vielleicht zu dir reinkommen?"

 

Zum Weiterlesen:

Kinderbücher:

[Werbung] Julia Schneider & Marlene Monzel (2023). Mona und die magische Gefühlsleiter - Emotionsregulation und körperliche Regulation zauberhaft erklärt. München: Verlag Ernst Reinhard.

Die Geschichte und die bildhaften Darstellungen in diesem psychologischen Kinderbuch helfen Kindern dabei, innere Vorgänge zu verstehen und sich selbst besser spüren zu lernen - entwickelt auf Basis von Polyvagaltheorie und familienpsychologischer Forschung.

 

[Werbung] Maurice Sendak (1967). Wo die wilden Kerle wohnen. Zürich: Diogenes Verlag.

Dieser Kinderbuchklassiker zeigt, wie sich der Junge Max zu Hause missverstanden fühlt und in seiner Fantasie dorthin flüchtet, wo er mit wilden Kerlen seine lebhafte Seite ausleben kann.

 

Für Therapeut:innen:

[Werbung] Daniel Siegel et al. (2020). Gemeinsam leben, gemeinsam wachsen: Wie wir uns selbst besser verstehen und unsere Kinder. Freiburg: Arbor Verlag.

Ein Buch, das für Fachkräfte und Eltern gleichermaßen geeignet ist.

 

[Werbung] Deb Dana (2021). Arbeiten mit der Polyvagal-Theorie: Übungen zur Förderung von Sicherheit und Verbundenheit. Lichtenau: G. P. Probst.

Ein tolles Buch für Praktiker:innen, die die Annahmen der Polyvagaltheorie in ihre therapeutische Arbeit integrieren wollen.

 

[Werbung] Rüdiger Retzlaff (2019). Spiel-Räume: Lehrbuch der systemischen Therapie mit Kindern und Jugendlichen. Stuttgart: Klett-Cotta.

Ein Fachbuch, das eine große Bandbreite an Wegen für die systemische therapeutische Arbeit mit Kindern, Jugendlichen und Eltern vorstellt.