Ein Drehbuch gegen die Angst schreiben: Alptraumtherapie bei Kindern und Jugendlichen
Kinder und Jugendliche leiden oft deutlich häufiger unter Alpträumen als Erwachsene. Verursachen diese zu große Angst, kann eine Alptraumtherapie helfen. Wie du die Imagery Rehearsal Therapie für Kinder und Jugendliche anpasst und ihr in der Therapie „Gruselfilme“ in „langweilige Schlaffilme“ verwandeln könnt.
Alpträume können mit der Imagery Rehearsal Methode effektiv behandelt werden. Doch wie ist das bei Kindern und Jugendlichen? Sie haben potenziell mehr und auch verschiedene Alpträume im Vergleich mit Erwachsenen. Sie treten bereits ab dem frühen Kindesalter auf, sodass eine Alptraumtherapie bei entsprechendem Leidensdruck bereits im Kindergarten und Vorschulalter Anwendung finden könnte und sollte. Anders als jedoch für Erwachsene gibt es für Kinder und Jugendliche bisher hierzu nur wenige, wenn auch vielversprechende wissenschaftliche Untersuchungen (St-Onge, Mercier & De Kornick, 2009; Simard & Nielson, 2009).
Je nach individuellem Entwicklungsalter musst du für die Alptraumbehandlung mit Kindern und Jugendlichen das ursprünglich für Erwachsene entwickelte Vorgehen anpassen. Der Ansatz einer Kurzzeitintervention mit dem Ziel der eigenständigen Anwendung im weiteren Verlauf bleibt bestehen. Grundsätzlich gilt: Je älter ein Kind ist, desto mehr kannst du auf der sprachlich-kognitiven Ebene arbeiten. Dafür kannst du bei jüngeren Kindern häufig auf das explizite Training der Imaginationsfähigkeit verzichten oder diesen Teil zumindest deutlich verkürzen, da sich gerade jüngere Kinder Dinge in der Regel intuitiv bildhaft vorstellen.
IRT altersgerecht erklären
Auch jüngere Kinder haben häufig schon Sorge, dass ihre Alpträume „nicht normal“ sind, darum macht es Sinn, zur Entlastung eine knappe, altersgerechte Erklärung über Alpträume und ihre Beschaffenheit zu geben.
Um zu erläutern, was bei der Alptraumtherapie passiert, bietet sich die Metapher eines Grusel- bzw. Horrorfilmes an, den man verändern will. Zum Beispiel so:
Ziel der Behandlung ist, dass die Alpträume weniger werden. Das kannst du dir so vorstellen, dass der Alptraum wie ein Gruselfilm ist. Am Anfang wähnt man sich in Sicherheit – und plötzlich passiert etwas Schlimmes. Das wäre der Moment, wo einem im Kino das Popcorn runterfallen würde und man anfangen würde zu schreien. Das Problem ist, dass du kein*e Zuschauer*in bist, sondern du bist mittendrin. Darum fühlt sich das auch schlimmer an als im Kino.
Ich würde gern mit dir die Rollen verändern, bisher warst du die Hauptdarstellerin/der Hauptdarsteller und jetzt sollst du in die Rolle des Drehbuchautors beziehungsweise der Regisseurin schlüpfen [hier ggf. vergewissern, ob das Kind weiß, was damit gemeint ist]. Dann haben wir die Möglichkeit, das Drehbuch also die Handlung deines Alptraumes zu verändern. Hättest du Lust, das auszuprobieren? [Zustimmung abwarten]
Ein Problem hat die Sache allerdings: Den neuen Traum wirst du nicht ans Kino verkaufen können, denn er soll ja langweiliger werden, damit man dabei gut schlafen kann. Die Herausforderung ist, dass der neue Traum auf der einen Seite ruhiger und harmloser sein soll als der ursprüngliche Alptraum, sodass du weiterschlafen kannst ohne Angst zu haben. Auf der anderen Seite muss der Traum aber auch noch was mit dem ursprünglichen Alptraum zu tun haben. Wir wollen nämlich den alten gruseligen Traum mit der neuen Traumgeschichte überschreiben, und dafür muss das Gehirn wissen „ach ja, es geht um diesen Traum“. Ich helfe dir dabei, wir machen das zusammen. Das Ziel ist aber, dass du am Ende von der Therapie, wenn noch einmal ein anderer Alptraum auftreten sollte, den Traum (das Drehbuch) selber verändern kannst.
Wie umfangreich die Erklärung ist, hängt zum einen vom Alter des jeweiligen Kindes, aber auch von dessen Wissbegierde ab. Wichtig ist der Hinweis darauf, dass es sich um eine aktive Arbeit handelt, an der das Kind maßgeblich selbst beteiligt ist. Bei Kindern bis ca. zum Ende des Grundschulalters würden auch die Eltern mitgeschult, damit sie das eigenständige Vorgehen unterstützen könnten. Aber auch jüngere Kinder sollten und können die Prinzipien der Alptraummodifikation im Rahmen der Therapie bereits verinnerlichen.
Den Alptraum spielerisch oder visuell rekonstruieren
Auch mit Kindern und Jugendlichen muss der Alptraum zunächst rekonstruiert werden, damit klar wird, wie der Traumhergang war und welche Aspekte ihn zum Alptraum machen. Je jünger die betroffenen Kinder sind, desto mehr empfiehlt es sich, den berichteten Alptraum zu visualisieren, also zum Beispiel zu malen oder auch mit Figuren oder Ähnlichem nachzustellen.
Die Auswahl des Traumes, der modifiziert werden soll, erfolgt nach persönlicher Bedeutsamkeit. Sollte das Kind äußern, dass er zu gruselig/schlimm etc. war und es sich das (noch) nicht zutraut, könnt ihr euch darauf verständigen, mit einem „einfacheren“ Alptraum zu beginnen. Wann immer es mehrere Alpträume gibt, ist es wichtig zu betonen, dass man einen Traum nach dem anderen bearbeitet („ein*e Drehbuchautor*in arbeitet ja schließlich auch nicht an mehreren Drehbüchern gleichzeitig, das gäbe ein ziemliches Durcheinander“).
Für den Alptraumbericht solltest du verschiedene Materialien zur Verfügung stehen haben, aus denen das Kind auswählen kann, z. B. Malstifte, große Papierbögen, Wasser- oder Fingerfarben, Figuren, usw. Bitte das Kind, den Traum – bei komplexeren Träumen den Anfang seines Traumes – darzustellen. Egal welches Medium verwendet wird, sind die Darstellungen in der Regel nicht selbsterklärend, gerade jüngere oder kunstschwächere Kinder verfügen nicht über ausreichendes künstlerisches Geschick, sodass ihr über das erstellte Kunstwerk ins Gespräch kommen solltet. Lass dir erklären, was die jeweilige Darstellung bedeutet, beispielsweise welche Person wen darstellt und wer welche Gefühle auslöst.
Entspannung und Imagination
Gerade jüngere Kinder verfügen in der Regel über gute Imaginationsfähigkeiten und -bereitschaft, sodass ein standardisiertes Entspannungstraining im Vorfeld in der Regel nicht notwendig ist. Falls doch, empfehlen sich beispielsweise eine kindgerechte Form der Progressiven Muskelentspannung (z. B. Klein-Heßling & Lohaus, 2021) oder des Autogenen Trainings (z. B. Petermann, 2018). Imaginationsübungen sollten auch hier durchgeführt werden, um zum einen die vorherrschenden Sinneskanäle auszumachen. Zum anderen soll vermittelt und geübt werden, dass man die vorgestellten Bilder selbst beeinflussen kann. Hier sind vor allem auch unrealistische, fantasievolle Imaginationen empfehlenswert, z. B. dass das Kind einen Zauberstab hat und zaubern kann.
Lösungsideen sammeln
Analog zu dem Vorgehen bei Erwachsenen sollte basierend auf der erfolgten Alptraumrekonstruktion ermittelt werden, was ihn zum Alptraum macht und was nicht. Das können die Kinder im Bild zeigen oder nachstellen, falls die Alptraumrekonstruktion mit Figuren dargestellt oder nachgespielt wurde. Bei Kindern, die bereits sicher lesen können, kannst du die Elemente, die aus dem Traum raus sollen beziehungsweise bleiben können, am Flipchart o. ä. festhalten.
Bei möglichen Lösungen für den Traum sind Kinder tendenziell spontaner und benötigen weniger Abstand vom ursprünglichen Traum als Erwachsene. Können sie spontan keine Ideen benennen, um den Alptraum zu einem „langweiligen Einschlaftraum“ zu machen, kannst du auch hier auf das Prinzip des Brainstormings zurückgreifen („Lass uns erst einmal ganz allgemein gucken, was man tun könnte, wenn es an einem Ort zu dunkel ist“ usw.). Auch hier werden die Ideen gesammelt und im Nachgang ausprobiert.
Exemplarische Möglichkeiten für die Alptraummodifikation:
- Gemaltes Bild des Alptraums, in das Modifikationen (z. B. ein Helfer) eingezeichnet werden
- Gemaltes Bild des Alptraums und ein zweites Bild des neuen Traums
- Erstellung eines Comics
- Spiel mit Figuren, Fingerpuppen, Kuscheltieren, o. ä. (Fotodokumentation)
- Basteln der relevanten Figuren oder Szenen
- Nachstellen und Modifizieren des Alptraums im Rahmen eines Theaters/Schattentheaters (Videodokumentation)
- Erstellung eines Rap-Songs
Das neue Traumskript imaginieren
Wenn der Eindruck entsteht, dass das Kind die potenziellen neuen Trauminhalte spontan imaginiert oder dies passiert, während es diese im Bild oder Spiel ausprobiert, kann auf eine explizite Imaginationsübung verzichtet werden. Ist dies nicht der Fall oder besteht Unsicherheit, werden die Kinder angeleitet, sich die jeweiligen Aspekte vor dem inneren Auge genau vorzustellen. Die Auswahl von Lösungselementen und deren Zusammenfügen erfolgt gemeinsam in der Therapiesitzung.
Deine Aufgabe als Therapeut*in ist es dabei, immer wieder zu erfragen, a) was der neue Traum mit dem alten Alptraum noch zu tun hat und b) ob das Kind glaubt, bei dieser neuen Fassung gut schlafen zu können.
Die Nähe, die das neue Traumskript zum ursprünglichen Alptraum hat, kann auch hier unterschiedlich sein. Kinder scheinen aber ebenso wie Erwachsene trotz objektiv großer Unterschiedlichkeit ein gutes Gefühl für die subjektiv passende Nähe der beiden Traumversionen zu haben. In jedem Fall sollte die finale Fassung des neuen Traums festgehalten werden. Dies kann durch eine Niederschrift erfolgen, durch das erstellte Bild bzw. Kunstwerk, durch Fotos, eine Tonaufnahme oder – im Falle der szenischen Darstellung – auch durch ein Video.
Die Imagination wiederholen
Die wiederholte Imagination des neuen Traumes erfolgt dann zu Hause unter Mithilfe einer Bezugsperson. Im Falle eines Bildes wird dieses besprochen. Die Bezugsperson achtet dabei darauf, die für die plastische Vorstellung notwendigen Details zu erfragen oder zu benennen. Mitschriften können wahlweise durch die Bezugsperson vorgelesen oder als Audio-Datei aufgezeichnet werden. Bild- und Tondateien können angehört bzw. angeschaut werden.
Dieser Artikel ist eine veränderte Version des ursprünglich in der VPP aktuell erschienenen Artikels: Thünker, J. (2021). Alptraumtherapie bei Kindern und Jugendlichen. VPP aktuell, 53, S. 11-13.
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Thünker, J. & Pietrowsky, R. (2021). Alpträume – ein Therapiemanual, 2. überarbeitete und erweiterte Auflage. Göttingen: Hogrefe.
Klein-Heßling, J. & Lohaus, A. (2021). Stresspräventionstraining für Kinder im Grundschulalter (4. überarb. Aufl.). Göttingen: Hogrefe.
Petermann, U. (2018). Die Kapitän Nemo Geschichten gegen Angst und Stress. Göttingen: Hogrefe.
Quellen
Simard, V. & Nielson, T. (2009). Adaptation of Imagery Rehearsal Therapy for nigthmares in Children: A brief report. Psychotherapy Theory, Research, Practice, Training, 46, 492-497.
St-Onge, M., Mercier, P. & de Kornick, J. (2009) Imagery Rehearsal Therapy for frequent nightmares in children, Behavioral Sleep Medicine, 7, 81-98.