Gewichtsdiskriminierung: Wenn die Sorge um „Gesundheit“ problematisch wird

Eine Frau im Arztkittel hält einen Apfel und ein um diesen gewickeltes Maßband in den Händen.

Was zählt eigentlich, wenn es um Gesundheit geht? Das Äußere, also die Optik und das Gewicht, oder das Innere, also das Verhalten? Während unsere Gesellschaft sehr darauf fokussiert ist, welcher BMI-Gruppe man zugehört, scheint das Verhalten sekundär zu sein. Dabei ist es doch genau das, was zählt – oder? Warum es wichtig ist, dass du als Berater:in und Therapeut:in deinen eigenen Gewichts-Bias hinterfragst und gewichtsneutral behandelst.

Kaum ein Thema betrifft jeden einzelnen Menschen und polarisiert so stark wie Ernährung. Mehrmals am Tag müssen wir uns damit beschäftigen, was wir essen, wann wir essen und wie viel wir davon essen. Während manche diese Entscheidung sehr frei und intuitiv treffen, ist es für viele andere ein tagtäglicher Stressfaktor. Gerade mehrgewichtige Personen werden besonders stark für ihre Essentscheidung stigmatisiert und unterliegen gesellschaftlicher Diskriminierung, auch Gewichtsdiskriminierung genannt.

Doch dieser Anti-Fat-Bias (fett ist kein schlimmes Wort, wenn man es genauso neutral wie dünn, klein und groß verwendet) wird oft verschleiert durch eine vermeintliche Sorge um die Gesundheit. Schließlich wird uns immer vermittelt, dass dicke Menschen aufgrund ihres Körpers automatisch ungesund seien. Menschen mit einem sogenannten „Übergewicht“ – bestimmt durch den BMI – werden von medizinischen Fachkräften auf Diät gesetzt, egal, ob sie sich ausgewogen ernähren oder nicht. Doch was ist eigentlich wirklich wichtig: die Optik, die Zahl auf der Waage oder vielleicht doch das Verhalten?

Das Problem mit dem BMI 

Der BMI, kurz für Body Mass Index, ist im Grunde die Angabe der Körperdichte und ist der Maßstab schlechthin für die Kategorisierung von Menschen in „Unter-“, Normal-“, „Übergewicht“ usw. Was viele nicht wissen: Dieser Maßstab wurde nie wissenschaftlich validiert. Er berücksichtigt weder die Körperzusammensetzung noch die ethnische Herkunft, denn auch die spielt, etwa bei der Knochendichte, eine Rolle.

Das ist auch nicht verwunderlich, denn schließlich wurde der BMI 1832 von einem Mathematiker entwickelt und sollte nur als Statistik dienen, die Körperdichte verschieden Länder miteinander zu vergleichen. Sein Erfinder, der Belgier Adolphe Quételet, berechnete ihn auf der Basis von weißen, männlichen Europäern vor fast 200 Jahren und heute ist der BMI ein viel-genutzter Maßstab, um über die Gesundheit eines Menschen zu entscheiden. Was uns allerdings fehlt, ist validierte Forschung, die besagt, dass allein BMI oder Gewicht einen schlechteren Gesundheitszustand bedeuten.  

Auf einer hellen Oberfläche liegen viele Zettel mit gewichts- und gesundheitsbezogenen Begriffen.

Die Diät-Spirale 

Was ist der nächste Schritt, wenn Menschen als nicht „normalgewichtig“ eingestuft werden? Ihnen wird eine Diät verschrieben, meist nach dem Motto: mehr bewegen, weniger Kohlenhydrate. Abnehmen ist schließlich auch einfach: wir müssen einfach nur weniger Kalorien zu uns nehmen, als wir brauchen. Oder?

So einfach ist das nicht. Unser Körper ist biologisch darauf programmiert, Energie zu speichern, wenn er weniger bekommt. Er geht in einen „Sparmodus“ und hält besonders an seinem Fettgewebe fest, um magere Zeiten zu überstehen. Muskelmasse wird dabei schneller abgebaut als Fett. 

Wenn Menschen also auf eine Diät gehen, verlieren sie meist schnell Gewicht. Das ist aber ein Trugschluss, denn dabei handelt es sich in der Regel um Muskeln und das Wasser, welches im Muskel gespeichert wurde. Da wir es oft nicht durchhalten, uns so restriktiv zu ernähren, folgt auf die kurze Diät häufig eine exzessive Phase. Der Körper braucht aber erst wieder Zeit, aus dem Sparmodus zu kommen. Die Kilos, die zu Beginn noch purzelten, sind nun schnell wieder zurück – und oft wiegen die Betroffenen dann am Ende noch mehr als vor der Diät.

Nicht nur das, auch die Körperzusammensetzung hat sich verschlechtert: Betroffene haben Muskelmasse abgenommen und Fettmasse zugenommen. Doch das zeigt uns weder der BMI, noch können wir es von außen erkennen, denn Muskeln liegen unter dem Fettgewebe.

Verhalten statt Zahlen 

Was zählt eigentlich am Ende des Tages wirklich? Ist es das Verhalten, etwa eine ausgewogene Ernährung und ein bewegter Alltag, oder die Zahl auf der Waage oder der BMI? Was oft bei der Diskussion um Gesundheit vergessen wird, ist die Beziehung zu Essen und zum Körper. Ist es gesund, alles zu tracken? Kuchen immer mit schlechtem Gewissen zu essen? Und Sport als Ausgleich für Essen zu sehen? Ich würde sagen: absolut nicht.

Darum sollten wir als Berater:innen und Therapeut:innen auch genau auf das schauen: Wie treffen unsere Klient:innen welche Entscheidungen? Wenn wir nur auf Gewicht und BMI blicken, übersehen wir das Wesentliche: dass Gesundheit nicht durch Zahlen definiert werden kann. Leider handelt es sich bei diesem gewichtszentriertem Verständnis von Gesundheit um ein systemisches Problem.  

Eine übergewichtige junge Frau in kurzer Hose und Top steht vor einem Spiegel.

Gewichtsdiskriminierung 

Dicke Menschen werden automatisch als faul und weniger attraktiv wahrgenommen, sind seltener in Führungspositionen und werden weniger oft befördert. Bei der ärztlichen Versorgung verbringen sie statistisch weniger Zeit im Untersuchungszimmer. Ihr Gewicht wird unabhängig vom Anlass der Konsultation thematisiert. Diese Form der Benachteiligung nennt sich Gewichtsdiskriminierung und zeigt sich sogar schon bei Kindern, die in Studien dicke Kinder als am unbeliebtesten einschätzten.

Wenn du mir nicht glaubst, lebst du vermutlich nicht in einem dicken Körper. Frage gerne mal bei Freund:innen nach oder gehe in die Kommentarspalte von mehrgewichtigen Personen auf Social Media und du wirst fündig werden. Natürlich bezieht sich dieses Body Shaming nicht nur auf dicke Menschen, aber trotzdem hat die Art und Weise, wie dicke Menschen gesamtgesellschaftlich marginalisiert werden, doch ein anderes Level.

Die Ironie der Sache ist, dass Diskriminierung zu einer Verschlechterung des Gesundheitszustandes führen kann – besonders, was die psychische Gesundheit angeht. Wenn wir uns als Gesellschaft also wirklich um die Gesundheit von Mehrgewichtigen kümmern wollen, dann ist der erste Schritt, sie nicht mehr für ihren Körper zu diskriminieren.

Den eigenen Bias prüfen 

Trotzdem ist (leider) niemand von uns frei von Bias, also ohne Vorurteile – insbesondere, wenn es um das Thema Ernährung geht. An erster Stelle steht da die Gewichtsdiskriminierung. Sei ehrlich: Was denkst du, wenn du eine dicke Person siehst? Wenn dir eine dicke Person als Klient:in gegenübersitzt? 

Vielleicht hast du selbst Diäterfahrung oder Gewicht ab- oder zugenommen und erwartetest dieselbe Leistung auch von deinen Klient:innen? Dieses Phänomen der kognitiven Verzerrung kann als Survivorship Bias bezeichnet werden. Weil du es „geschafft“ hast, erwartest du das auch von anderen. Aber jeder Körper, jede Genetik und jede Diäthistorie ist nun mal einzigartig. Daraus folgt manchmal ein sogenannter Empathie-Gap, der dich in deiner beratenden Praxis vielleicht auch beeinflusst.

Um sich von diesen Vorurteilen zu lösen, braucht es einen Paradigmenwechsel in der Praxis – von einem gewichtszentrierten zu einem gewichtsneutralen Beratungsansatz.  

Eine mehrgewichtige Frau lehnt an einer Spiegelwand im Tanzstudio und hält eine Trinkflasche in der Hand.

Paradigmenwechsel: Der gewichtsneutrale Beratungsansatz 

Wenn wir uns als Berater:innen also wirklich um die Gesundheit unserer Klient:innen sorgen, dann müssen wir den Blick nicht auf Zahlen wie Gewicht oder BMI lenken, sondern auf ihr Verhalten schauen. Das bedeutet: 

  • Schönheitsbilder und Trends kritisch zu hinterfragen, 
  • Klient:innen anzuregen, das eigene gesundheitsbezogene Verhalten zu reflektieren und zu hinterfragen, 
  • sie dabei zu unterstützen, wenn sie an der gewichtsdiskriminierenden Gesellschaft leiden und 
  • ihnen dabei helfen, ihr Körperbild zu stärken und an ihrer Beziehung zu Essen zu arbeiten.  

Als Berater:innen, Coach:innen und Therapeut:innen können wir auch unseren Teil dazu beitragen, damit wir solche Vorurteile aus dem Weg räumen. Welche Sprache verwenden wir, wenn es um Gesundheit geht? Behandeln wir dicke und dünne Klient:innen anders? Inwiefern sind wir offen, uns mit den eigenen Vorurteilen auseinanderzusetzen, auch wenn es ungemütlich wird? Es ist nicht immer einfach, den Beratungsansatz zu ändern, aber es kann einen sehr großen Mehrwert für alle Beteiligten haben, denn genau wie beim Patriarchat leiden alle Menschen unter Gewichtsdiskriminierung – nur manche eben mehr als andere. 

Quellen: 

Tylka, TL., Annunziato, RA., Burgard, D., Daníelsdóttir, S., Shuman, E., Davis, C., Calogero, RM. (2014). The weight-inclusive versus weight-normative approach to health: evaluating the evidence for prioritizing well-being over weight loss. J Obes. 2014:983495. doi: 10.1155/2014/983495

O’Hara, L., & Taylor, J. (2018). What’s Wrong With the ‘War on Obesity?’ A Narrative Review of the Weight-Centered Health Paradigm and Development of the 3C Framework to Build Critical Competency for a Paradigm Shift. Sage Open, 8(2). https://doi.org/10.1177/2158244018772888

Kinavey, H., & Cool, C. (2019). The Broken Lens: How Anti-Fat Bias in Psychotherapy is Harming Our Clients and What To Do About It . Women & Therapy, 42(1–2), 116–130. https://doi.org/10.1080/02703149.2018.1524070