Wenn die NS-Zeit nachwirkt: Transgenerationale Lasten verstehen und lösen

Eine Frau verbirgt das Gesicht in den Händen und steht vor hellem Hintergrund.

Nach einem persönlichen Schicksalsschlag beginnt Notfallpsychologin Melanie Härdl, sich mit ihrer Familiengeschichte auseinanderzusetzen, und erfährt, dass ihre Großeltern als Psychiater:innen in der NS-Zeit aktiv gewesen sind. Im psylife-Interview spricht sie darüber, wie sich transgenerationale Themen auflösen lassen und welche Schatten die NS-Zeit bis heute auf Psychiatrie und Psychotherapie wirft.

Melanie, wann und wie hast du begonnen, dich mit der Geschichte deiner Großeltern in der NS-Zeit auseinanderzusetzen?  

Der Auslöser war eine eigene persönliche Krise. Ich habe mein erstes Kind aufgrund einer medizinischen Indikation totgeboren. Nachdem sich in den Folgejahren verschiedene psychische Symptome entwickelt hatten, habe ich dann eine Psychotherapie aufgesucht. Das hatte zwar einen stabilisierenden Effekt, aber es wurde nie richtig gut. Bis ich bei einem Psychotherapeuten gelandet bin, der mit einer sehr ausführlichen Biografiearbeit begonnen hat – und zwar nicht erst mit der Elterngeneration, sondern mit den Großeltern.  

Wie war es für dich, dass du wegen einer psychischen Krise in Behandlung gegangen bist und dann nach deinen Großeltern gefragt wurdest? 

Es war zunächst etwas irritierend, ich wollte schließlich mein akutes Trauma bewältigen. Das habe ich auch angesprochen, aber er hat mich spüren lassen: Er weiß, was er tut. Durch seine Haltung ist bei mir ein stimmiges Gefühl entstanden und ich habe mich einfach drauf eingelassen.

Wie seid ihr dann vorgegangen?

Ich wusste, dass meine Großeltern väterlicherseits beide Fachärzt:innen für Psychiatrie und Neurologie gewesen waren. Ich wusste auch, dass ihr Wirkungszeitraum in die NS-Zeit fiel. Aber bis dato hatte ich mir dazu keine Gedanken gemacht. Ich hatte meine Großeltern nie kennengelernt, denn mein Vater hatte den Kontakt zu seinen Eltern abgebrochen. Als ich das erzählte, ist mein Psychotherapeut hellhörig geworden und hat mich ermutigt, mir das näher anzuschauen. Also bin ich an die Abteilung für Medizinhistorik der TU München herangetreten, die mir erste Anhaltspunkte liefern konnte. Auf der Grundlage habe ich dann zwei Jahre lang recherchiert, zusammen mit den unterschiedlichsten Behörden und Bundesarchiven in Berlin. Die Erkenntnisse habe ich laufend mit in die Psychotherapie genommen, sodass wir sie mit den Traumata meines Vaters und auch meiner eigenen Lebensgeschichte in Zusammenhang bringen konnten.  

Ein Stapel mit Schwarz-Weiß-Fotos.

Was hast du über deine Großeltern in Erfahrung bringen können?

Mein Großvater hat bei Forschungen zur Entstehung von Multipler Sklerose mitgewirkt. Das Forschungsteam hat vermutet, dass MS durch die Infektion mit pathogenen Keimen im Spinalkanal verursacht wird. Um das zu beweisen, wurden Versuche an körperlich gesunden Psychiatriepatient:innen durchgeführt.

Und meine Großmutter hat in einer Heil- und Pflegeanstalt gearbeitet, in der Menschen mit geistigen Behinderungen oder psychiatrischen Erkrankungen untergebracht waren. Dort wurde durch psychiatrische Gutachten über „wertes“ bzw. „unwertes“ Leben entschieden.

War das vorher schon mal in deiner Familie thematisiert worden?

Mein Vater hat mir mal erzählt, dass er so eine Vermutung hatte – und ich glaube, das war auch ein Grund für den Beziehungsabbruch zu seinen Eltern. Mein Vater musste als einziger Sohn von insgesamt vier Geschwistern ebenfalls Medizin studieren. Er ist in dieser Heil- und Pflegeanstalt mit aufgewachsen und hatte Erinnerungen an Beobachtungen und Menschen vor Ort. Aus seiner späteren ärztlichen Sicht hat er das, was da passiert ist, dann in Frage gestellt.

Kurz vor seinem Tod – da war ich schon am Ende von meinem Psychologiestudium - hat er mich explizit gefragt: „Glaubst du, es wäre gut gewesen, ich hätte mal eine Psychotherapie gemacht?“ Ich habe zu ihm gesagt: „Papa, du warst nicht in der Generation, die Psychotherapie gemacht hat. Ihr wart mit ganz anderen Dingen beschäftigt und ihr hattet dazu nicht so den Zugang wie wir heute.“ Ich hatte damals den Eindruck, dass ihn meine Einschätzung, nicht nur als Tochter, sondern auch als angehende Psychologin erleichtert hat. Und für mich war es eine große Wertschätzung, dass er mich das gefragt hat. Heute, fast 20 Jahre später sehe ich es immer noch so: Es ist die 3. Generation, also meine Generation, die aufgrund der größeren Distanz genauer hinschauen und die Tabuisierung überwinden kann.

Wie hat denn die Familie reagiert, als du angefangen hast, dich damit auseinanderzusetzen?

Die Familie väterlicherseits war sehr ablehnend. Da gab es keine Bereitschaft, mir eine Frage zu beantworten und sich damit auseinanderzusetzen. Aber mit meinem ältesten Cousin konnte ich mich austauschen und der hat mir auch bestätigt, dass ich auf der richtigen Fährte bin.

Wie ging es dir mit dem, was du herausgefunden hast?

Ich habe das zunächst eher sachlich, wie eine Reporterin aufgearbeitet. Aber als ich das in der Therapie in Zusammenhang mit den Traumatisierungen meines Vaters und den Auswirkungen auf mein eigenes Leben gebracht habe, hat mich das sehr berührt. Weil ich dann viel verstanden habe. Ich hatte meine Familiengeschichte ja auch vorher schon mit anderen Psychotherapeut:innen beleuchtet, aber es hat auf einmal eine andere Tiefe gekriegt, mehr Perspektive und Verständnis.  

Eine Frau steht eine Akte lesend vor einem großen Aktenschrank.

Durch diese biografische Arbeit sind meine Symptome stetig weniger und weniger geworden, bis ich irgendwann festgestellt habe: Ich bin nicht nur stabil, sondern habe ein gutes Leben. Ich konnte auch über den Verlust meiner ersten Tochter sprechen, ohne dass es mir den Boden unter den Füßen wegzog.

Was hilft therapeutisch dabei, familiäre Themen und transgenerationale Traumata aufzulösen?

Ich glaube, im therapeutischen Setting ist es wichtig, ein Bewusstsein dafür zu haben, dass transgenerationale Themen und Traumata einen Einfluss haben können. Gibt es verdeckte Schuld- oder Schamgefühle, die eine Symptomatik mitbedingen? Begegnen einem Überangepasstheit oder Sprachlosigkeit? Da ist eine gründliche Biografiearbeit, die nicht erst bei der Eltern-, sondern eben bei der Großelterngeneration anfängt, wichtig. Gleichzeitig muss man darauf achten, dass man nicht mit Suggestionen etwas anfeuert, das vielleicht gar nicht da ist. Das ist eine zweischneidige Sache.

Wenn es Anhaltspunkte dafür gibt, dass ein transgenerationales Thema tabuisiert ist und dadurch eine starke Sprachlosigkeit herrscht, sind möglicherweise auch andere Therapieformen als eine reine Gesprächspsychotherapie hilfreich, um sie aufzulösen, z. B. körperorientierte Verfahren, wie Somatic Experiencing, oder Kunsttherapie. So wie man es aus dem stationären Setting kennt, kann man das auch im ambulanten Setting integrieren, indem man sich mit Kolleg:innen aus anderen Fachdisziplinen vernetzt und den Klient:innen dadurch andere Zugänge ermöglicht.

Welche Rolle spielt die NS-Zeit, bewusst oder unbewusst, deiner Einschätzung nach für unseren Berufsstand?

Man weiß um die Verbrechen, die da begangen worden sind, aber ich würde sagen, es wurde bis heute nicht ordentlich aufgearbeitet, z. B. die Tatsache, dass es keine Internist:innen oder Allgemeinmediziner:innen waren, die über „wertes“ und „unwertes“ Leben entschieden haben, sondern Psychiater:innen. Zu sagen, man geht in die Psychiatrie, birgt auch heutzutage immer noch eine andere Hemmnis als zu sagen, dass man für eine OP zwei Wochen ins Krankenhaus muss. Psychiatrische Erkrankungen sind immer noch gesellschaftlich stigmatisiert! Die NS-Zeit wird dafür nicht der Hauptgrund sein, aber sie wirft immer noch einen Schatten auf die Psychiatrie.

Die Aufarbeitung dieser Zeit hat sich richtigerweise auf die Opfer und Überlebenden fokussiert. Aber die Täter:innen-Seite wurde bislang noch zu wenig beleuchtet und diskutiert: Warum haben sie das getan, was sie getan haben? Welchen Zwängen waren sie ausgeliefert? Welche Auswirkungen hatten ihre Taten psychisch und emotional? Sie sind ja einst Ärzt:innen geworden, um Menschen zu heilen und nicht um Leben zu zerstören. Die Taten müssen also irgendwann auch für sie belastend gewesen sein. Die Täter:innen haben aber nach der NS-Zeit natürlich geschwiegen und nicht über ihre Belastung gesprochen, weil sie Angst hatten, dass ihnen etwas passiert oder dass sie verurteilt werden. Heute kann man kaum noch jemanden dazu befragen. Das haben wir versäumt. Geblieben ist das Tabu und die Sprachlosigkeit, die ich eben schon beschrieben habe und die sich transgenerational auswirken kann. 

Wie könnte eine Aufarbeitung aussehen? 

Das ist eine schwierige Frage, weil ich nicht genau wüsste, welche Institution die richtige wäre; möglicherweise die Ärztekammer in Zusammenarbeit mit dem Lehrstuhl für Medizinethik.  

Das Denkmal der Grauen Busse in Ravensburg

Gibt es etwas, das du anderen Kolleg:innen mit ähnlichen familiären Themen mitgeben möchtest?

Es kann sinnvoll sein, sich der Sache zuzuwenden, aber nicht aus einer verurteilenden oder schambesetzten Haltung heraus, sondern eher auf einer sachlichen Ebene: Was kann ich herausfinden? Und danach kann ich schauen: Was bedeutet das für meinen Lebensweg? Wie hat es mich geprägt?

Bei der Aufarbeitung transgenerationaler Themen und Traumata geht es nicht darum, Verantwortung zu übernehmen für das, was passiert ist. Es geht eher darum, ein Bewusstsein dafür zu entwickeln, welche Dynamiken durch diese Themen entstehen können.

Wie hat deine Ursprungsfamilie deinen beruflichen Werdegang geprägt?

Es ist ja nicht selten, dass es in Familien ähnliche berufliche Interessen gibt. Ich habe meine Großeltern nicht gekannt und mich erst weit nach meinen beiden Studiengängen mit ihrem beruflichen Tätigkeitsfeld auseinandergesetzt. Das Interesse für die menschliche Psyche und die Humanmedizin habe ich aber mit ziemlich großer Wahrscheinlichkeit unbewusst aus meiner Ursprungsfamilie übernommen. Es ist mit meinem heutigen Wissen über deren berufliche Vergangenheit auch kein belastendes Erbe, aufgrund dessen ich eine Wiedergutmachung zu leisten hätte. Ich empfinde es vielmehr so, dass ich mit meinen eigenen moralischen und ethischen Prinzipien sowie den Möglichkeiten, die ich heute habe, Menschen weiterbringen kann. Ich begegne Hilfesuchenden mit großem Respekt und meiner vollen Wertschätzung dafür, dass sie sich auf der Suche nach einer Lösung für ihre Probleme auf den Weg machen. Dass sie sich dabei an mich wenden, erzeugt in mir eine Dankbarkeit dafür, in diesem Wirkungsfeld meinen Beitrag leisten zu können.

Vielen Dank für das Gespräch!

Über Melanie Härdl 

Melanie Härdl ist Schulpsychologin und als Notfallpsychologin (BDP) seit über zehn Jahren in der Krisenintervention tätig. Sie unterrichtet zudem als Dipl. Berufspädagogin Gesundheits- und Pflegeberufe. Als Vollheilpraktikerin interessiert sie sich in ihrer Praxis besonders für die Wechselwirkungen zwischen Psyche und Körper und setzt sich schwerpunktmäßig mit der Behandlung von Trauma und Traumafolgestörungen auseinander.

Weitere Infos findest du unter: https://psychotherapie.haerdl.eu/