„Sollte ich nicht besser gehen?“ - Vom ständigen Hadern in Langzeitbeziehungen

Viele Menschen träumen von der einen Liebe, die ein Leben lang hält. Selbst Menschen der jungen Generation, die gemeinhin als bindungsunfähig gilt, wünschen sich oft die große Liebe und eine stabile Familie. Doch die Realität sieht anders aus. Gerade in Langzeitbeziehungen können Unzufriedenheit, Routinen, Entfremdung und Trennungsimpulse entstehen. Wie können wir unsere Klient:innen darin begleiten, wenn sie sich – statt für eine Trennung - für den steinigen Weg des Zusammenbleibens entscheiden?
Heute kommt Teresa in meine Praxis. Sie hat all ihren Mut zusammengenommen und möchte mir ihre geheimsten Gedanken aus ihrem Tagebuch mitteilen. „Es tut weh, zu fühlen, dass ich nie ganz zu ihm stehen kann“, steht da. „Er kann mir nichts von dem geben, was ich emotional brauche. Ich kann mir nicht vorstellen, diese Gefühle zu haben und gleichzeitig aufrichtig in dieser Beziehung zu sein. Wäre es dann nicht gesund, zu gehen? Ich habe ihm oft Vorwürfe gemacht, ihn schlecht behandelt, gestichelt, ihn gekränkt. Jetzt fühle ich mich schuldig, als schrecklicher Mensch, verlogen…“
Dass in Langzeitbeziehungen solche Gedanken und Gefühle vorkommen können, ist normal. Werden sie ungefiltert kommuniziert oder zu schnell umgesetzt, können dadurch jedoch bleibende Schäden in der Partnerschaft entstehen oder eben Brüche, die manche später bereuen. Eine Psychotherapie oder Beratung ist für solche Reflexionen schon der bessere Ort.

Wir alle kennen diese Klient:innen. Sie erzählen uns schlimme Geschichten aus ihrer Paarbeziehung und dass sie es dort nicht mehr aushalten. Der Partner ist dann ein Narzisst, ein Autist oder die Beziehung ist toxisch. Die Unzufriedenheit in Langzeitbeziehungen geht häufiger von den Frauen aus. Sie wünschen sich vom Partner mehr Reflexion, Verständnis und Kommunikation. Doch dieser zieht sich immer mehr zurück. Die gemeinsame Sexualität wird zur Last. Sie wird mechanischer, zielorientierter, zur „ehelichen Pflicht“. Männer können ihr Begehren der Langzeitpartnerin gegenüber meist länger aufrechterhalten. Für sie ist eher die häufig unzufriedene Partnerin mit den kaum zu erfüllenden Forderungen und Vorwürfen das Problem. Und nicht selten kommt ihnen dann eine Affäre dazwischen.
Vor einigen Jahrzehnten gab es für dieses Dilemma keine Lösung. Die Partnerschaft musste weitergeführt werden, denn es gab gegenseitige Abhängigkeiten. Auch Unterstützungsmöglichkeiten zur persönlichen und kommunikativen Weiterentwicklung waren begrenzt. Manche Ehe wurde so zu einer leblosen Gewohnheit. Mit einem altersmilden Rückblick auf das gemeinsame Leben war dann oft alles nicht mehr so schlimm.
Lösungsoptionen von Trennung bis Polyamorie
Diese Welt hat sich verändert. Wir alle schätzen die gewonnenen und erkämpften Freiheiten zur individuellen Lebensgestaltung und Entfaltung. Niemand „muss“ mehr bleiben, wenn es nicht mehr geht. Es gibt soziale Auffangnetze, eine gewachsene gesellschaftliche Akzeptanz und immer mehr Singles, die modellhaft und selbstbewusst ihren Weg gehen. Wer Sehnsucht nach einer Beziehung hat, kann sich mit einem passgenauen Profil von Mr. oder Mrs. Right auf die Suche machen und wissenschaftlich geprüfte Algorithmen helfen den „Perfect Match“ zu finden. Dass das funktioniert, wird über verschiedene mediale Kanäle versprochen. „Schau her, so geht das, ist doch ganz einfach, glücklich zu sein. Hier sind die Listen, in denen steht, was du tun musst. Wer heute noch leidet, ist selbst schuld.“ Das gilt für die Ernährung, den Sport, den erfüllenden Job, den glücklich machenden Wohnort und eben auch für die Partnerschaft.
Gestern waren Tom und Lisa bei mir. Sie sind seit fünf Jahren zusammen und leiden unter der zunehmenden Routine und Entfremdung, die damit einhergehen. Im Bett gäbe es keine Anziehung mehr und sie fürchteten sich davor, wie „ein altes Ehepaar“ zu enden, bei dem er dauernd seinen mechanischen Sex haben will, und sie zunehmend versucht, seine Nähe zu vermeiden. Ebenso große Angst haben beide davor, sich zu trennen, wie so viele ihrer Peers es tun. Kaum jemand in ihrem Umfeld traue sich noch, sich zu binden. Das finden sie nicht gut, denn gleichzeitig seien die Freunde einsam. Sie lieben und schätzen einander und bitten mich, sie darin zu begleiten, die Beziehung zu öffnen, um ihre Sexualität wieder zu beleben, aber ohne, dass ihre Liebe dabei Schaden nehme.
Viele Menschen gehen heute diesen Weg. Besonders in Städten steigt die Zahl derjenigen, die versuchen, in einvernehmlich nicht monogamen Beziehungen zu leben, um nicht Gefahr zu laufen, in einer totgelaufenen monogamen Langzeitbeziehung zu enden. Sie experimentieren mit polyamoren oder einfach sexuell offenen Beziehungsvarianten und haben parallel dazu oft eine wichtigere Hauptbeziehung.
Jede Lebensphase hat ihre Herausforderungen
In meiner Praxis sehe ich das ganze Spektrum an Beziehungsformen und Individuen. Da sind Menschen der Gen Z, die sich nach der großen Liebe sehnen, sich aber in der Spirale des Datens und Vermeidens verlieren. Da sind Frauen und Männer in der Rushhour des Lebens, die wegen ständiger Überlastung ihre Liebe zueinander nicht mehr spüren. Und da sind die älteren Paare, bei denen sich ein Teil fragt, ob sie ihre „alte“ Partnerschaft wohl wiederbeleben können und wollen bzw. was ein Neubeginn kosten würde. Mit der Zeit wird mir immer klarer: Jede Epoche, jede Beziehungsform und auch jede Lebensphase hat ihre Herausforderungen und ihre Vorteile und Nachteile. Wie auch immer wir unsere Entscheidungen fällen: An jeder Entscheidung hängt ein Preisschild.

Gleichzeitig zeigt die Forschung immer wieder: Was wirklichen Einfluss auf unsere Gesundheit und ein langes Leben hat, sind nicht Sport, Wohlstand oder die richtige Ernährung. Der Schlüssel zu Gesundheit, Lebenszufriedenheit und einer höheren Lebenserwartung sind tragfähige soziale Beziehungen, in denen wir uns gesehen fühlen, auf die wir uns verlassen können und mit denen wir echte Verbundenheit leben können. Danach haben Menschen jeden Alters meist eine tiefe Sehnsucht. Das können lebenslange Freundschaften oder eben Paarbeziehungen sein. Oder beides.
Wir haben verlernt, Ungemach auszuhalten
Was einander nun also konkurrierend gegenüber steht, ist einerseits die tiefe Sehnsucht nach echter innerer Verbindung, Gesehenwerden, Vertrautheit und Verlässlichkeit - und andererseits die Sehnsucht nach Individualität und Selbstverwirklichung. Es ist das uralte menschliche Dilemma zwischen Bindung und Autonomie. Einziger Unterschied: Heute gibt es fast eine Pflicht zur Priorisierung des akuten Glücklichseins und der Autonomie. Doch je besser wir werden, auf der Jagd nach dem Glück, umso mehr verlernen wir die Fähigkeit, Ungemach auszuhalten. Je leichter zugänglich Stimmungsaufheller (medikamentös, medial, kulinarisch etc.) sind, umso schwerer fällt es uns, uns selbst und das Leben mit normalen Konflikten oder mit gedrückter Stimmung zu ertragen. Mit dieser Einstellung sind wir auch in Beziehungen.
Psychologische und soziologische Studien zeigen, dass mit jeder Trennung die Wahrscheinlichkeit steigt, dass zukünftige Beziehungen wieder scheitern. Wir befinden uns also in dem Paradoxon, auf der Suche nach dem akuten Glück eine Schneise der lebensgeschichtlichen Brüche zu riskieren.

Langzeitpartnerschaften und darin ständiges Glücklichsein sind im Kern inkompatibel. Die Paarforschenden John und Julie Gottman belegen, dass 86% der Themen, die uns am anderen stören, langfristig unveränderbar sind. Doch wie können wir, insbesondere mit den Botschaften unserer modernen Welt, so viel Ungemach aushalten?
Der amerikanische Paar- und Sexualtherapeut David Schnarch bezeichnete die Ehe einmal als people growing machine. Und dieses Persönlichkeitswachstum können wir als Therapeut:innen unterstützen. Eins meiner wichtigsten Werkzeuge dazu bezeichne ich als „Dreiklang der Emotionsregulation“:
- Gefühle benennen
- Erlauben
- Bewältigen
Wir unterstützen unsere Klient:innen darin, zu identifizieren, wie er oder sie sich fühlt. Zweitens erlauben und legitimieren wir das, zeigen Verständnis und normalisieren das Erlebte. Und drittens bremsen wir beim Impuls zu irgendwelchen Kurzschusshandlungen, sondern entwickeln alternative Bewältigungsstrategien. Wir bringen eine Ebene persönlicher Werte ein und begleiten die Menschen darin, in sich und miteinander zu wachsen.
Persönlichkeitswachstum in Partnerschaften begleiten
Wachstum geht nicht ohne Schmerzen. Wenn die Einladung unserer Gesellschaft größer ist, lieber den individuellen Weg zu gehen, ist es oft schwer zu rechtfertigen, beim anderen zu bleiben. Wie wir eingangs bei Teresa gesehen haben, fühlt es sich auch für die betroffene Person oft falsch an, zu bleiben. Im Rückblick kann ein Leben voller Brüche allerdings auch viel Leid erzeugen. Wie können wir unsere Klient:innen darin begleiten, zu wachsen, ohne die Beziehung zu schnell hinzuwerfen?
Für mich besteht eine gute paartherapeutische Unterstützung aus zwei Elementen:
1. Psychoedukation
Wir vermitteln dem Paar Wissen über normale Paardynamiken, beispielsweise mit welcher Logik unser Nervensystem defensiv reagiert und wie wir uns gegenseitig triggern; wie wichtig es ist, aktiv wieder mehr Positivität in die Partnerschaft einzubringen, Kommunikationskompetenzen wie die VW-Regel („mache aus deinem Vorwurf einen Wunsch“) oder über die genannten Forschungsergebnisse des Unveränderbaren und des Ansteckungseffekts von Trennungen.
2. Begleitung beim Einüben neuer Kompetenzen
Die Erkenntnis ist schneller im Kopf als im Bauch. Automatisierte Verhaltens- und Bewältigungsstrategien basieren meist auf frühen Erfahrungen und gelebtem Leben und sind „hard wired“. Die Logik des eigenen Systems zu verstehen und es beim Auftreten bewusst zu beobachten, ist oft der erste Schritt. Ab da beginnt der Veränderungsprozess durch das Einüben neuer kommunikativer, emotionaler und ggf. sexueller Skills, das Erleben von Rückfällen, aber auch die so wichtigen korrigierenden Erfahrungen. Diese gilt es in der Begleitung immer wieder hervorzuheben und auf allen Sinnesebenen zu verankern, bis das Gehirn das Neue genügend abgespeichert hat und auch in Triggersituationen neue Referenzpunkte findet.

Aber Achtung: Häufig gibt es eine Person, die die Veränderung mehr will als die andere. Um echtes Wachstum zu ermöglichen, gilt es, beide dafür zu gewinnen. Ein Partner, der aus Angst vor der Trennung zu allem „Ja und Amen“ sagt, ist kein wirkliches Gegenüber. Eine therapeutische Frage dazu wäre dann z. B.: „Was hätten Sie selbst davon, wenn Sie emotional wachsen würden? Was wären die Gefahren, wovor hätten Sie Angst? Und in welchen Situationen könnten Sie selbst davon profitieren, außer dass Ihr:e Partner:in zufriedener wäre?“
Wachstum passiert nie gleichzeitig auf beiden Seiten und parallel. Auch das gilt es in einer Langzeitpartnerschaft auszuhalten. Aber mit dieser Fähigkeit, gut bei sich selbst und gleichzeitig empathisch im Kontakt mit dem anderen zu sein, haben wir eine gute Chance, auch eine Langzeitbeziehung lebendig und erfüllt zu leben.
Zum Weiterlesen:
(Werbung) Monika Röder (2025). Der kleine Eheretter. Heidelberg: Carl-Auer Verlag.