Die Angst vor dem Auffliegen: Als Therapeut:in mit eigenen Traumata umgehen

Aufgewachsen in einem dysfunktionalen Familiensystem mit seelischer und sexualisierter Gewalt, bearbeitet Zoë Robens ihre traumatischen Erfahrungen in ihrem Buch „Die Labyrinth-Alben. Aufbruch aus der seelischen Dunkelheit“. Zoë Robens, die unter einem Pseudonym schreibt, arbeitet zudem als Psychotherapeutin. Sie möchte Menschen Mut machen, sich mit eigenen erlittenen Traumata auseinanderzusetzen – ein Thema, das unter Psychotherapeut:innen selbst häufig noch tabuisiert ist.
Frau Robens, wann haben Sie angefangen, sich mit den traumatischen Erlebnissen ihrer Kindheit und Jugend auseinanderzusetzen?
Nachdem ich aus dem Elternhaus ausgezogen war, wurde ich freier, diese reflektieren zu können. Da kamen die ersten Gedanken: „Warum kriege ich in der Badewanne rasende Kopfschmerzen?“, „Warum flippe ich aus, wenn mich jemand festhält?“ Der gewaltvolle Vater war präsent, aber die Rolle meiner Mutter und auch die sexualisierte Gewalt waren für mich eine Blackbox. Ich weiß, dass ich damals überlegt habe, ob eventuell ein Missbrauch stattgefunden haben könnte, aber ich war überzeugt: „Niemals“. Kurz darauf gab es ein Telefonat mit meiner Schwester. Sie regte sich in diesem Telefonat über meine Eltern auf, steigerte sich rein und dann knallte sie den Satz raus: „Und soll ich dir noch was sagen? Missbraucht hat er mich auch!“. Da brach bei mir alles zusammen, wie eine eingetretene Tür, und ich dachte nur noch: „Also doch, also doch...“. Ich finde es beeindruckend, was Abwehrmechanismen leisten. Ich hatte davon gelesen, aber doch nicht gedacht, dass es das Phänomen in dieser Form gibt.
Aus therapeutischer Sicht: Wie kann man verdrängte Traumata erkennen?
Oft sind es kleine Puzzleteile, die uns unsere Patient:innen mitteilen, und es ist unser Job, die irgendwie zusammenzusetzen. Ich als Person habe damals diese Puzzleteile nicht zusammensetzen können. Im Grunde war ja alles da, aber ich konnte die Zusammenhänge nicht erkennen. Damals wäre sicherlich schon eine Therapie für mich hilfreich gewesen, aber das waren noch andere Zeiten.
Was hat Ihnen dann geholfen, diese Erfahrungen aufzuarbeiten?
Es war klar, dass ich professionelle Hilfe brauche. Ich habe mich zunächst an eine Frau in einer Beratungsstelle gewandt, aber das war eine Katastrophe. Die Beraterin war sehr kalt, meine Depressionen und suizidalen Gedanken nahmen weiter zu. Mein damaliger Freund, später erster Ehemann, hat dann einen Cut gesetzt und gesagt: „Da gehst du nicht mehr hin!“ Er hat über einen befreundeten Hausarzt eine ärztliche Psychotherapeutin gefunden. Das war der Weg, der geholfen hat. Über Jahre hinweg habe ich in der Therapie die Puzzleteile gesucht, gesammelt und zusammengesteckt.
Was hätten Sie in der Beratungsstelle gebraucht bzw. was hat Ihnen in der Therapie letztlich geholfen?
In der Beratungsstelle musste ich darum kämpfen, ernst genommen zu werden. Da wurde mir vermittelt: „Ich bin eine von ganz vielen“. Und wenn ich mal eine Frage hatte, wurde direkt kritisch hinterfragt, warum ich das jetzt wissen wolle. In der Psychotherapie hatte ich nicht das Gefühl, ich müsse beweisen, dass das, was mir passiert ist, wirklich passiert ist. Das war das Wichtigste: dass sie mir einfach geglaubt hat, ohne dass es irgendwelche Beweise gab. Ich hatte keine Narben. Ich hatte keine blauen Flecken. Ich hatte keine Brüche, die man sehen konnte. Ich habe mich wirklich ernst genommen gefühlt in meinen Bedürfnissen. Wenn ich diese Frau nicht gehabt hätte, hätte ich es nicht geschafft.

Personen, die den Wunsch haben, Psychotherapeut:in zu werden, fragen sich möglicherweise, ob eigene traumatische Erlebnisse in der Vergangenheit ein Hinderungsgrund für eine Ausbildung sein könnten. Wie ordnen Sie das ein?
Ich kann nur von mir reden und würde sagen, auf der Plusseite steht, dass ich weiß, wie sich innere Dunkelheit anfühlt. Wenn ich sage: „Der Weg aus der Hölle ist der Weg durch die Hölle“, dann kommt das von mir authentisch. Und dadurch, dass ich Psychotherapie als wirklich hilfreich und lebensrettend erfahren habe, transportiere ich das auch.
Auf der anderen Seite, um jetzt mal auf das Schwierige zu gucken: Man muss sehr, sehr gut mit seinen Traumata vertraut sein und für sich klar haben, wie man Distanz hält. Man muss aufpassen mit Übertragungsphänomenen, Überidentifikation oder Versuchen, durch das Gegenüber das eigene verletzte innere Kind zu heilen. Vielleicht gibt es auch Traumatisierungsformen, mit denen man nicht arbeiten möchte. Ich selbst würde zum Beispiel niemals Täter:innen therapieren. Das kann und will ich nicht. Manchmal triggern mich auch Elterngespräche. Wenn ich merke, dass ich grantig oder sauer werde, gucke ich nach den Sitzungen, was das war: Hat das Elternteil sich tatsächlich unverhältnismäßig verhalten - oder hat es mit mir zu tun? Das ist manchmal echt Arbeit.
Welche Erfahrungen haben Sie während der Ausbildung gemacht, z. B. in der Selbsterfahrung?
Die Selbsterfahrung fand ich schwierig. Ich hatte immer Angst, ich fliege auf, wie mit einem Delikt. Ich wollte unbelastet und neurosenfrei wirken. Das empfinde ich auch heute noch in vielen Fortbildungen so. Was natürlich schade ist, denn hätte es mehr Offenheit gegeben, hätte ich die Selbsterfahrung ganz anders für mich nutzen können.
Wie erleben Sie allgemein die Offenheit innerhalb unserer Berufsgruppe, über eigene Belastungen oder Traumatisierungen zu sprechen?
Während der Ausbildung ist im Grunde gar nicht darüber gesprochen worden. Mit Kolleginnen, mit denen ich sehr eng befreundet bin, klang mal durch, dass auch beim Gegenüber die Kindheit nicht immer nur voller Einhörner und Schmetterlinge war. Aber wirklich in die Tiefe gegangen ist es nicht.

Im Zuge des Buches habe ich mich in zwei Intervisionsgruppen geoutet – und habe das tatsächlich wie ein Outing empfunden. In der einen Gruppe haben die Kolleginnen dann auch von Belastungen aus der eigenen Familie erzählt, was ich sehr motivierend fand. In der anderen Intervisionsgruppe war eine Teilnehmerin sehr interessiert, während die andere befremdet und erstaunt wirkte, warum ich überhaupt darüber rede und auch noch ein Buch über mich schreibe. Meine Erfahrungen sind also ganz unterschiedlich.
Entstigmatisierung ist eigentlich in aller Munde. Was denken Sie, warum ist das bei uns Psychotherapeut:innen selbst immer noch ein Tabu?
Ich glaube zum einen, weil uns sowieso gerne unterstellt wird, „wir hätten alle einen Schuss“, und es gibt die Befürchtung, von den anderen nur noch durch die pathologische Brille angeschaut zu werden: „Wie kann die denn überhaupt therapeutisch arbeiten?“ Ich glaube, es gibt auch immer noch dieses Bild, dass wir Psychotherapeut:innen „psychisch perfekt“ sein müssen. Wir müssen unser Leben im Griff haben. Wir müssen perfekte Kinder haben, die bitte auch keinen Ärger machen, geschweige denn psychisch krank werden. Wir müssen fantastische Ehen führen und Bilderbuchhaushalte haben, wo alles sauber ist. Das trifft bei mir alles nicht zu (lacht).
Ich frage mich auch was für ein Bild man Patient:innen damit vermittelt...
Genau, wie sollen wir Vertrauen schaffen, wenn wir als Psychotherapeut:innen eine abgekapselte, distanzierte Persönlichkeit haben? Im Erstgespräch biete ich am Ende immer an, ob die Patient:innen noch Fragen an mich haben. Da bekomme ich ganz oft die Rückmeldung: „Darf ich Sie jetzt echt was fragen?“ Und dann sage ich: „Klar, wieso nicht?“ Ich erzähle natürlich keine Details aus meiner Familie oder aus meiner Ehe, aber ich erzähle schon kleine Sachen über mich.
Was würden Sie sich diesbezüglich für die Zukunft wünschen?
Auf jeden Fall mehr Akzeptanz unter Kolleg:innen für gegenseitige Pathologien, um damit freier umgehen zu können. Das hätte mir viel Druck genommen, wenn ich nicht immer das Gefühl gehabt hätte, „ich fliege auf“. Das wäre auch für den weiteren Heilungsweg wichtig gewesen.
Das Tabu nimmt letztlich ja auch die Möglichkeit, offen mit den eigenen Belastungen umzugehen und daran zu arbeiten, z. B. in der Selbsterfahrung… Was würden Sie betroffenen Kolleg:innen mit auf den Weg geben wollen?
Ich finde, eine gute Selbsterfahrung ist unheimlich wichtig, aber da hat man in der Ausbildung natürlich nicht immer Einflussmöglichkeiten drauf. Eine gute Supervision ist wichtig und eine vertrauensvolle Intervisionsgruppe, in der man sich wohlfühlt und nicht immer so tun muss, als sei man die Obertherapeutin. Das man auch mal sagen kann: „Ich hatte einen Vater im Gespräch, der hat mich total an meinen erinnert, und nach der Sitzung hab ich geheult“ - das finde ich ganz wichtig.

Man sollte auch für sich gut gucken: Kann ich wirklich mit jedem Störungsbild arbeiten? Muss man nämlich nicht! Ich muss nicht alles können und sollte mir das auch eingestehen. Ich persönlich weiß zum Beispiel, dass es bei Autismus Kolleg:innen gibt, die das viel besser machen als ich, weil ich gerne mit inneren Bildern arbeite und auch mal ironisch bin. Man kann auch schauen, welche Altersgruppe einem eher liegt. Wir müssen nicht alle Bereiche gut abdecken können, egal was sie uns in den Ausbildungsinstituten erzählen. Am Anfang haben viele dieses Selbstbild, dass wir alles gut machen und sämtliche therapeutischen Abläufe gut im Griff haben müssen. Nee, müssen wir nicht. Wir haben das Recht, unsere Nischen zu finden. Wir können zu dem stehen, was uns liegt, und auch zu dem, was uns bedrohlich oder unangenehm ist, warum auch immer das biografisch gesehen so ist.
In der psychotherapeutischen Arbeit sind wir immer wieder mit belasteten und auch traumatischen Erlebnissen unserer Patient:innen konfrontiert. Manchmal zeigt sich das nicht von Anfang an. Worauf sollte man hinsichtlich eigener Traumatisierungen achten?
Immer gut gucken: Was macht das mit mir selbst? Kriege ich das jetzt gut verpackt, dass ich das beruflich mache, oder habe ich da persönlich ein Problem? Ich finde, da sollte man auch echt einfach die Ehrlichkeit haben zu sagen: „Du, ich glaube, ab dem Punkt müssen wir nach jemand anderem gucken. Das ist einfach nicht mein Gebiet“. Auf der anderen Seite finde ich, Fachwissen gibt auch total viel Sicherheit.
Woran merken Sie, dass für Sie eine Grenze erreicht ist?
Mein vegetatives Nervensystem ist da sehr zuverlässig, z. B. wenn ich merke, ich bekomme Herzklopfen oder Kopfschmerzen. Aber meistens merke ich es an meinen Reaktionen, also wenn ich anfange, „eckig“ zu werden, dann weiß ich, dass meine Schutzmechanismen einsetzen und die distanzierte Beschützerin die Wände hochzieht.
Man sollte also seine individuellen Anzeichen gut kennen.
Das ist das A und O.
Vielen Dank für das Gespräch!
Über Zoë Robens:
Zoë Robens ist promovierte Psychotherapeutin und lebt im Rheinland.
Mit der gleichen großen Leidenschaft, mit der sie abends oft an ihrem Schreibtisch sitzt und in der Welt von Geschichten und Gedichten versinkt, arbeitet sie tagsüber als Verhaltenstherapeutin mit Kindern, Jugendlichen und jungen Erwachsenen.
Mehr Infos findest du unter: www.federkielundtintenfass.de
Zum Weiterlesen:
(Werbung) Robens, Zoë (2024). Die Labyrinth-Alben. Aufbruch aus der seelischen Dunkelheit. Weilerswist-Metternich: Dittrich.