Laufen als Therapie – Interview mit Prof. Dr. Ulrich Bartmann
Körperliche Aktivität hilft bei verschiedenen psychischen Störungen wie beispielsweise der Depression – das ist wissenschaftlich gut belegt und unumstritten. Warum sich besonders das Laufen als therapeutische Intervention eignet, wie die Lauftherapie wirkt und für wen sie geeignet ist, erklärt Prof. Dr. Ulrich Bartmann im Interview.
Was bedeutet das Laufen für Sie persönlich?
Laufen gehört für mich zu meinem Lebensalltag, um körperlich und psychisch fit und belastbar zu bleiben. Seitdem ich laufe - und das nun seit fast 40 Jahren – spüre ich einfach die Verbesserung des körperlich-seelischen Wohlbefindens durch den regelmäßigen, nicht wettkampfbezogenen langsamen Dauerlauf.
Wie sind Sie darauf gekommen, das Laufen im therapeutischen Prozess zu nutzen?
Ausgangspunkt war eine Veröffentlichung in der Zeitschrift ‚Suchtgefahren‘ (heute ‚Sucht‘). Dort wurde berichtet, dass in einer Entwöhnungsklinik Patienten, die regelmäßig zum Joggen angeleitet wurden, nach einem mehrwöchigen Lauftraining weniger Angst hatten als eine Kontrollgruppe. Das erschien mir, als bereits ausgebildetem (und damals noch nicht laufendem) Verhaltenstherapeut, so erstaunlich, dass ich der Sache intensiv nachgegangen bin. Dabei stellte ich fest, dass es eine Menge einschlägiger Studien gab, vor allem im englischsprachigen Raum, die die positiven psychischen Effekte des Laufens belegten. Daraufhin habe ich selbst mit dem Joggen begonnen, eigene Studien durchgeführt und dann an meiner damaligen Arbeitsstätte, der psychiatrischen Klinik in Warstein, den langsamen Dauerlauf bei psychisch kranken Menschen erfolgreich als Therapie eingeführt.
Warum eignet sich Laufen in Abgrenzung zu anderen Sportarten besonders gut als therapeutische Intervention?
Bewegungs- und sporttherapeutische Angebote gibt es in vielen Kliniken, häufig ohne klare Indikation und Systematik. Der langsame Dauerlauf hat gegenüber anderen Sportarten einige Vorteile:
Seine therapeutische Wirkung ist bei fachkundiger Anleitung sehr gut belegt. Er benötigt keine besonderen Einrichtungen wie z.B. eine Turnhalle oder spezielle Gerätschaften. Damit ist er zugleich eine ausgesprochen preiswerte Sportart. Neben einer fachlichen Anleitung durch ausgebildete Lauftherapeuten, sind gute Laufschuhe notwendig. Die Laufprogramme, wie z.B. mein Anfängerlaufprogramm (Bartmann, 2014), sind in der Regel Zeitprogramme. Das heißt, langsames Laufen und Gehen wechseln sich ab, z.B. 2 Minuten Joggen und danach 2 Minuten Gehen, danach wieder 2 Minuten Laufen usw. Ganz allmählich werden dann die Laufeinheiten verlängert. Damit lässt sich das Laufen hervorragend an die Belastbarkeit der Patienten anpassen. Hinzu kommt, dass Patienten, die das Laufen einmal gelernt haben, unabhängig von einem Therapeuten diese Intervention fortführen können (und sollten).
Bei den psychischen Wirkungen spielt vor allem das wachsende Selbstwertgefühl eine zentrale Rolle (…). Es wird nichts mit den Patienten „gemacht“, sondern sie „machen selbst“.
Wie wirkt Lauftherapie psychisch und physisch? Was genau ist das Ziel?
Es gibt meines Erachtens nur wenige Interventionen, die so eine umfassende psychophysische Wirkung haben wie der langsame Dauerlauf. Die körperlichen Wirkungen sind ja in der Regel bekannt: Verbesserung des Immunsystems, Reduzierung der Triglyzeride und des LDL-Cholesterins, Erhöhung des „guten“ HDL-Cholesterins, Senkung des Blutdrucks und Ruhepulses sowie des Körpergewichts, um nur die wichtigsten Faktoren zu nennen.
Bei den psychischen Wirkungen spielt vor allem das wachsende Selbstwertgefühl eine zentrale Rolle und das ist zugleich ein ganz wichtiges therapeutisches Ziel. Von Lauftermin zu Lauftermin spüren die Patienten die zunehmende Leistungsverbesserung, wenn auch in kleinen Schritten. Es findet keine Belehrung statt, sondern diese Veränderung wird erlebt. Dieses Erleben ist der zentrale Punkt bei dieser Intervention. Es wird auch nichts mit ihnen „gemacht“, sondern sie „machen selbst“ etwas. So gewinnen sie das Gefühl von Handlungskompetenz, das sich positiv auf weitere eventuelle Interventionen auswirkt. Darüber hinaus wirkt der langsame Dauerlauf depressionssenkend, angstreduzierend, stressabbauend, konzentrationsfördernd und verbessert das subjektive Wohlbefinden.
Wie reagieren Ihre Patienten darauf, wenn Sie ihnen vorschlagen, laufen zu gehen?
Das ist sehr unterschiedlich. Anfangs gibt es eine große Skepsis: „Laufen ist nichts für mich.“ oder „Laufen kann ich nicht.“ Als ich noch in der Klinik mit Patienten lief, gab es – nachdem die erste Laufgruppe entstanden war – eine Art positive „Flüsterpropaganda“, die es in der Regel erleichterte, weitere Patienten für das Laufen zu gewinnen. Kaum einer der Patienten traute sich anfangs das Ziel zu, einmal eine halbe Stunde ununterbrochen joggen zu können. Es ist in der Regel sehr viel Geduld nötig, Patienten zum Laufen zu motivieren. Dazu gehören auch immer wieder Informationen für alle Patienten über die positiven Auswirkungen des langsamen Dauerlaufs.
Für welche Patienten eignet sich Lauftherapie? Für welche nicht?
Grundsätzlich ist das Laufen für alle Patienten geeignet, wenn keine körperlichen Kontraindikationen bestehen, die es natürlich gibt. In orthopädischer Hinsicht sind dies Schäden im Bewegungsapparat, z.B. Gelenkschäden oder Fehlstellungen. Aus internistischer Sicht gehören u.a. extremer Bluthochdruck (systolisch > 200mmHg, diastolisch RR>110 mmHg), ein extremes Übergewicht (Body Mass Index >35) oder akute Herzerkrankungen zu den Kontraindikationen. Daher ist eine sportärztliche Untersuchung vor der Aufnahme eines Lauftrainings immer notwendig.
In Einzelfällen kann bei magersüchtigen Patienten eine Kontraindikation bestehen, wenn sie das Laufen ausschließlich funktionalisieren, um weiter Gewicht zu verlieren.
Gibt es psychische Störungen, bei denen Lauftherapie besonders wirksam ist?
Insbesondere bei depressiven Störungen hat sich die Lauftherapie als sehr effektiv erwiesen. In der großen randomisierten Studie von Blumenthal et al. (2006) war der Einsatz angeleiteter Lauftherapie fast genauso effektiv wie eine medikamentöse Behandlung mit Antidepressiva. Auch bei den Somatisierungsstörungen ist die Lauftherapie wegen ihrer Breitbandwirkung (Wirkung auf viele körperliche und viele psychische Störungen) besonders angezeigt, zumal diese Patientengruppe einer ausschließlichen Psychotherapie eher ablehnend gegenübersteht. Daneben hat sich die Lauftherapie bei Angststörungen und Burn out Problematiken bestens bewährt.
Wie sieht eine lauftherapeutische Einheit aus? Können Sie uns Beispiele für praktische Übungen geben?
Wie oben bereits angesprochen besteht so ein Anfänger-Laufprogramm aus einem Wechsel von langsamem Dauerlauf und Gehen. Auf diesem Wege wird der Organismus ganz allmählich auf eine zunehmende Belastung und Leistungsfähigkeit vorbereitet. Abb.1 gibt Ausschnitte aus meinem Laufprogramm wieder. Dabei bedeutet 2L = 2 Minuten Laufen und 3G = 3 Minuten Gehen. Es gibt zwei Lauftermine pro Woche und zwischen den Terminen sollen mindestens 2 Tage Pause bestehen, um dem Körper Zeit für die notwendige Anpassung des Organismus an die neue Belastung zu geben. Das vorliegende Programm hat nach 12 Wochen das Ziel, dass die Teilnehmer 30 Minuten ununterbrochen langsam laufen können.
Dieses Programm ist eine Orientierung für ausgebildete Lauftherapeuten. Es kann variiert werden. Wenn z.B. mit körperlich ganz leistungsschwachen Patienten gelaufen wird, kann man auch mit nur 1 Minute Joggen starten und bei einer leistungsstärkeren Gruppe könnten am 1. Tag die 3 Gehminuten auf 2 verkürzt werden.
Ganz wichtig ist das wirklich langsame Laufen, das nicht schneller ist, als ein zügiges Gehen. Der Unterschied zum Laufen besteht in der „Flugphase“, d.h., beim Laufen sind – im Gegensatz zum Gehen – einmal pro Laufschritt beide Füße in der Luft. Der Lauftherapeut muss zusehen, dass er alle Teilnehmer im Blick hat. Sobald bemerkt wird, dass ein Laufanfänger kurzatmig wird, muss ggf. eine Gehpause eingelegt werden, bei der dann so getan wird, als wäre sie im Laufprogramm vorgesehen. Die Teilnehmer sollen somit jeden Lauf für sich als Erfolgserlebnis verbuchen.
Am Ende eines Laufs steht immer eine Gehphase und die gesamte Laufeinheit wird mit systematischen Dehnübungen abgeschlossen.
Findet die Lauftherapie eher im Einzel- oder Gruppensetting statt?
In der Regel findet Lauftherapie im Gruppensetting statt. Dabei kommen natürlich auch positive gruppendynamische Prozesse zum Tragen. In Einzelfällen lässt sich die Lauftherapie auch als Einzeltherapie durchführen. Das ist natürlich weniger ökonomisch und auch die gruppendynamischen Effekte gehen verloren.
Muss man bestimmte Voraussetzungen für die Ausbildung zum Lauftherapeuten erfüllen, z.B. besonders sportlich sein?
Die Voraussetzungen, die ich an Ausbildungskandidaten habe, sind vor allem die Befähigung zu einem fürsorglichen Umgang mit Klienten. Dies ist in der Regel durch einen psychosozialen Beruf (Erzieher, Sozialpädagogen, Krankenpflegeberufe, Psychologen, Ärzte) gegeben. Aber auch Menschen, die sich z.B. ehrenamtlich für andere Menschen engagiert haben, erfüllen diese Voraussetzung.
In sportlicher Hinsicht sollen sie in der Lage sein, eine Stunde ununterbrochen langsam zu laufen. Irgendwelche Nachweise von Leistungsläufen sind nicht erforderlich. Erfahrungsgemäß haben es leistungsorientierte Läufer in der Weiterbildung ungleich schwerer den langsamen Dauerlauf – wie er in der Lauftherapie zum Einsatz kommt – zu erlernen als die nicht leistungsorientierten Läufer.
Quellen:
Bartmann, U. (2014). Laufen und Joggen für die Psyche (6. überarbeitete und erweiterte Auflage). Tübingen: dgvt-Verlag.
Blumenthal, J. A., Babyak, M. A., Doraiswamy, P. M., Watkins, L., Hoffman, B. M., Barbour et al. (2007). Exercise and Pharmacotherapy in the Treatment of Major Depressive Disorder. Psychosomatic Medicine 69 (7), 587-596.