„Ich kann nur ein guter Therapeut sein, wenn ich mein eigenes Leben lebe.“

Holzsteg durch Felsen und Graslandschaft

Wie findest du als junge*r Psychotherapeut*in deinen eigenen Weg? Wie gehst du mit persönlichen Krisen um? Und warum ist es gut, einen Plan B zu haben? Der Psychotherapeut Victor Chu spricht im psylife-Interview über seine 45-jährige Berufserfahrung und darüber, warum es wichtig ist, das eigene Leben mit Höhen und Tiefen kennen zu lernen.

Herr Chu, warum sind Sie Psychotherapeut geworden?

Von meinen Eltern war ich eigentlich dazu bestimmt, Arzt zu werden. Das Medizinstudium fiel mir nicht schwer, aber im klinischen Studium merkte ich, dass ich nicht am Krankenbett stehen und Tabellen ablesen, sondern direkt mit den Patient*innen arbeiten wollte. Ich erinnerte mich zufällig an eine Artikelserie in einer Zeitschrift über Psychoanalyse. Das hat mich interessiert! Ich habe mich in das Statistikseminar bei den Psycholog*innen gesetzt. Das ist ja eigentlich das trockenste Seminar für Psychologiestudent*innen, aber für mich war das total anregend. Ich habe sogar den Schein gemacht – und dann beschlossen, Psychologie zu studieren. Medizin habe ich parallel fertig studiert, aber sie hat mich gelangweilt. In Psychologie war ich in meinem Element und schwamm wie ein Fisch im Wasser.

Victor Chu

Nach dem Studium wollte ich – wie die meisten Psychologiestudierenden – in die Psychotherapie. Damals gab es nur die Psychoanalyse und Verhaltenstherapie. Die Gesprächstherapie nach Rogers kam grade heraus. Ich wollte eigentlich Psychoanalytiker werden, habe auch die Zulassung für die Ausbildung bekommen und eine Gruppenanalyse angefangen. Ich stieß zufällig auf ein Büchlein von Fritz Perls über Gestalttherapie und bin in den nächsten Gestaltworkshop gegangen. Dort habe ich einen Therapeuten erlebt, der Witze gemacht und gelacht hat! Demgegenüber saßen die Analytiker, die ich in den Gruppentherapien erlebt habe, immer nur mit einem Pokerface da und haben nichts gesagt, außer vielleicht mal etwas Theoretisches. In dem Gestalttherapieseminar habe ich gedacht: „Das ist endlich mal ein menschlicher Psychotherapeut!“ So bin ich bei der Gestalttherapie gelandet.

In der Ausbildung strömen verschiedenste Eindrücke und Methoden auf einen ein. Manchmal ist man vielleicht auch hin- und hergerissen zwischen den verschiedenen Schulen. Was hat Ihnen dabei geholfen, ihren Weg zu finden?

Ich bin sehr für persönliche Freiheit und kann es mir nicht vorstellen, nur auf vorgegebenen Bahnen unterwegs zu sein. Ich habe das Glück, in einer Zeit ausgebildet zu werden, als die meisten Ausbildungsrichtlinien noch nicht so festgeschrieben waren wie heute. Klar, als Psychotherapeut*in braucht man eine solide Ausbildung. Aber man sollte sich keine Scheuklappen anlegen, sondern den Blick möglichst weit halten für andere Ansätze und Methoden, auch für Dinge, die außerhalb der Therapie liegen wie Kunst, Theater, Musik und Tanz. Wenn man sich erlaubt, sich umzuschauen, findet man, was einen wirklich packt und interessiert – und dann sich darin vertiefen, unabhängig von Ausbildungsrichtlinien.

Ich habe am Anfang meines Therapeutenseins eine Art Doppelleben geführt. Wir hatten damals in den 1960/70er Jahren das Glück, dass die Humanistische Psychologie geradezu explodiert ist. In Heidelberg, wo ich lebte, gab es damals eine Free Clinic. Dort haben wir alle möglichen Expert*innen der neuen Methoden eingeladen und alles ausprobieren können. Das machte ich nach dem Feierabend. Tagsüber arbeitete ich als wissenschaftlicher Assistent an der psychoanalytisch ausgerichteten Psychosomatischen Universitätsklinik Heidelberg. Da habe ich seriöse Therapie gemacht … beziehungsweise es versucht (lacht). Ich hatte auch das Glück, dass sich das frisch gegründete Institut von Helm Stierlin direkt ein Stockwerk unter meiner Arbeitsstätte befand, so dass ich die damals neue Familientherapie direkt mitbekommen durfte.

Irgendwann wurde der Direktor von der Uniklinik darauf aufmerksam, dass ich nicht „auf dem rechten Weg“ war und legte mir nahe, die Stelle zu kündigen. Ich habe weitergemacht, bis ich nach einer von mir gehaltenen Vorlesung einen Fahrradunfall hatte. Zum Glück nicht sehr schwer, aber als ich im Krankenhaus lag, dachte ich: Das ist jetzt der Weckruf, um meinen eigenen Weg zu gehen. Der Unfall gab mir den Anstoß, die akademische Laufbahn zu verlassen und meinen eigenen Weg zu gehen. Ich machte mit zwei Kolleginnen eine Privatpraxis, später eine Kassenpraxis auf, wurde Ausbilder für Gestalttherapie. Als Ausgleich gab ich Tai Chi Unterricht. Das Bücherschreiben kam später hinzu. Also habe ich mittlerweile drei Berufe (lacht). Es ist schön, so vielfältig arbeiten zu können. Den ganzen Tag mit Klient*innen zu sitzen, wäre mir zu eintönig.

Frau steht auf langem Holzsteg, der ins ein Gewässer ragt. Am Horizont sind Boote.

Das klingt nach einem lebenslangen Prozess… gibt es den Punkt, an dem man als Therapeut*in „fertig“ ist?

Das Wesentlichste im Therapieberuf ist, dass wir unser eigenes Werkzeug sind! Wir wenden nicht bloß angelernte Techniken an, wir arbeiten mit unserer eigenen Person. Ich biete meinen Klient*innen meine eigene Person und meine eigene Lebenserfahrung an. Je älter ich werde, desto mehr greife ich in der Therapie auf meine eigenen Lebenserfahrungen zurück. Ich kann meinen Klient*innen nur das geben, was ich bin, kann und kenne.

Das Zweite, was wichtig ist: Eine Therapie ist immer eine Begegnung zwischen zwei Menschen. Meine Aufgabe ist es, die Person mir gegenüber zu erfassen und widerzuspiegeln. Uns sind immer nur bestimmte Seiten bewusst. Durch die Widerspiegelung eines anderen Menschen können wir uns vollständiger erkennen. Durch meine Rückmeldungen können Klient*innen sich mehr und mehr kennenlernen und für sich selbst herausfinden, was für sie gut ist. Deshalb ist Selbstverwirklichung für die Humanistische Psychologie das eigentliche Therapieziel. Das Schönste ist, wenn ich Klient*innen darin unterstützen kann, sich selber und ihren eigenen Weg zu finden.

Lächelnde Frau steht am Meer

Und da kommen wir zurück zum Anfang: Ich muss selbst meinen eigenen Weg im Leben finden. Dann kann ich die Klient*innen unterstützen, ihren Weg zu finden. Das kann ein ganz anderer Weg sein als meiner. Dafür brauche ich Toleranz und Akzeptanz.

Welche Rolle spielt dabei Selbsterfahrung und eigene Therapieerfahrung?

Das ist das A und O! Das Entscheidende für den Beruf ist, dass ein*e Therapeut*in aus sich heraus und durch sich hindurch wirkt. Das macht meiner Ansicht nach eine*n gute*n Therapeut*in aus.

Echtheit ist für mich eine ganz grundlegende Voraussetzung für Therapie. Dazu ein persönliches Erlebnis: Einmal bekam ich zuhause einen Anruf von einem Klienten. Meine Frau war zufällig zugegen und sagte mir hinterher: „Wenn du mit deinen Klienten spricht, hast du eine ganz andere Stimme, als wenn du mit mir oder den Kindern sprichst.“ Das hat mich schockiert. Da musste ich mich fragen, ob ich als Therapeut nicht eine Rolle spiele: „Obacht! Vielleicht bist du als Therapeut nicht ganz echt!“ Seither denke ich, ich kann nur ein guter Therapeut sein, wenn ich in der Therapie so bin, wie ich auch im Privatleben bin. Ich muss mein eigenes Leben gut leben und versuchen, meine Fehler auszumerzen. Ich kann kein besserer Therapeut sein als der, der ich im Alltag bin.

Dazu noch zwei Beispiele: Ein sehr bekannter Kollege war ganz stolz darauf, dass er eine große Klinik übernahm. Zur gleichen Zeit erfuhr ich, dass seine Frau, mit der er Kinder hatte, gerade die Scheidung eingereicht hatte. Da klaffte das Berufliche und das Private auseinander! Wie ein Mensch wirklich ist, zeigt sich in seinem Privatleben. Im Beruf kann man anderen vieles vormachen. Ein anderes Mal bekam ich auf einer Tagung während einer Pause in einem Restaurant zufällig mit, wie am Nebentisch ein Kollege erzählte, wie sehr er seine Klient*innen beneide, die geheilt von ihm gingen. Er selbst bleibe aber in seinem Elend zurück. Auch hier klafft etwas auseinander. Das ist schade! Ein*e Therapeut*in muss nicht total heil sein, bevor man in den Beruf einsteigt. Aber man sollte kontinuierlich an sich selbst arbeiten. Nur wenn wir selbst im Prozess bleiben, können wir unsere Klient*innen anregen, sich auf den Weg der Veränderung zu begeben.

Was ist, wenn das Leben dazwischenkommt, z.B. eine Trennung oder eine schwere Erkrankung?

Dahinter steckt die Annahme: man müsse psychisch fit sein, um andere behandeln zu können. Aber so ist es nicht. Es ist völlig in Ordnung, einem Klienten zu sagen: „Heute geht es mir nicht besonders gut. Es könnte sein, dass ich nicht so aufmerksam bin.“ Unsere Klient*innen merken, genauso wie unsere Kinder, wie es uns geht. In den Zeiten, in denen man es schwer hat, sollte man sich Hilfe holen. Das muss nicht immer Therapie sein, aber man sollte dafür sorgen, dass man gut durch die Krise kommt.

Frau sitzt nachdenklich auf einem Sofa

Es gibt natürlich Punkte im Leben, in denen man so tief in der Krise steckt, dass man nicht mehr arbeiten kann. Dann sollte man auch eine Pause machen und sagen, es tut mir leid, ich bin krank oder ich muss mich zurücknehmen. Ich habe selbst während meiner Berufstätigkeit jede Menge Therapie gemacht und schwere körperliche Erkrankungen überstanden, derentwegen ich drei Monate aussetzen musste. Ich habe auch ein halbes Jahr pausiert, als unser erstes Kind geboren war.

Sie schreiben in ihrem Buch, dass Pausen und Auszeiten wichtig sind – und dass man neben der Psychotherapie einen Plan B haben sollte. Warum ist der Plan B so wichtig?

Die Psychotherapie ist ein sehr spezialisierter Beruf und hat ein sehr enges Tätigkeitsfeld. Es kann im Leben durchaus vorkommen, dass man merkt, dass man keine Lust mehr hat. Dann ist es gut, mal etwas anderes zu machen. Eine Kollegin von mir hat z.B. eine Zeit lang umgesattelt und zusammen mit ihrer Freundin ein Geschäft für Hochzeitsmoden aufgemacht. Das hat sie für etliche Jahre erfolgreich geführt und ist dann in die Psychotherapie zurückgekehrt. Sie brauchte das! Mein Vater hat Restaurants betrieben, daher habe ich selbst einen Hang dazu. Mein Plan B war immer, eine chinesische Imbissbude zu betreiben (lacht).
 

Die haben Sie aber nie aufgemacht - oder?

Nein, diese Geschäftsidee ist inzwischen durch die vielen Asia-Woks überholt.
 

Wenn Sie noch mal in der Zeit zurückreisen könnten, würden Sie etwas anders machen?

Ja, ich würde weniger arbeiten und mehr Zeit mit meiner Familie verbringen! Ich war zu sehr verliebt in meinen Beruf. Es war auch gut so, aber ich habe schon einiges versäumt, was sich nicht rückgängig machen lässt. Heute versuche ich, mehr Zeit mit meiner Frau, meinen erwachsenen Kindern und meinen Enkelkindern zu verbringen.

Kind sitzt bei seinem Vater auf den Schultern

Was würden Sie mir und anderen jungen Psychotherapeut*innen aus Ihrer Erfahrung heraus mit auf den Weg geben wollen?

Leben! Lebenslust! Lebensfreude! Alle Gefühle kennenlernen! Nicht nur Freude, Ekstase oder Heiterkeit, sondern auch Traurigkeit, Wut, Verzweiflung… alles! Also das Leben in vollen Zügen genießen und erleiden. Bewusst leben. Wenn wir das Leben in seiner ganzen Höhe und seiner ganzen Tiefe erleben, landen wir schnell bei der Frage nach dem Sinn des Lebens. Der Sinn des Lebens besteht meiner Meinung nach darin, dass wir es voll leben. Das, was wir in der Therapie an Klient*innen weitergeben, sollte wie ein Überfließen sein. Es ist nichts, was man mit Mühe aus sich selbst heraussaugen muss. Es sollte vielmehr aus der eigenen Person überfließen.

Vielen Dank für das schöne Interview, Herr Chu!

Zum Weiterlesen:

[Werbung] Chu, Victor (2021). Briefe an einen jungen Therapeuten - Einblicke in das Herz der Psychotherapie. Stuttgart: Schattauer Verlag.

Und auf der Homepage von Victor Chu: www.vchu.de