Sinn und Unsinn von Religiosität – Sinnfragen in der Psychotherapie begegnen

Die Silhouette einer Person vor einem Sternenhimmel bei Nacht.

Nicht jeder Mensch ist religiös oder spirituell, aber jeder Mensch stellt sich irgendwann die Frage nach dem Sinn des Lebens. In krisenhaften Zeiten kann Glaube helfen und Orientierung bieten. Dabei ist die Suche nach einem passenden Sinnsystem in unserer heutigen Gesellschaft manchmal herausfordernd – und das richtige Maß zwischen Vertrauen und Zweifel ein Balanceakt. Wie du Fragen nach Sinn und Religiosität in der Psychotherapie begegnen kannst. 

Herr Gross, früher galt die Auffassung: „Religion hat in der Psychotherapie nichts zu suchen“ – was halten Sie aus heutiger Sicht davon? 

Ein nicht unbeträchtlicher Teil (vor allem der älteren) Psychotherapeut:innen waren und sind Atheisten oder Agnostiker. Das hat sicher auch damit zu tun, dass Sigmund Freud Religion für eine Art „kollektive Zwangsneurose“ hielt, und auch bei den meisten Verhaltenstherapeut:innen spielten Religion und Religiosität keine zentrale Rolle. Diese Sichtweise setzte sich dann auch in vielen Psychotherapieausbildungsgängen bis in die 90er Jahre durch. Das hat sich in den letzten Jahrzehnten allmählich geändert. 

In einer Umfrage, die ich zusammen mit Henning Freund 2015/16 und dem „BDP-Arbeitskreis Religionspsychologie, Spiritualität und Psychomarkt“ an fast 200 Psychotherapie-Ausbildungsinstituten durchführte, zeigte sich, dass der Stellenwert von Religiosität, Spiritualität und Sinnfragen in den PT-Ausbildungen gravierend zugenommen hat (siehe Gross & Freund, 2017). Der Umgang mit Religion und Spiritualität in der konkreten therapeutischen Praxis ist allerdings sehr unterschiedlich: Zwar stehen heute die Themen Religion und Sinnfragen in vielen Therapieprozessen im Raum – manchmal offen, meist aber so verdeckt, wie der sprichwörtliche rosa Elefant, den man nicht wahrhaben will und über den man deshalb auch nicht spricht.  

Mitunter tauchen erst am Ende einer Psychotherapie die Sinnfragen auf (wenn die krankheitswertige Symptomatik weitgehend bearbeitet ist). Bei anderen Patient:innen ist Religiosität ein sehr ich-nahes (und damit nicht selten schambesetztes) Thema, worüber ebenfalls nur ungern gesprochen wird. Und bei wieder anderen steht das Leiden unter den rigiden religiösen Vorgaben und Pflichten, denen man nicht nachkommen kann oder will, im Vordergrund (z. B. bei Patient:innen aus streng christlichen Elternhäusern oder bei ehemaligen Sektenmitgliedern). 

Generell gilt auch bei diesem Thema: Was Patient:innen an offenen Themen mitbringen, damit sollte man in der Psychotherapie auch arbeiten. Deshalb ist ein sensibler Umgang damit notwendig: Also die Themen nicht voreilig konfrontativ und aufdeckend ansprechen, sondern nur mit dem, was die Patient:innen von selbst einbringen. 

Würden Sie sagen, dass jeder Mensch in irgendeiner Form spirituell ist? 

Nein, das glaube ich nicht. Aber jeder stellt sich irgendwann die Frage nach dem Sinn: Wer bin ich? Was soll ich hier? Was will ich hier? Was ist für mich ein erfülltes Leben? Woraus schöpfe ich Sinn? Schließlich: Wie bin ich in diese Krise geraten, die mich zur Psychotherapie gebracht hat?  

Eine Frau hat betend die Hände gefaltet, im Hintergrund ein sonnendurchfluteter Park.

Ob ich darauf eine religiöse/spirituelle Antwort suche oder eine tiefgründig philosophische oder nur eine oberflächlich banale, das hängt von meiner Lebensgeschichte und meinen Erfahrungen mit Religion ab: War mein Gott aus der Kindheit ein liebender, beschützender Gott oder ein Richter- und Buchhalter-Gott, der all meine Sünden notiert hat und mir zum jüngsten Gericht präsentieren wird? Oder habe ich gar kein festes Gottesbild, sondern glaube – wie in den fernöstlichen Religionen – an eine (göttliche) Lebensenergie (Chi, Brahman, TAO)? Oder bin ich eher materialistisch-naturwissenschaftlich orientiert und glaube an die evolutionäre Entwicklung des Menschen?  

Welche gesundheitsförderliche Wirkung können Religion oder Spiritualität haben? 

Wenn ich aus meinem Glauben so etwas wie Urvertrauen ziehen kann und ihn als wirkliche Ressource erlebe, dann habe ich – das ergeben verschiedene Studien (z. B. Koenig et al., 2001, zitiert nach Marion Schowalter, Würzburg) - eine höhere Lebenszufriedenheit. Ernsthaft und tiefgründig Gläubige leiden weniger unter Depressionen, Ängsten, psychosomatischen Erkrankungen und Sucht. Sie haben ein geringeres Krankheitsrisiko und erholen sich auch nach Krankheiten besser. Sie sind empathischer, zugewandter und mitfühlender. Und sie haben weniger Angst vor dem Tod.  

Religion kann also Gläubigen in Zeiten der Not und Verzweiflung, Hoffnung und Orientierung geben. Diese Unterstützung funktioniert aber nur, wenn man wirklich vertrauensvoll und ernsthaft glaubt.  

Allerdings ist echt, ernsthaft und tiefgründig Glauben nicht so einfach, wie es scheint. Leichter scheint es zu sein, sich selbst vorzumachen, man würde schon ausreichend glauben, und wenn man dann in eine wirklich tiefgreifende Krise gerät, ist das so etwas wie die Nagelprobe: Reicht dann mein Glaube und gibt mir ausreichend Kraft, um mit der Verunsicherung klarzukommen und so etwas wie Urvertrauen zu entwickeln? Da das ein innerer und ganz subjektiver Prozess ist, muss man lernen mit dem eventuell vorhandenen Zweifel angemessen umzugehen. Denn Gewissheit und Zweifel sind ein Gegensatzpaar, das zusammengehört und reflektiert und abgewogen werden will: Glaubst du noch oder weißt du schon?  Letzten Endes geht es darum, was meine innere Wahrheit ist. Und wie heißt es doch so schön: „Die Wahrheit geht manchmal unter – aber sie stirbt nicht“. Und man kann im Glauben aufgehen, aber auch im Glauben untergehen. 

Wie sieht es mit negativen Einflüssen für die psychische Gesundheit aus? 

Wenn ich Religion zu ernst nehme, kann ich mir mit überstrengen religiösen Pflichten das ganze Leben vermiesen und mich quälen. Wenn ich mir aus Angst vor Gottes Strafe den Spaß und die Lust am Leben verbiete („weil Christus für mich am Kreuz gestorben ist und das Leid in der Welt so groß ist, darf es mir nicht gut gehen“) oder ich z. B. versuche, in allem Jesus nachzufolgen („sein Apostel sein“), dann kann das der religiöse Terror des Ideal-Ichs sein, mit dem ich mich selbst kasteie. 

Menschen mit religiösen Zwangsgedanken können unter der chronischen Angst, moralisch falsch zu handeln, leiden. Sie fürchten, sich durch das Unterlassen bestimmter Handlungen (z. B. Beten) oder durch das Ausführen bestimmter Tätigkeiten (z. B. Masturbation) zu versündigen. Das hängt in hohem Maß damit zusammen, was für ein Gottesbild ich habe: Der Richter- oder Leistungs-Gott, der wie ein Buchhalter auch alle meine schlechten Seiten und meine Verfehlungen notiert und beim jüngsten Gericht dann mir alles vorhält: So kann aus der Froh-Botschaft eine Droh-Botschaft werden. 

Man sieht eine Frau in Nahaufnahme, die mit einer Perlenkette, an der ein Kreuz hängt, den Rosenkranz betet.

Im schlimmsten Fall kann ein überstrenges religiöses Über-Ich zu diversen seelischen Erkrankungen („Ecclesiogenen Neurosen“) führen: Zwangserkrankungen, Depressionen, Ängsten, Psychosomatosen, Sucht… 

Deshalb ist es wichtig, das richtige Maß zwischen Glauben und Vertrauen einerseits und Zweifeln andererseits hinzubekommen: Es kann eine Gnade sein, wirklich glauben zu können. Weiter bringen uns allerdings oft die Zweifel.  

Also kann tiefer und ernsthafter Glaube einerseits helfen, andererseits sind auch Zweifel wichtig. Wie findet man da eine gute Balance? 

Darauf gibt es keine schnelle und allumfassende Antwort, weil es sich um einen Prozess zur Individuation handelt. Man könnte sagen: Das ist keine leicht zu fahrende, eingeebnete Straße, sondern die Wege durch emotionale Wüsten und undurchdringliche Gefühlsurwälder entstehen erst beim Gehen. 

In meinem Buch „Meinetwegen – nenn es Gott: Sinn und Unsinn Religion und Religiosität“ gibt es ein ganzes Kapitel, in dem ich die vielfältigen Antworten dazu genau beschreibe.  

Verkürzt könnte man sagen: Verliere nicht die Hoffnung und das Urvertrauen – aber mache dir keine Illusion. Also: Glaube und vertraue mit Vernunft. 

Die Muslime sagen: Vertraue auf Allah, aber binde deinem Kamel die Füße. Und du musst ja nicht deinen Kopf direkt in den geöffneten Rachen eines Löwen legen.“   

Was sollte ich als Psychotherapeutin beachten, wenn Religion zum Thema wird? Welche Grenzen gilt es ggf. zu wahren? 

Das Wichtigste ist, achtsam zu fragen, um einen Zugang zu den inneren Sichtweisen der Patient:innen zu finden. Es gibt im Judentum einen Satz, der die Haltung ganz gut beschreibt: „Du bist näher bei Gott, wenn du eine Frage stellst, als wenn du eine Antwort gibst“.  

Also: Keine missionarischen Ambitionen. Interessiert zuhören, statt zu predigen, und die Patient:innen da abholen, wo sie stehen, nicht da, wo man sie hinbringen will. Und vergiss nicht: Wenn dir ein Mensch Zugang zu seinem Innersten erlaubt, betrittst du heiligen Boden. 

Wie kann ich Religion und Spiritualität als Ressourcen in der Psychotherapie nutzen? 

Der erste Schritt ist, dass ich meine eigene Position geklärt habe – egal ob ich gläubiger Christ, Buddhist, Atheist oder Agnostiker bin. Je mehr ich meine innere Haltung kenne, weil ich sie bewusst entwickelt und reflektiert habe, umso mehr kann ich mich in die Haltung der Patient:innen einfühlen – wie verschieden sie auch zu meiner philosophischen oder religiösen Grundhaltung sein mag: Die Welt ist schließlich groß genug, dass jeder auf seine Weise darauf (Un-)Recht haben kann.

Zwei Hände umfassen sechs Kärtchen, auf denen die religiösen Symbole für das Christentum, den Islam, Judentum, Buddhismus, Hinduismus und Taoismus abgebildet sind

Außerdem ist es natürlich hilfreich, wenn ich etwas über die Grundannahmen der verschiedenen Religionen weiß, um zu verstehen, wie der Patient, der gerade vor mir sitzt, wohl „tickt“, wie er also religiös, spirituell oder philosophisch sozialisiert wurde. Dabei sind die konkreten Glaubensinhalte weniger wichtig als die Frage, wie viel Urvertrauen der Patient durch sein Glaubenssystem entwickeln konnte – egal, ob er Christ, Muslim oder Atheist ist. 

Welchen Stellenwert werden diese Themen Ihrer Meinung nach künftig in der Psychotherapie haben? Was würden Sie sich wünschen?

Sinnfragen werden weiterhin eine wichtige Rolle spielen. Je komplexer und vielschichtiger unsere Gesellschaft wird und je mehr wir konfrontiert werden mit den unterschiedlichsten religiösen Sinnsystemen, umso mehr werden wir selbst entscheiden müssen, woran wir glauben und uns orientieren: Statt der heiligen Einfalt werden wir wohl zurechtkommen müssen mit der religiösen Vielfalt.  

Diese einmalige, weltweit gültige und auf ewige Zeiten angelegte Religion, die zu allen Personen in den verschiedenen Kulturen passt und von allen angenommen werden kann, wird es wohl nicht mehr geben. Schon jetzt sind die Identitäten der heute heranwachsenden Menschen in vielen Kulturen fragiler als in früheren Generationen. Viele junge Menschen sind auf der Suche nach dem für sie passenden Sinnsystem, ohne dass sie sich darauf endgültig festlegen (lassen). Und sie basteln sich schon heutzutage ihre religiös-philosophischen Sichtweisen aus den diversen Glaubensrichtungen zusammen – da ein paar Elemente aus dem Christentum, hier ein bisschen Buddhismus und Diverses aus der Esoterikszene: Von Astrologie über Edelsteintherapie und Reiki bis hin zu indianischen Ohrkerzen und Schamanismus reicht die Palette der spirituellen Angebote, aus denen sie sich bedienen. Sie sprechen auch heutzutage nicht so gern von Religiosität, sondern lieber von Spiritualität. Denn Religion sagt: Du sollst. Spiritualität sagt: Du darfst. Und sie wollen nicht glauben müssen, sondern selbst herausfinden und bestimmen, was sie glauben.  

Und genau mit diesen Themen werden wir zukünftig in unserer Praxis durch Patient:innen konfrontiert werden. Je mehr sich diese „Patchwork-Identitäten“ verbreiten, umso mehr wird es den Wunsch geben, die verschiedenen Persönlichkeitsanteile zu verstehen, zu integrieren und zu synthetisieren. Und dazu können die Religionen als Sinnsysteme Angebote machen und – wenn sie attraktiv sind - Verwendung finden. 

Vielen Dank für das Gespräch, Herr Gross! 

 

Zum Weiterlesen:  
(Werbung.) Gross, Werner (2024).  Meinetwegen – nenn es Gott. Sinn und Unsinn von Religion und Religiosität. Berlin: Springer.  

Quellen: 
Gross, W. & Freund, H. (2017). „Existenzialien“: Sinnfragen in der Ausbildung. VPP Aktuell, 39, S. 8-11. 

Koenig, H. G., Larson, D. B. & Larson, S. S. (2001). Religion and Coping with Serious Medical Illness. The Annals of Pharmacotherapy, 35, 352-359; zitiert nach Marion Schowalter, Würzburg 

Über Werner Gross:  

Werner Gross ist Psychotherapeut, Supervisor, Coach, Buchautor und Unternehmensberater. Er leitet seit 1979 eine psychologische Praxis ursprünglich in Frankfurt/Offenbach und war  von  1999 bis 2022 im Gründungs- und Leitungsteam des Psychologischen Forums Offenbach (PFO). Seit 2022 führt er eine Privatpraxis in Gelnhausen. Werner Gross ist anerkannter Supervisor durch die Psychotherapeutenkammer Hessen , Deutsche Fachgesellschaft für tiefenpsychologisch fundierte Psychotherapie (DFT), Wiesbadener Akademie für Psychotherapie (WIAP), Deutsche Gesellschaft für Positive und Transkulturelle Psychotherapie (DGPP), World Association for Positive Psychotherapy (WAPP), Berufsverband Deutscher Psychologen (BDP), u.a. Seit 1985 gibt er Supervision, Coaching und Organisationsberatung für Unternehmen, Institutionen und Behörden und ist Lehrbeauftragter für Psychologie an verschiedenen Hochschulen. 

Weitere Infos findest du unter: https://wernergross.org/