Transgeschlechtlichkeit: Wie hilfst du Betroffenen in deiner Praxis?

Ein Mann mit rot lackierten Fingernägeln hält das Transgender-Symbol vor sich.

Das Thema trans* ist für viele Menschen mit Unsicherheit verbunden, auch aus Unkenntnis heraus, die oftmals selbst vor Therapeut:innen nicht Halt macht. Während Depressionen oder Ängste zum Tagesgeschäft zählen, bildet Transgeschlechtlichkeit eher die Ausnahme. Was gilt es zu beachten für einen achtsamen Umgang mit den Klient:innen?

Warum rede ich von Transgeschlechtlichkeit? Bei diesem Begriff fließt der heutige wissenschaftliche Stand mit ein, dass Betroffene mit einer Variante der Geschlechtsentwicklung leben. Der ICD-11 streicht daher auch den Begriff „Transsexualität“, der in der Fehlannahme entstand, es handele sich um eine Variante der Homosexualität. Der Begriff „Transidentität“ hingegen suggeriert eine Willenserklärung, stilisiert trans* eher zu einem Politikum. Hier findet sich folglich auch GNC (Gender nonconformity), also eine soziokulturell geprägte Transidentität, z. B. Menschen, die äußerlich nicht den gesellschaftlichen Normen in Bezug auf Geschlechtlichkeit entsprechen.

 

Warum kommen transgeschlechtliche Menschen in Therapie?

In der therapeutischen Praxis haben wir überwiegend mit transgeschlechtlichen Menschen zu tun, die Hilfe suchen, um den Weg einer körperlichen Geschlechtsangleichung zu gehen. Ein Weg übrigens, der bereits in der Antike bekannt war: Menschen, Eunuchen, Verschnittene, die sich aus freien Stücken einer Kastration unterzogen. Es war die altertümliche GaOP (geschlechtsangleichende OP), die auch durch Unterbindung der Testosteron-Produktion eine Feminisierung des Körpers zur Folge hatte. „Modern“ ist trans* also definitiv nicht.

Um heute diesen Weg (auf legalem Weg) zu gehen, benötigen Betroffene ein Indikationsschreiben (und damit verbunden auch eine Diagnose), mit welchem zunächst die Verschreibung von Hormonen möglich wird. Aus meiner Erfahrung als Trans*Beraterin sehe ich hier eine große Hürde, die immer wieder von Therapeut:innen gescheut wird. Es fehlt vielen Fachleuten die Sicherheit einer Diagnose. Zu ICD10 F64.0 gibt es als diagnostische Leitlinien lediglich die Anforderung, dass der Zustand seit mindestens 2 Jahren durchgehend bestehen muss und nicht als Symptom einer psychischen Störung (z. B. Schizophrenie) auftreten darf.

Aus therapeutischer Sicht eine sehr unbefriedigende Leitlinie. Sie zwingt dazu, sich auf die Aussage von Betroffenen zu verlassen. Genau dies widerspricht aber eigentlich jeder therapeutischen Praxis, in der die Eigendiagnosen von Patient:innen grundsätzlich genau zu hinterfragen sind. Hier sollte jedoch klar sein, dass transgeschlechtliche Menschen allgemein keine Klient:innen mit einer psychischen Störung sind!

Eine Indikation durch Psychotherapeut:innen oder Psychiater:innen für eine Hormonersatz-Therapie (HET) mit gegengeschlechtlichen Hormonen sowie für eine geschlechtsanpassende OP ist gegeben, wenn das durch Geschlechtsdysphorie hervorgerufene Leid nicht auf psychotherapeutischem Weg beseitigt werden kann. Die Krankenkassen schreiben hier auch Pflicht-Therapiestunden und Therapiedauer vor (HET: 6 Monate, GaOP: 12 Monate, siehe Broschüre des Deutschen Jugendinstituts).

In dem Moment, in dem Betroffene in deine Praxis kommen, haben sie ihr inneres Coming-Out (das Eingeständnis vor sich selbst) meist bereits hinter sich, wissen, wer sie sind. Oft haben sie Jahre oder Jahrzehnte mit sich gerungen. Auch bei Jugendlichen vergehen hier durchschnittlich über 6 Jahre (trans*weiblich; 4 Jahre trans*männlich).

Porträtaufnahme von Sabine Lange, im Hintergrund ist der Hamburger Hafen zu sehen.

Wie kannst du eine Diagnose absichern?

Die Diagnose F64.0 (ICD-10: „Transsexualismus“) ist klar als Ausschluss-Diagnose zu betrachten. Auch in der Fassung des ICD-11 mit HA60 wird sich daran nichts ändern. Geh zunächst einmal davon aus, dass transgeschlechtliche Menschen keine komorbide Störungsbilder aufweisen, mit Ausnahme etwa von Depressionen oder Ängsten. Diese sind jedoch meist Folgeerscheinungen, die durch gesellschaftliche, familiäre und/oder innere Ablehnung verursacht werden.

Betrachten wir Differentialdiagnosen, kommen hier vor allem schizophrene und wahnhafte Störungen in Betracht, bei denen neben vielen Identitätsstörungen auch ein Gefühl von Transsexualität zu den Symptomen zählen kann. Auch Persönlichkeitsstörungen, im Besonderen Borderline, können derartige Formen von Identitätsstörungen beinhalten. Bei der unter ICD-10 F44.81 klassifizierten multiplen Persönlichkeitsstörung kommt es auch häufig zu einem Switchen zwischen den Geschlechtern.

Diese Diagnosen sollten sich nach kurzer Zeit ausschließen lassen. Doch wäre mit Vorliegen einer anderen Diagnose automatisch auch die Diagnose Transgeschlechtlich ausgeschlossen? Einige Diagnosen können etwa durch Erleben sexuellen Missbrauchs induziert sein, wobei Täter sich oftmals Opfer suchen, die von vorgeblichen „Normen“ abweichen. Hier entstehen Komorbiditäten durch Transgeschlechtlichkeit. Hier wird es komplexer und oftmals langwieriger.

Sind differentialdiagnostisch psychische Störungen ausgeschlossen, welche die Diagnose ICD-10 F64.0 erschweren, müssen wir einen kurzen Blick auf ICD-10 F64.1 (Transvestitismus), auch als Crossdressing bekannt, und F65.1 (fetischistischer Transvestitismus) werfen. Beim fetischistischen Transvestitismus treten teils Feminisierungen innerhalb von sexuellen Praktiken auf, die auch zu Forderungen nach körperlichen Anpassungen führen können.

Die Symptome dieser Diagnosen können aber nicht als Ausschluss angesehen werden, da sie auch innerhalb der Entwicklung, der Suche nach dem eigenen Ich, auftreten können. Vom ausschweifenden Sexualverhalten bis zur Asexualität, es gibt nicht „den Weg“, nicht die klare Leitlinie für eine Diagnose.

Als Trans*Beraterin stelle ich keine offiziellen Diagnosen, analysiere die Personen, die meine Hilfe suchen jedoch sehr genau: Mit der Zeit lässt sich ein Gespür entwickeln, Erzählungen, Lächeln, Freude in ganz bestimmten Situationen. Klar ist immer, es gibt keine klaren, großen Kriterien, an denen sich Transgeschlechtlichkeit ablesen lässt. Es sind eher tausende „Kleinigkeiten“ im Leben, die den Betroffenen früher oder später selbst auffallen und eine Gewissheit heranwachsen lassen.

Eine Person hält ein Schild vor sich, auf dem "Hello, my pronouns are..." geschrieben steht.

Was macht eine Frau zur Frau und einen Mann zum Mann?

Es kommt unweigerlich die Frage auf: Was macht eine Frau zu einer Frau? Was einen Mann zu einem Mann? Eine Frage, die sich Nicht-Betroffene für ihr eigenes Leben zunächst seltener stellen werden. Betroffene werden mit der Frage häufig konfrontiert, ohne jedoch selbst eine klare Antwort geben zu können. Dennoch leben sie mit der klaren Gewissheit über ihre eigene Geschlechtlichkeit. Sie leben mit diesen tausenden Kleinigkeiten, jeden Tag, jede Stunde.

Die Unterschiede zwischen Frauen und Männern werden zunehmend genauer ergründet. Während in der Wissenschaft lange Zeit vornehmlich am männlichen Objekt geforscht wurde, bringen differenzierte Betrachtungen heute mehr und mehr Unterschiede ans Tageslicht. Erst seit wenigen Jahren steht dem männlichen „Fight or Flight“ das weibliche „Tend and Befriend“ gegenüber. Auch unterschiedliche Vernetzungen innerhalb der Hirnstrukturen sind heute ebenso bekannt wie Unterschiede im sensorischen Kortex. Der Betrachtung, dass zerebrale Unterschiede zum Vorteil von Männlichkeit ausfielen, ist eher ein pathologischer Hintergrund zu unterstellen.

„Alle Fakten weisen darauf hin, dass […] [Geschlechtsdifferenzierungen] bereits in der Gebärmutter entstehen. Man hat kleine Veränderungen der Gene entdeckt, die an der Wirkung der Hormone auf die Gehirnentwicklung beteiligt sind und auf diese Weise die Wahrscheinlichkeit von Transsexualität erhöhen. [...] Die Differenzierung unserer Geschlechtsorgane vollzieht sich in der ersten, die geschlechtliche Differenzierung unseres Gehirns in der zweiten Schwangerschaftshälfte. Da diese beiden Prozesse in unterschiedlichen Phasen ablaufen, wird die Theorie vertreten, dass diese Prozesse bei Transsexualität unterschiedlichen Einflüssen unterliegen.“ (Swaab, 2011, S. 104)

 

Diagnostizieren, begleiten und stärken

Durch die biologische Ursache der Transgeschlechtlichkeit erklärt sich auch ein Verbot von Konversionstherapien. Es geht nicht um „heilen“, es geht um Diagnostizieren und Begleiten. Und es geht um eine Vertrauensbasis. Siehst du dich in der Lage, Hormonersatz-Therapien und geschlechtsangleichende Operationen zu befürworten?

Viele deiner Klient:innen werden ihr äußeres Coming-Out (gegenüber der Umwelt) gerade erst begonnen haben, sich wenigen Familienmitgliedern anvertraut haben. Angst vor Ablehnung, Ausgrenzung oder verletzendem Verhalten bestimmen oft den Affekt. Komorbide Depressionen und Suizidalität sind vielfach durch die Umwelt verursacht. Wissen über die Natürlichkeit der Transgeschlechtlichkeit kann das Selbstbewusstsein stärken. Du kannst Ressourcen aktivieren, Glaubenssätze aus Familiensystem und Gesellschaft bearbeiten, vielleicht auch mit Innerer-Kind-Arbeit das Selbstvertrauen von Betroffenen fördern.

Als Fachexpertin und selbst Betroffene empfehle ich in meinen Schulungen, den Klient:innen Vertrauen entgegenzubringen. Nutze die gewählten Namen und Pronomen, betrachte deine Klient:innen immer im korrekten Geschlecht. Arbeite mit deinen Klient:innen an Selbstwert und Resilienz: Mache sie stark!

 

Zum Weiterlesen

Bundesverband-Trans* (2019). Leitfaden Trans* Gesundheit. Online abrufbar (Stand 03/2023) unter: https://www.bundesverband-trans.de/wp-content/uploads/2021/09/Patient_innen-Leitlinie-Trans-08_ONLINE-1.pdf

Deutsches Jugendinstitut (2015). Coming Out – und dann…?! Online abrufbar (Stand 03/2023) unter: https://www.dji.de/fileadmin/user_upload/bibs2015/DJI_Coming-out_Broschuere_barrierefrei.pdf

Swaab, Dick (2011): Wir sind unser Gehirn. Wie wir denken, leiden und lieben. Droemer-Verlag.

Transmann e.V. (2022). Therapie & Gutachten. Online abrufbar (Stand 03/2023) unter: https://transmann.de/trans-informationen/medizinisches/therapie-gutachten/