Überwunden: Eine Betroffene spricht über ihren Weg aus der Selbstverletzung

Die Arme zweier Menschen, die sich an den Unterarmen umfassen. Der linke Arm hat Narben, die mit Tattoos übermalt wurden.

Der Tätowierer Daniel Bauermeister alias Daniel Bluebird hat über die Jahre hunderte Menschen tätowiert und dabei viele Narben gesehen, die von selbstverletzendem Verhalten (SVV) herrühren. Daraus entstand die Idee, mit dem Projekt ÜBERWUNDEN Betroffene zu Wort kommen zu lassen, über Selbstverletzung aufzuklären und das Thema zu entstigmatisieren. Im Interview erzählt Saskia von ihren Erfahrungen.

Triggerwarnung: In diesem Interview geht es um selbstverletzendes Verhalten, Vorerkrankungen und Auslöser.

 

Saskia, wie bist du auf ÜBERWUNDEN aufmerksam geworden?

Das Projekt war auf Instagram sehr präsent. Ich hab mich eine Weile damit beschäftigt und dann irgendwann beschlossen: Ja, ich bewerbe mich mal!

Ich hoffe, dass es dazu beiträgt, dass selbstverletzendes Verhalten kein Tabuthema mehr ist. Dass die Leute aufgeklärter werden, offener damit umgehen, Betroffene nicht direkt abstempeln. Nach wie vor passiert es, dass man auf der Straße angestarrt wird. Viele Menschen wissen nichts über den Hintergrund, warum es zu selbstverletzendem Verhalten kommt.

 

Hast du konkrete Erfahrungen mit stigmatisierenden Reaktionen?

Ich arbeite im Krankenhaus, dort sagte mal eine Patientin: „Ach guck, eine Ritzerin. Die will wohl Aufmerksamkeit.“ In sozialen Netzwerken haben mir auch schon viele Leute geschrieben, Tenor: „Wie man sich so verunstalten kann. Man soll doch besser Drogen nehmen, das sieht man wenigstens nicht.“ Es waren schon eine Menge solcher Nachrichten.

 

Was denkst du, wenn du solche Reaktionen erhältst?

Die Person weiß es nicht besser. Aber dann macht es mich wiederum wütend und ich möchte ihr antworten, zumindest, dass die Person sich wenigstens mit dem Thema befasst und nicht irgendwelche Sachen raushaut.

Ich denke: Auch, wenn man sich selbst verletzt, weil man „Aufmerksamkeit“ möchte, braucht man Hilfe. Man sollte gehört und nicht abgestempelt werden.

 

Wie gehst du selbst mit deinen Narben und den möglichen Reaktionen um, versteckst du sie?

Am Anfang habe ich es extrem versteckt. Da bin ich auch bei 30 Grad mit langen Ärmeln rausgegangen. Dann fing ich mein FSJ im Krankenhaus an, wo man bekanntlich kurzärmlig trägt. Da habe ich zunächst langärmlig mit Weste getragen. Irgendwann bin ich drauf angesprochen worden und es wurde ein Riesenproblem. Denn Krankenhaus, Hygiene - da geht so was nicht. Fast hätte ich deswegen den Ausbildungsplatz nicht bekommen. Ab dem Punkt bin ich zumindest auf der Arbeit offener damit umgegangen.

Im privaten Umfeld kommt es drauf an, mit welchen Leuten ich mich treffe. Meine engen Freunde wissen es alle. Wenn es aber Freunde sind, mit denen ich lange nicht zu tun hatte, die meine Geschichte vielleicht nicht kennen, komm ich eher nicht kurzärmlig. Weil viele es auch einfach nicht verstehen.

Eine Collage aus einer Porträtaufnahme von Saskia inkl. Oberkörper sowie einer Nahaufnahme ihres tätowierten rechten Arms.

In welchem Alter begann dein selbstverletzendes Verhalten?

Das fing an mit zwölf. Ich hatte gerade die Klasse gewechselt. Anfangs habe ich versucht, mich mit einem Zirkel und einem Lineal zu verletzen. Als das nicht mehr gereicht hat, waren es Rasierklingen. Schon lange vorher hatte ich eine Essstörung, was ja im Prinzip auch eine Art von SVV ist. Damit fing es ursprünglich an.

 

Was war bei dir der Auslöser, damit anzufangen?

Zum einen Unstimmigkeiten in der Familie. Von meinem Vater habe ich nie das bekommen, was ich an Zuneigung wollte. Meine Mutter war eigentlich immer mit anderen Sachen beschäftigt. Zum Beispiel mit meinen Großeltern, die waren beide Pflegefälle; meine demente Oma ist es immer noch. Auch in der Schule lief es nicht rund. Ich wurde gemobbt und auch mal zusammengeschlagen. Zu der Zeit war ich auch ein bisschen fülliger. Nicht wirklich dick, aber eben auch nicht super schlank. Dann fing es an, dass ich nichts mehr gegessen habe. Und dann ging das so in das SVV über.

 

Wie bist du darauf gekommen, dass dir das SVV in dieser Situation irgendwie  „hilft“?

Das war an einem Abend, nach einem Streit mit meiner Mutter. Auch meine Eltern hatten sich miteinander gestritten. Meine Mutter ist aus der Wohnung rausgerannt. Sie sagte, sie würde jetzt mit dem Auto gegen einen Baum fahren und sich umbringen. In dem Moment wusste ich gar nicht, was ich machen sollte. Keine Ahnung, wie ich genau draufgekommen bin, aber … Ich hatte schon öfter davon gelesen, dass es Menschen gibt, die sich verletzen. Dann war da dieser Zirkel. Da fing das irgendwie an. Ich habe gemerkt, dass es mir guttut. Dass die Spannung geht. In dem Moment war ich ja extrem aufgeregt, hatte Angst, habe mich schuldig gefühlt. Die Verletzung hat mich dann eben runtergebracht.

Eine junge Frau sitzt in einem relativ dunklen Zimmer angespannt auf der Couch.

Was waren das für Situationen, in denen du gesagt hast: „Ich brauch das, ich mach das jetzt.“ Was waren die Auslöser, die das getriggert haben?

Meistens hing es mit Situationen zusammen, Dinge, die passiert sind. Ein Streit oder die Schule. Ich habe mich dann noch mehr reingeflüchtet. Dann habe ich auch traurige Musik gehört oder im Internet gesurft und gelesen. Sachen, die man in solchen Situationen besser nicht lesen sollte, die einen noch mehr runterziehen. Ich habe mir auch Bilder von Schnitten angeguckt und dachte: Okay, das mach ich jetzt auch.

 

Warum hast du es dir damals angeguckt? Hat es dich vielleicht auch zugehörig fühlen lassen?

Ich denk schon, dass es ein Gefühl von Zugehörigkeit unter Betroffenen gibt. Man ist nicht komplett alleine auf der Welt. Es gibt noch andere, die haben das gleiche Problem, denen geht es auch schlecht.

 

Kam nie das Gefühl in dir auf, dass SVV schlecht für dich ist, dass du damit aufhören solltest - oder hast du dich eher bewusst daran „festgehalten“?

Ich habe eher gedacht: „Es hilft mir, warum soll ich es nicht machen, wenn es mir damit ein bisschen besser geht.“ Andererseits ging es mir danach immer schlecht, na klar! Aber in dem Moment hat es mir geholfen. Ich habe lange nicht gesehen, dass ich Hilfe brauche.

 

Gab es sonst Menschen, denen du dich hättest anvertrauen können, wenn du gewollt hättest?

Von meinen Freunden gab es eigentlich keinen, dem ich mich groß hätte anvertrauen können. Letztendlich habe ich mich an einen Lehrer gewandt. Aber das ging dann auch eher nach hinten los, er hat dann nämlich meine Eltern informiert. Dass er sich angehört hat, was ich zu sagen hatte, hat mir aber schon geholfen. Wahrscheinlich hat es mir auch geholfen, dass er meine Eltern informiert hat. Aber in dem Moment war es natürlich blöd für mich.

 

Wie haben denn deine Eltern reagiert?

Meine Mutter ist aus allen Wolken gefallen. Die wollte nicht mehr arbeiten gehen, wollte mich eigentlich nicht mehr allein zu Hause lassen. Sie hat sämtliche scharfen Gegenstände versteckt. Sie hat jeden Abend meine Arme kontrolliert - dabei hat man ja nicht nur Arme, die man sich verletzen kann. Darüber hinaus haben sich meine Eltern gegenseitig die Schuld gegeben, dass ich sowas mache.

Eine junge Frau sitzt mit genervtem Gesichtsausdruck auf einem Sessel und wendet sich von der Frau ab, die ihr die Hand auf die Schulter legt.

Wie ging es für dich weiter, nachdem der Lehrer deine Eltern informiert hat?

Ich bin das erste Mal zu einer ambulanten Beratungsstelle. Da hatte ich ein paar Sitzungen, dann ging’s mir wieder einigermaßen okay. Nach zwei, drei Monaten ging es mir aber auch wieder viel schlechter, das mit dem Abnehmen wurde schlimmer, ich war untergewichtig.

Meine Mutter ist mir zum Kinderarzt. Der meinte, dass ich sofort eingewiesen werden müsste. Das ist dann aber so nicht passiert. Ich bin zwar in die Klinik, hab mich vorgestellt, aber ich wollte da absolut nicht hin. „Psychiatrie? Oh mein Gott, da gehörst du nicht hin.“, dachte ich. Nach einer Woche habe ich das Ganze abgebrochen. Und dann ging das ewig so weiter. Es ging mir eigentlich immer schlechter. Aber ich habe trotzdem immer „weitergemacht“. Ich bin weiter in die Schule gegangen und hab ansonsten in meinem Zimmer gesessen und geweint.

 

Was hat dir dann wirklich geholfen?

Ich habe mit dem Tanzen angefangen und meinen Freund kennengelernt. Mein Freund hat mich dazu gebracht, dass ich nochmal in die Klinik gehe und eine spezielle Borderline-Therapie mache. Die war zwar nicht stationär, was im Nachhinein wohl besser gewesen wäre, aber immerhin teilstationär. Die Therapie hat einigermaßen weitergeholfen. Kurz danach habe ich die Schule abgebrochen, weil ich da absolut nicht mehr hinwollte. Dort gingen Gerüchte um, dass ich im Knast gesessen hätte und ähnlicher Quatsch. Weil ich aber auch nicht einfach nichts machen wollte, hat mir mein Therapeut ein Praktikum in einer Ergotherapie organisiert, wo ich im Garten arbeiten konnte. Dann wollte ich mein Fachabi machen, habe aber auch das geschmissen. Daraufhin habe ich nochmal die Therapie gemacht - und eigentlich hat es dann erst richtig klick gemacht. Jetzt konnte ich die Hilfe annehmen und habe mitgemacht. Ab da ging es mir wirklich besser.

 

Was genau hat dich dazu bewegt, die Hilfe dann anzunehmen?

Es ging mir zu der Zeit richtig, richtig schlecht. Auch das Selbstverletzen war arg schlimm. Ich habe gesehen, dass auch mein Freund leidet. Wir waren da schon eine Weile zusammen, aber die Beziehung hätte nicht mehr funktioniert, wenn es so weitergegangen wäre. Meine Eltern wollten mich auch nicht mehr. So stand ich irgendwie vor dem Nichts, bis ich dachte: Ich muss mich entscheiden. Entweder mache ich so weiter und es geht nicht mehr lang gut - oder ich fange an und versuche, etwas zu ändern und Hilfe anzunehmen.

 

Wie denkst du jetzt im Nachhinein über Klinikaufenthalte?

Ich bin froh, dass es das gibt. Es hat mir wirklich viel geholfen. Wenn man sich drauf einlassen kann, dann kann das einem auch helfen. Wenn man da natürlich mit einer Abwehrhaltung - wie ich damals - rein geht, bringt das nix. Man muss verstehen, dass man sich dabei auch selbst helfen muss: In einer Klinik können sie dir ganz viele Tipps geben und dich medikamentös einstellen, aber letztendlich muss man sich selber helfen. Und wenn man das Erlernte nicht anwendet, dann bringt es eben auch nichts.

 

Auch wenn du die hier nur oberflächlich darstellen kannst: Was wären denn beispielsweise praktische Tipps?

Da gibt es z. B. das Anwenden von „Skills“. Es gibt Alternativhandlungen, die man machen kann: Man teilt seine Spannung ein von 0 bis 100. 100 ist dann eigentlich schon „zu spät“, 90 ist extrem angespannt, 0 ist normal. Auf dieser Skala teilt man sich die Skills auf. Wenn man merkt, dass die Anspannung schon bei 40 ist, geht man eine Runde spazieren. Je höher die Anspannung ist, umso krasser werden die Skills. Was mir beim Stand von 90 immer geholfen hat: den Kopf in Eiswasser stecken. Und dann Sport. Ganz viel Sport. Auch gut: In eine Chilischote beißen, diese kleinen, ganz scharfen. Das setzt Schmerzreize, verletzt einen aber nicht.

Eine durchtrainierte, schlanke Frau mit tätowiertem Oberkörper stemmt Gewichte.

Wann hast du mit dem SVV abgeschlossen?

Seit einem Jahr denke ich nicht mehr drüber nach. Klar, manchmal triggert mich irgendwas. Aber es ist nicht so, dass ich dann sagen würde: „Okay, ich such jetzt die nächste Klinge, ich muss mich jetzt irgendwie verletzen.“ So ist es nicht mehr.

 

Was würdest du jungen Betroffenen raten?

In erster Linie, dass sie sich dafür nicht schämen sollen. Dass jeder das Recht hat, sich Hilfe zu holen, Hilfe zu bekommen und dass es vor allem das Wichtigste ist, dass man sich jemandem anvertraut und nicht alles immer in sich hineinfrisst. Man kann mit manchen Sachen einfach nicht allein umgehen, da braucht man eben Hilfe. Egal, ob es gleich professionelle Hilfe ist oder Hilfe von Freunden, mit denen man reden kann oder Eltern oder Geschwister, wenn man einen guten Draht zu denen hat. Reden, finde ich, ist ganz wichtig.

 

Welchen Ratschlag hättest du wiederum für Angehörige oder Freunde?

Vor allem: keine Vorwürfe machen. Versuchen, irgendwie neutral mit dem Ganzen umzugehen. Dem Betroffenen ans Herz legen, sich Hilfe zu holen. Darauf achten, dass die Wunden versorgt sind. Es gibt viele, die sich für ihr SVV schämen, ihre Schnitte verheimlichen - und dann wachsen die nicht mehr zusammen oder entzünden sich. Darauf sollte man als Vertrauter mit achtgeben. Gleichzeitig sollte man nicht damit anfangen, den Betroffenen zu kontrollieren. Das macht’s im Endeffekt nur noch schlimmer. Es macht einem noch mehr Druck und man hat ein noch schlechteres Gewissen, wenn es doch wieder passiert.

 

Wie siehst du dein Leben jetzt, wie geht's dir zurzeit?

Aktuell geht es mir gut. Ich habe gerade einen neuen Job angefangen. Ich bin optimistisch, dass das jetzt auch mal so bleibt. Und ich bin froh.

 

Hast du noch weitere Ziele und Vorhaben für die nächsten Jahre?

Ich würde gern mal nach Thailand fahren. Und ich würde gerne meinen Schulabschluss nachholen und irgendwann Medizin studieren. Das ist eigentlich so mein Traum.

 

Vielen lieben Dank für deine offenen Worte!

 

 

Über das Projekt:

Das Buch „ÜBERWUNDEN - Tattoos auf Narben der Vergangenheit“ porträtiert acht Betroffene, die ihr selbstverletzendes Verhalten überwunden haben. In bebilderten Interviews erzählen sieben Frauen und ein Mann ihre persönliche Geschichte, von den Auslösern ihres selbstverletzenden Verhaltens und von ihrem Weg hinaus. Dabei versteht sich „ÜBERWUNDEN“ nicht als Ratgeberbuch, sondern als ein Beitrag zur Aufklärung und gegen die Tabuisierung des Themas SVV, gegen die Stigmatisierung betroffener Menschen.

 

Zum Weiterlesen:

Dies ist eine gekürzte Fassung des Textes „Jeder hat das Recht Hilfe zu bekommen“. Das vollständige Interview sowie weitere Gespräche mit Betroffenen findest du in:

Daniel Dreyer, Sabrina Peters, Daniel Bauermeister, Kai-Hendrik Schroeder, Christian Verch (2023). ÜBERWUNDEN - Tattoos auf Narben der Vergangenheit. Lüneburg: TEXT DA*. Infos und Bestellmöglichkeiten unter: www.ueberwunden.com

Wir danken den Autor:innen und dem Verlag, die uns diesen Text zur Verfügung gestellt haben!