Bindung herstellen trotz Corona: Anregungen für die Familientherapie

Zwei Schulkinder stehen mit Masken nebeneinander.

Jeder Mensch hat ein Bindungsbedürfnis. Es lässt uns Verbindungen zu anderen Menschen aufbauen und hilft uns dabei, diese zu pflegen. Doch was passiert mit Kindern und Familien, wenn sie ihre Beziehungen durch Corona nicht in gewohnter Weise pflegen können? Und was kann helfen, Verbindungen zu knüpfen?

Ich arbeite als Familientherapeutin. Und als solche blicke ich mit einer anderen Brille auf die Welt als ein Virologe, eine Ärztin, eine Musikerin oder ein Bäcker. Eltern-Kind-Bindungen und Paar-Bindungen gehören zu meinen thematischen Arbeitsschwerpunkten. So fallen mir beim Blick auf unseren aktuellen Pandemiealltag bestimmte Dinge auf.

Die Belastungen und Nachteile, die Familien durch Corona haben, begegnen und beschäftigen mich in meinem therapeutischen Berufsfeld besonders: Babys, die sich bemühen, die Mimik der anderen Menschen lesen zu lernen. Kleinkinder, die fragen, ob sie nun krank werden, wenn sie sich mit ihren besten Freund:innen treffen. Grundschüler:innen, die gerne die Großeltern beim Schulfest dabeigehabt hätten. Und Jugendliche, die sich in einer Phase, in der das Leben „da draußen“ stattfinden sollte, nicht verabreden können.

In der Praxis berichten Eltern davon, dass sie der Spagat aus Kinderbetreuung und Homeoffice innerlich zerreißt. Liebespaare berichten davon, dass das Aushandeln einer Balance zwischen Nähe und Freiraum zu einem Kampf geworden ist.

Grundsätzlich gilt auch in Zeiten einer Pandemie, was immer gilt: Wie wir eine Situation erleben und mit ihr umgehen, ist individuell. Unsere Stresstoleranz hängt von verschiedenen Faktoren ab, beispielsweise von unserem Temperament und den Erfahrungen, die wir mit unseren Bezugspersonen gemacht haben und machen. Außerdem hängt sie von der individuell wahrgenommenen Sicherheit bzw. Unsicherheit ab.

Kleines Mädchen sitzt etwas traurig hinter einem Zaun im Garten und streichelt einen kleinen Hund.

Viele Familien leben in Unsicherheit

Seit dem Beginn der Pandemie leben viele Familien mit einem hohen Maß an Unsicherheit auf verschiedenen Ebenen. Eltern sind unsicher, wie sie ihre Kinder schützen können und wie ein sinnvoller Weg zwischen Rückzug und Kontakt aussehen kann. Viele Eltern sind in Sorge über die steigende Wahrscheinlichkeit, dass sich Familienmitglieder mit dem Coronavirus infizieren und vielleicht sogar schwere Verläufe haben könnten. Sie fragen sich, wie sich Kinder und Jobs unter einen Hut bringen lassen, wenn noch einmal ein Lockdown kommt. Und auf viele Fragen der Kinder wissen auch wir Erwachsenen keine Antwort („Wann kommt mein:e beste:r Freund:in wieder in die Schule?“, „Wann hört Corona auf?“).

Eine unserer größten Ressourcen, um mit Unsicherheit und Stress umzugehen, ist der Kontakt zu anderen Menschen. Wir sind darauf angelegt, mit anderen Menschen in Verbindung zu sein. Körperkontakt, Mimik, Gestik und Merkmale der Stimme spielen dabei eine wichtige Rolle für uns. Verbindung stellen wir in unseren verschiedenen Lebensbereichen auf unterschiedliche Weisen her. In der Partnerschaft anders als in der Beziehung zu unseren Kindern, zu unseren Kolleg:innen anders als zur Nachbarin. Im Alltag kann das „miteinander in Verbindung treten" auch mal dadurch geschehen, dass wir in der Schlange beim Bäcker durch Blickkontakt, ein Lächeln oder eine Geste miteinander abstimmen, wer nun als Erstes an der Reihe ist.

Wenn wir weniger gut in den Gesichtern anderer Menschen „lesen" können, uns seltener umarmen und überhaupt berühren, wenn wir seltener Menschen sehen, dann kann das Auswirkungen auf unser Wohlbefinden haben.

Wir leben derzeit also mit einer erhöhten Wahrscheinlichkeit für das Erleben von Stress und Unsicherheit bei gleichzeitigem Wegfall einiger unserer wichtigsten Ressourcen zur Regulation dieser.

Mutter sitzt mit ihrem Sohn vor dem Rechner.

Bedürfnisse und Gefühle würdigen

In der therapeutischen Praxis zeigt sich die Unsicherheit darin, dass die Anzahl der Anfragen von Rat- und Hilfesuchenden steigt. Aus meiner Sicht ist das die Spitze des Eisberges. Viele Menschen, die keine Hilfe in Anspruch nehmen, sind an der Belastungsgrenze. Viele Mütter und Väter erwarten von sich, die Aufgaben des Alltags ohne große emotionale Wellen zu bewältigen. Sie ignorieren, wenn Körper und Seele signalisieren, dass etwas schief läuft - auch inmitten einer weltweiten Pandemie. Sie versuchen weiterzumachen, als wäre „nichts weiter".

Auch den Kindern wird an vielen Stellen nicht erlaubt, sich der momentanen Situation entsprechend zu verhalten und zu empfinden. Beispielsweise werden von den Kindern die immer gleichen Leistungen in der Schule erwartet.

Dabei hat die Pandemie uns vor Augen geführt: Wir wissen nicht, was das Leben bringt und manches liegt einfach nicht in unserer Hand.

Als Familientherapeutin kann ich meine Klient:innen daran erinnern, dass wir als Menschen über „Werkzeuge" verfügen, mit denen wir durch schwierige Zeiten rudern können - und die uns akzeptieren helfen, was sich nicht ändern lässt. Woran ich denke, ist, dass wir unsere zutiefst menschlichen Bedürfnisse würdigen und die dazugehörigen Gefühle „angemessen behandeln" dürfen. Dies impliziert, dass wir Wege suchen, unsere Bindungsbedürfnisse zu stillen, Traurigkeit und Wut Raum geben, uns Gefühle der Einsamkeit und des Vermissens zugestehen - und trauern.

Diese „Werkzeuge" sind grundlegend „menschlich" und gleichzeitig ist es für unsere Klient:innen (genauso wie für uns) eben nicht immer einfach, diese zu nutzen. Hier liegt meines Erachtens eine wertvolle Chance: Die Pandemie bietet die Möglichkeit, mit unseren kleinen und großen Klient:innen zusammen zu lernen, Mensch zu sein.

Frau zieht sich ihre Maske zurecht.

Trotz Maskenpflicht Nähe zu Klient:innen herstellen

In vielen beraterisch-therapeutischen Arbeitsfeldern finden die Termine in geschlossenen Räumen statt und das Tragen von Schutzmasken ist Pflicht. So oder so können wir schauen, wie wir aus den Momenten, in denen wir aufeinandertreffen, echte Begegnungen machen - in dem Rahmen, der angemessen und für uns möglich ist.

Wir können beispielsweise zur Begrüßung, insbesondere von Kindern, nach Absprache für einen Moment die Maske abnehmen und mitteilen: „Schau, das bin ich!" In der Arbeit mit Kindern und Erwachsenen, denen wir mit Schutzmasken begegnen müssen, können wir auch ein Foto von uns an den Pulli anstecken, auf dem wir ohne Maske zu sehen sind - und lächeln. Außerdem können wir unsere Ambivalenz transparent machen, indem wir sagen: „Es ist wertvoll, dass wir versuchen, uns (gegenseitig) zu schützen und gleichzeitig ist es so schade, dass wir unsere Gesichter nicht vollständig sehen können." Damit zeigen wir uns - auf einer anderen Ebene.

Gemeinsam „Zaubermomente“ sammeln

Die Klient:innen, mit denen wir arbeiten, dürfen wir daran erinnern, dass wir Momente brauchen, die uns gut tun. Wo lässt sich ein Funke Begeisterung aufspüren? Zu welchem Menschen zieht es uns hin und wie lässt sich der Kontakt zu ihnen derzeit gestalten? Wo fühlen wir uns gehalten in diesen bewegten Zeiten?

Mutter kochtmit ihrem kleinen Sohn zusammen Kürbissuppe.

Ich nutze gerne Illustrationen aus Kinderbüchern, um über bindungsbezogene Gefühle ins Gespräch zu kommen und diese nutzbar zu machen. In dem Kinderbuch „Ela, Elmo und die Zaubermomente" (erschienen im Mabuse Verlag) spricht die Hauptfigur von „Zaubermomenten" und zeigt, wie sie ihren magischen Beutel mit wertvollen Momenten füllt. Mit Eltern und Kindern können wir über diese „Zaubermomente" sprechen, die sie „trotz allem" sammeln konnten und können. Auch die Metapher eines „Herzfadens", der Menschen mit ihren Lieblingsmenschen verbindet - selbst wenn sie sich für längere Zeit nicht sehen können - lässt sich in manchen Sitzungen wunderbar einbauen und z. B. mit einem Seil greifbar machen.

Eltern dürfen zeigen, wie sie sich fühlen

Meiner Ansicht nach geht es nicht nur um den Kontakt, den Klient:innen zu anderen Menschen pflegen, sondern auch um Selbstanbindung. Wir können unsere Klient:innen dazu ermutigen, die vielen kleinen und großen Belastungen anzuerkennen und sich zuzugestehen, nach zwei Jahren Corona ideenlos und müde zu sein.

Viele Eltern trauen sich nicht, ihren Kindern zu zeigen, dass auch sie manchmal z. B. ratlos oder traurig sind - Zustände, die die Kinder an uns wahrnehmen, ob wir es zugeben oder nicht. Hier dürfen wir Eltern bestärken, die Kinder in ihren Wahrnehmungen zu validieren und zu sagen: „Ich kann verstehen, dass es gerade für dich schwer ist, dass du oft sauer und ziemlich traurig bist! Du hast es längst bemerkt: ich bin es auch."

Und wenn Familien dann betrauern, was sie entbehren mussten und müssen, dann haben sie der Traurigkeit und der Wut eine Freundin zur Seite gestellt: das Gefühl der Verbundenheit.


Kinder- und Fachbücher zum Weiterlesen [Werbung]:

Schneider, J. & Monzel, M. (2021). Ela, Elmo und die Zaubermomente. Ein Kinderfachbuch über Bindung. Frankfurt am Main: Mabuse-Verlag.

Phildius, S. (2020). Drin-Bleib-Monster: Alma hat coronafrei. Hamburg: Tredition (auch kostenfrei online anschaubar: https://www.phildius.com/bilderbuch/).

Brisch, K. H. (Ed.). (2009). Wege zu sicheren Bindungen in Familie und Gesellschaft: Prävention, Begleitung, Beratung und Psychotherapie. Stuttgart: Klett-Cotta.