Der Depression davonklettern: Bouldern für die psychische Gesundheit
Therapeutisches Klettern ist ein innovatives und niederschwelliges Angebot zur Behandlung von Depressionen und Burnout. Es stärkt Selbstwert und Selbstvertrauen, fördert körperliche Aktivität und den Umgang mit Ängsten und Misserfolg. Durch das Setzen erreichbarer Ziele werden Erfolgserlebnisse erzeugt und Selbstwirksamkeit gefördert.
„Geh du vor“, sagt die Seele zum Körper. „Auf mich hört er nicht, vielleicht hört er auf dich.“ „Ich werde krank werden, dann wird er Zeit für dich haben“, sagt der Körper zur Seele.
Depressionen zeigen sich durch anhaltende Gefühle von Traurigkeit, Hoffnungslosigkeit und einem Verlust des Interesses an Aktivitäten. Als Gemeinsamkeit weisen Betroffene häufig eine instabile Regulation (Homöostase) des Selbstwertgefühls auf und kämpfen mit einer unzureichenden Stabilität ihres inneren Gleichgewichts. Das äußert sich in der Unfähigkeit, die eigenen Wertvorstellungen und das Selbstbild angemessen zu bewerten und zu akzeptieren. Dieses wird oft stark kritisiert, in ein negatives Licht gestellt oder von äußeren Umständen oder Meinungen anderer abhängig gemacht.
In der Kletter-und Bouldertherapie manifestieren sich diese Probleme oft in absolut negativen „self-fulfilling prophecies". Die Klient:innen stehen vor der Kletterwand und betonen, wie schwer es ihnen erscheint, wie schlecht und inkompetent sie sich fühlen und dass sie es unmöglich schaffen können, die Wand aus eigener Kraft heraufzuklettern. Im Gegensatz dazu sind Klient:innen mit Burnout-Symptomatik stark auf Anerkennung angewiesen: beruflich, familiär wie auch sozial. Sie streben nach Zustimmung und Wertschätzung für ihre Leistungen - oft auch durch mich als Klettertherapeutin. Dieses Verhalten äußert sich in einem teils impulsiven Vorgehen ohne Rücksicht auf Verluste: Schneller, höher, weiter. Augen zu und rauf!
Selbstwertgefühl und die Bedeutung des Aufrichtens: Klettern als antidepressiver Bewegungsvorgang
Die Studie „KuS" (Klettern und Stimmung) untersuchte im Rahmen einer Multicenter-Studie, wie Menschen mit Depressionen von Boulderpsychotherapie (BPT) profitieren können (Kratzer, Luttenberger, Karg-Hefner et al., 2021). Die Ergebnisse zeigen eine signifikante und klinisch relevante Verbesserung der wahrgenommenen Selbstwirksamkeit, vergleichbar mit denen der kognitiven Verhaltenstherapie in der Gruppe (CBT). BPT stärkte ebenso die Resistenz gegenüber Umweltbelastungen. Klettern als Therapie könnte somit auch im Bereich der Prävention und bei anderen Krankheitsbildern Wirkung zeigen.
Eine der bedeutendsten Wirkfaktoren des therapeutischen Kletterns ist die körperliche Aktivierung. Die Kletterwand bietet einen hohen Aufforderungscharakter und ermöglicht den Klient:innen, positive körperliche Erfahrungen zu sammeln: Spielerisch und ungezwungen. Durch das Spüren der eigenen Kraft und das Erleben von Selbstwirksamkeit beim Lösen von Problemen (=Routen) werden der Selbstwert und das Selbstvertrauen gestärkt.
Gleichzeitig kann der Blick über den Boden hinaus auf neue Horizonte gerichtet werden. Die Bewegung des Aufrichtens beim Klettern symbolisiert dabei nicht nur körperliche Kraft, sondern auch eine aufrechte Haltung im Leben. Alte Dinge (=Griffe) müssen losgelassen werden, um neue Themen (=Griffe) angehen zu können. Das Klettern verhält sich da nicht anders als das Besteigen einer Leiter: Wenn wir nicht bereit sind, die alten Sprossen loszulassen, um nach neuen zu greifen, werden wir das Ende der Leiter nicht erreichen.
Durch das spielerische Fallen ins Seil (Klettern) oder auf die Bouldermatte (Bouldern) lernen die Klient:innen einen gesunden Umgang mit Ängsten und Misserfolg. Denn das Problem ist (oft) nicht das Problem. Es ist die Einstellung, die Erwartungsangst, die Stimme im Kopf, die negativen Prägungen, Erfahrungen und Werte aus der Vergangenheit. All diese Themen werden an der Boulder- und Kletterwand plötzlich sichtbar: Zögern, Zittern, Bewegungslosigkeit. Auch der klassische „Burnout Raketenstart“ wird zum buchstäblichen Sinnbild.
Ziele setzen und neue Perspektiven schaffen
Um optimale Ergebnisse zu erzielen, lege ich besonders großen Wert darauf, SMARTE, also erreichbare Ziele zu setzen. Menschen mit Depressionen und Burnout haben oft das Gefühl, dass sie bestimmte Dinge per se nicht schaffen können. Viele Dinge werden dann erst gar nicht versucht. Durch das Festlegen von kleinen Teilzielen, die regelmäßige Erfolgserlebnisse generieren, motiviere ich meine Klient:innen, sich auch im Alltag neuen Herausforderungen zu stellen. Das fördert ihre Selbstwirksamkeit ganz automatisch. Ein spielerisches Erfolgserlebnis an der Wand kann und wird von unserem Gehirn auch in klassischen Alltagssituationen abgerufen. Herausfordernde Situationen werden so in Zukunft neu und optimistischer bewertet.
Einen weiteren wichtigen Fokus lege ich auf die Bearbeitung unterdrückter Emotionen. Beim Klettern kann Ärger und auch Frustration entstehen, insbesondere wenn Klient:innen ungeduldig mit sich selbst sind und ihren eigenen, teils stark überhöhten Erwartungen nicht gerecht werden. In meiner Funktion als Therapeutin öffne ich den Raum für Emotionen und ermögliche meinen Klient:innen, ihre Gefühle zu akzeptieren und anzunehmen, negativ wie positiv. Durch das Erforschen der vorangegangenen Gedanken und Glaubenssätze erarbeiten wir neue Perspektiven und Sichtweisen. Dieser Prozess unterstützt sie dabei, ihre Emotionen als Teil von sich selbst zu integrieren und neue, funktionale Wege im Umgang damit zu finden.
Die Rolle „Klettertherapeut:in“: Verantwortung, individuelle Intervention und Einzigartigkeit
In der therapeutischen Arbeit ist es wichtig, individuelle Symptome und Bedürfnisse zu erkennen und geeignete Interventionen anzubieten. Dazu bedarf es einer Fachkompetenz in Diagnostik, um dysfunktionale Prozesse zu erkennen und durch eine Boulder-/ Klettertherapie gezielt zu verbessern. Der Begriff „Klettertherapeut:in“ ist nicht geschützt und kann sich auf körperliche wie auch psychische Symptome beziehen.
Eine gründliche Trainer:innenausbildung für die Arbeit an der Kletterwand ist allerdings von großer Bedeutung, ebenso wie spezifische Fortbildungen im Bereich des therapeutischen Kletterns. Möchte man über den präventiven Ansatz hinausgehen, ist eine Heilerlaubnis notwendig, um eine klare Abgrenzung von Coaching und Therapie sicherzustellen.
Die Klettertherapie kann im Einzel- und Gruppensetting den entscheidenden Unterschied in der Akzeptanz und im Umgang mit dem Krankheitsbild machen. Erfolge lassen sich oft schon in der ersten Stunde beobachten. Eine langfristige erfolgreiche Behandlung erfordert in der Regel eine regelmäßige therapeutische Begleitung von etwa drei Monaten.
Eine Kombination von Klettertherapie mit einer parallel stattfindenden Psychotherapie kann den Klient:innen darüber hinaus eine abwechslungsreiche Herangehensweise und Reflexion der belastenden Themen ermöglichen. Die Wiederholung wichtiger kognitiver Ansätze in Verbindung mit praktischen Übungen verankert das Wissen dabei nachhaltig und macht es auch in anderen Situationen abrufbar.
Theoretisches Wissen praktisch erfahrbar machen
Was das Medium Klettersport so unglaublich wertvoll und einzigartig macht, ist der direkte Transfer von der Theorie in die Praxis. „Eine schwere Tür hat oft nur einen kleinen Schlüssel nötig“, mag auch einer Person, die an Depression erkrankt ist, in der Theorie stimmig erscheinen. Diese Botschaft dann aber kurze Zeit später durch eine kleine Bewegungsanpassung an der Wand direkt zu erleben, macht den entscheidenden Unterschied im Umgang mit dysfunktionalen Glaubenssätzen. Denn Wissen heißt nicht verstehen.
Therapeutisches Klettern stärkt die Selbstwirksamkeit, fördert körperliche Aktivität und unterstützt die Bearbeitung unterdrückter Emotionen, wodurch es einen bedeutenden Beitrag zur mentalen Gesundheit leistet. Besonders bei stark kognitiv geleiteten Menschen, die aus dem Grübeln nicht herauskommen und Schwierigkeiten haben, Zugang zu Emotionen und dem eigenen Körpergefühl zu finden, kann dieser Ansatz von besonderem Nutzen sein. Gleichzeitig ist es ein innovatives, neues und niederschwelliges Angebot. Viele meiner Klient:innen berichten, dass es ihnen leichter fällt zu sagen „Ich gehe zum Klettern" als „Ich gehe zur Therapie". Beides ist in ihrem Fall wohl richtig.
Literatur:
Kratzer, A., Luttenberger, K., Karg-Hefner, N., Weiss, M., Dorscht, L. (2021). Bouldering psychotherapy is effective in enhancing perceived self-efficacy in people with depression: results from a multicenter randomized controlled trial. BMC Psychol 9, 126. https://doi.org/10.1186/s40359-021-00627-1