„Ich bin eine Schatzkiste!“ - Das Selbst entdecken und stärken

Ein junges Mädchen liegt bäuchlings auf dem Boden, um sie herum liegt Konfetti, sie lächelt.

Was ist das Selbst und wie kannst du es in der Therapie stärken? Gerade Kinder und Jugendliche brauchen häufig Unterstützung, ihr eigenes Selbst zu entdecken und wertzuschätzen. Ein ressourcenorientierter Blick auf das fragile Selbst junger Patient:innen kann ihnen viel Kraft geben und sie Krisen meistern lassen.

Eine Mutter berichtet im Elterngespräch verzweifelt und hilflos über die 10jährige Tochter, deren Ängste und Selbstunsicherheiten langjährig bestehen. Die Mutter befürchtet mehr Schwierigkeiten in der Schule und erlebt das Familienleben als belastet. Alles Neue sei herausfordernd und ängstigend. Ständig sage die Tochter: „Das kann ich nicht. Das will ich nicht. Das schaffe ich nicht.“ Sie weine schnell, verweigere sich, verstecke sich oder reagiere in Angstsituationen auch zornig. Das passiere in der Familie und in der Schule. Dabei ist die Patientin motorisch und kognitiv gut entwickelt. Die Geschwister hingegen seien mutig, gesund und unproblematisch. Im therapeutischen Gespräch und Spiel mit der kleinen Patientin berichtet das Mädchen zunächst zögerlich, dann immer offener über ihre Ängste vor vielen Situationen. Sie weiß, dass sie in der Familie und auch im Klassenverbund deshalb eine Sonderrolle hat und ihre Geschwister mutiger und stärker reagieren. Das beschämt sie. Sie weiß sich nicht zu helfen und sagt über sich selbst: „Ich kann das alles nicht. Andere sind viel mutiger als ich. Ich kann nicht mutig sein. Ich bin ein komischer Angsthase. Ich gehe Mama und Papa auf die Nerven.“ 

Was hat das Selbst mit dem Selbstwertgefühl zu tun? 

Das Selbst wird als unser Bewusstsein für und Wissen um uns selbst beschrieben. Aus unserem Selbstbewusstsein entsteht über die Interaktionen mit unserer Umwelt und unsere vielfältigen Erfahrungen mit unserem Körper und Geist unser Selbstkonzept. Das Selbstkonzept wird auch Selbstbild genannt. Das Selbstkonzept umfasst unsere Ideen über uns selbst, also über unseren Körper, unsere Fähigkeiten, Eigenschaften, Rollen, Möglichkeiten und Erfahrungen. Dieses Selbstbild kann durch uns selbst bewertet werden. Das ist dann unser Selbstwert. Das Selbstbild der kleinen Patientin lautet: „Ich bin ein komischer Angsthase.“ Ihre Bewertung lautet: „Ich gehe anderen auf die Nerven.“  Und das dazugehörige Gefühl ist das Selbstwertgefühl, manchmal auch Selbstunsicherheit genannt. Ein negatives Selbstkonzept und Selbstwertgefühl werden mit Angst, Depression und mangelndem Wohlbefinden in Zusammenhang gebracht. Ein positives Selbstkonzept und Selbstwertgefühl gelten als protektiv. 

Aus der Entwicklungspsychologie 

Im Säuglingsalter entwickelt sich ein erstes rudimentäres Selbstkonzept. Über die Wahrnehmung des eigenen Körpers und die Interaktionen mit den Bezugspersonen erlebt sich der Säugling zunehmend als eigenständig und abgetrennt von den Eltern. Dieses Selbstbewusstsein entwickelt sich immer weiter, mit der Benennung des eigenen Namens, mit der Wiedererkennung des Selbst im Spiegel, im Spiel mit Bezugspersonen usw. Zunehmend entsteht dadurch ein metakognitives und reflektiertes Selbstbewusstsein. Kinder beginnen, mehr über sich selbst zu erzählen, erzählen damit, wer sie sind und was sie mögen. So entstehen aus dem Selbstbewusstsein langsam ein Selbstkonzept, welches bewertet werden kann, und Gefühle dazu.  

Die Entwicklung des Selbstwertgefühls durchläuft verschiedene Phasen: In der frühen Kindheit oft überaus positiv, im Jugendalter dank abstrakterem Denken immer fragiler mit mehr Selbstreflexion und sozialen Vergleichen auf dem Weg zu einer eigenen Identität. Im Erwachsenenalter kann es unter günstigen Umständen wieder stabiler und positiver werden. 

Ein trauriges Mädchen lehnt an einer Wand, im Hintergrund sieht man zwei sie mobbende Mädchen

Als Ideal einer gesunden Entwicklung gilt ein differenziertes, vielschichtiges, individuelles Selbstkonzept mit dem Bewusstsein über die eigenen, vielfältigen Ressourcen. Dadurch kann das Selbstwertgefühl langfristig stabiler und krisenfester werden.  

Störeffekte auf dem Weg zu einem gesunden Selbstwertgefühl sind vielfältig.  Neben invalidierenden und traumatisierenden Bindungserfahrungen gelten ein schwieriges Temperament im Sinne von Gehemmtheit oder Impulsivität, soziale Ausschlusserfahrungen, Gewalt, abwertende kulturelle, geschlechtsspezifische oder körperliche Erfahrungen, aber auch negative Selbstzuschreibungen als wichtige Einflüsse. 

Im oben genannten Beispiel des 10jährigen Mädchens wurden Gehemmtheit und Ängstlichkeit als Temperamentseigenschaften exploriert. Daneben kamen Vermeidungsverhalten und negative Selbstzuschreibungen im wiederholten sozialen Vergleich hinzu, die das negative Selbstkonzept prägten. Auch fiel es den gestressten Eltern immer schwerer, die Stärken ihrer Tochter zu sehen und zu loben.  

Psychotherapeutisch geht es im Fall des 10jährigen Mädchens einerseits um Angstbewältigungsstrategien. Aufgrund der langjährigen Selbstunsicherheit und der negativen Selbstzuschreibungen geht es andererseits um Interventionen zur Stärkung des Selbstkonzepts und Selbstwertgefühls.  

Tipp für die Praxis: Ich bin eine Schatzkiste! 

Eine Übung, die vielen jungen Patient:innen sehr guttut, heißt: Ich bin eine Schatzkiste!  

Kurze Beschreibung der Übung: Die Übung Ich bin eine Schatzkiste erstellt über mehrere Sitzungen eine Sammlung an Fakten basierten, freundlichen, hilfreichen, selbstverstärkenden Selbstinstruktionen und Symbolen. Ziele der Übung sind Ressourcenaktivierung, Stärkung der Selbstsicherheit und Aufbau eines vielfältigen Selbstkonzepts zur Stärkung von mutigem Agieren.  

Die Instruktion lautet: „Jeder Mensch ist wertvoll! Du, ich, deine Eltern, deine Mitschüler usw. - sogar, wenn sie uns mal nerven! Das heißt, jeder Mensch ist ein Schatz und eine Schatzkiste! Es gibt jeden von uns nur einmal auf dieser Welt! Jeder und jede ist etwas ganz Besonderes! Es geht darum, diese Besonderheiten, diese Schätze in uns zu entdecken, zu kennen und wirklich darüber Bescheid zu wissen. Dann sind wir oft viel mutiger und selbstsicherer, weil wir ja wissen, welche Schätze wir in uns haben. Ich würde gerne mit dir nach deinen Schätzen suchen. Was sagst du dazu?“ 

Ein junges Mädchen sitzt an einem Tisch und schaut zu der neben ihr sitzenden Therapeutin.

In der Therapie brauchst du deshalb eine Schatzkiste. Sie kann in der Therapie oder mit den Eltern gebastelt werden und gemeinsam bestückt werden. Das dürfen hilfreiche Selbstinstruktionen auf Karteikarten mit einem Smiley sein oder Erinnerungssymbole für Mut und Selbstsicherheit. Wenn du mit den Patient:innen Spiele in der Sitzung spielst oder Übungen machst, kannst du über Verhaltensbeobachtung den Fokus auf Ressourcen legen. Welches Verhalten, welche Eigenschaften, welche Talente fallen dir positiv auf? Vielleicht kann die Patientin gut zählen? Vielleicht kann sie sich gut etwas merken? Vielleicht singt sie gerne? Das alles sind Schätze, die aufgeschrieben oder als Symbole in die Schatzkiste gelegt werden. Den Patient:innen und ihren Eltern kannst du auch hilfreiche Fragen mitgeben, die die Perspektive auf das Gelingende und Gute stärken können. Die Antworten werden in die Schatzkiste hineingelegt und wiederkehrend angeschaut und verstärkt. Gemeinsam werden die Ressourcen auch daraufhin angeschaut, wie sie bei der Bewältigung des Alltags helfen können 

Hilfreiche Fragen: 

  • Was macht mir Freude? Was habe ich diese Woche gerne gemacht? 
  • Was mag meine Mama (Papa, Oma, Stofftier usw.) an mir?  
  • Was habe ich schon alles gelernt? Was kann ich noch alles lernen? 
  • Was kann mein Körper?  Was können meine Hände usw.?  
  • Wann war ich diese Woche mutig? Was hat mir geholfen, mutig zu sein? 
  • Welcher meiner Schätze kann mir helfen, eine schwierige Situation zu überstehen? usw. 

Mit der Schatzkiste des 10jährigen Mädchens haben wir viele tolle Eigenschaften und Fähigkeiten gesucht und gefunden. Eine große Hilfe wurde etwa die Musikbegeisterung der jungen Patientin, die wir zur Selbstwertstärkung nutzen konnten. Ermutigende, wilde Musikstücke, Texte und Geschichten von Musikstars halfen bei der Umsetzung von angstbesetzten Aktivitäten. Ihr Selbstbild wurde langsam vielfältiger und positiver („Sängerin, Radiohörerin, sich Texte gut merken können, Spaß mit anderen an Musik haben usw.“). Dadurch fand sie Mut, Neues auszuprobieren und selbstsicherer in Kontakt zu gehen.  

Hier kannst du dir die Übung als PDF herunterladen:  

Anleitung „Ich bin eine Schatzkiste“  

Zum Weiterlesen: 

(Werbung). Annies, S. (2024): Selbstwertübungen. Stuttgart: Schattauer.