Starke Mädchen: Weibliche Unsicherheit an den Wurzeln packen
„Sich kümmern, stets sorgfältig und freundlich sein“ – geprägt von unbewussten Aufträgen und Glaubenssätzen wachsen viele Frauen mit Unsicherheiten und Selbstzweifeln auf. Was brauchen Frauen, um diese Glaubenssätze aufzubrechen? Und was muss sich verändern, damit Mädchen in Zukunft gestärkt groß werden können? Gemeinsam mit Coachin Annette Oschmann sind wir diesen Fragen nachgegangen.
Frau Oschmann, in Ihrem neuen Buch „Mädchen stärken“ schreiben Sie: „Es ist an der Zeit, die weibliche Unsicherheit an den Wurzeln zu packen“. Wie zeigt sich weibliche Unsicherheit?
Weibliche Unsicherheit ist etwas, das man im Alltag häufig gar nicht sieht. Frauen wuppen ihren Alltag mit Job, Kindern und Haushalt. Sie wirken stark und belastbar. Aber im persönlichen Gespräch beim Coaching merkt man, dass sie viele Selbstzweifel haben, wenig Selbstwertgefühl und wenig Selbstvertrauen. Diese Unsicherheiten werden durch übermäßiges Arbeiten und Perfektionismus kompensiert. Aber ich beobachte in meinen Coachings, dass es dann irgendwann zu einem Zusammenbruch kommt, klassischerweise in der Lebensmitte.
Warum gerade in der Lebensmitte?
Die Zwanziger sind oft eine Findungsphase in Beruf und Familie, in den Dreißigern setteln wir uns - und die ganze Anstrengung dieser zwanzig Jahre bricht dann in den Vierzigern hervor. Das ist keine klassische Midlife-Crisis („Ich muss jetzt noch mal einen draufmachen“), sondern die Erkenntnis: Das war ganz schön anstrengend… wohin soll es jetzt gehen? Noch dazu stecken wir Frauen in der Lebensmitte in einem Sandwich zwischen den älter werdenden Eltern auf der einen Seite und den Kindern auf der anderen Seite. Da kumulieren die Anforderungen von außen. Kraft und Energie werden gleichzeitig weniger. In den Dreißigern merkt man das noch nicht so, aber irgendwann wird es spürbar. Das Tagespensum, das ich bislang gewohnt war, kann ich dann nicht mehr ohne Weiteres schultern.
Wie kommt es, dass die Unsicherheiten vorher oft unsichtbar sind?
Weil wir uns im Außen einen Panzer anziehen. Unsere Gesellschaft ist sehr extravertiert, eine Ellbogen-Gesellschaft. Da bestehe ich nicht mit Selbstzweifeln. Als Frau habe ich also schnell das Gefühl: „Ich muss stark sein“, „Ich muss meine Frau stehen, sonst werde ich untergebuttert“. Das heißt, ich schlüpfe in eine Rolle.
Woher kommen die Selbstzweifel gerade bei Frauen?
Für mich liegt es an den Glaubenssätzen, die Frauen mitbekommen: „Du musst dich kümmern“, „Du musst helfen“, „Du musst freundlich sein“, „Du musst sorgfältig sein“, „Wenn du es nicht machst, macht es keiner“, „Du musst Verantwortung übernehmen“. Gerade die sehr wertvollen Verhaltensweisen des menschlichen Miteinanders wie Kümmern, Helfen, Sorgen werden Frauen unbewusst als innerer Auftrag mitgegeben.
Was brauchen Frauen in der Lebensmitte, wenn sie das nicht mehr aufrechterhalten können oder wollen?
Zum einen geht es darum zu erkennen, dass wir diese Glaubenssätze mitgegeben bekommen haben und dass wir sie verändern können. Von „Ich muss perfekt sein“ hin zu „Ich bin gut genug“ oder „Wenn ich mir Mühe gebe, reicht es“. Das braucht etwas Zeit, aber es geht.
Ein zweiter wichtiger Punkt ist die Akzeptanz der eigenen Leistungsfähigkeit, sich also selbst zu akzeptieren als sich verändernder Mensch. Und der dritte Punkt ist die Erlaubnis dazu: Man darf andere Prioritären setzen! Viele Frauen haben den Glaubenssatz verinnerlicht, dass sie das nicht dürfen, weil es egoistisch ist. Aber das heißt es nicht. Es heißt lediglich, dass man bei sich ist und gesund leben kann.
Was bräuchte es, um diese Prägungen für junge Mädchen, die jetzt großwerden, aufzubrechen?
Das ist genau der Kern meines Buches. Es geht darum, von vorneherein die schädigenden Glaubenssätze zu verhindern und stattdessen gute einzupflanzen. Den Selbstwert zu pflegen, Resilienz zu stärken, Selbstwirksamkeit zu erhöhen, den Perfektionismus runterzuschrauben, Anspannung zu lockern und Entspannung ins Leben zu bringen.
Was können Eltern tun, um ihre Töchter da gut zu begleiten?
Ich glaube, dass es besonders hilft, wenn Mädchen das Gefühl bekommen „Ich bin in Ordnung so, wie ich bin“ und wenn sie früh ihre Stärken kennen. Dieses Gefühl trägt über viele Herausforderungen und Krisen hinweg.
Eltern sollten die Grundhaltung haben, neugierig zu bleiben auf die Frau, die da heranwächst. Wir Eltern haben oft den Drang, zu kontrollieren oder unsere Lebenserfahrungen weitergeben zu wollen. Das ist irgendwie auch unser Job. Aber alles, was wir erreicht oder nicht erreicht haben, sind unsere Erfolge und Niederlagen. Es muss nicht unbedingt das sein, was unsere Kinder machen. Diese Erkenntnis ist für mich die größte. Sie ist anders als noch vor 40-50 Jahren, als man eher sagte: „Der Apfel fällt nicht weit vom Stamm“ oder „Solange du deine Füße unter meinem Tisch stellst…“, usw. Damals war klar: Eltern geben vor, Eltern verlangen und Eltern formen. Aber wenn ich forme, greife ich ein. Dann begrenze ich ggf. etwas, was schon da ist und sich somit nicht entfalten kann. Deswegen ist der Satz von Maria Montessori für mich so ein Leitsatz: „Es ist nicht die Aufgabe der Eltern, ihre Kinder zu formen, sondern ihnen zu erlauben, sich zu offenbaren“. Es ist alles da, ich bleibe neugierig auf den Menschen und ich lasse mich auch überraschen. Und ja, es wird vielleicht auch etwas geben, womit ich vielleicht erst mal nicht klarkomme. Aber das ist dann meine Aufgabe als erwachsene Person, mich damit auseinanderzusetzen und daran zu wachsen.
Was ist mit Müttern, die ihre Töchter stärken wollen, aber selbst merken, dass sie unsicher sind?
Das ist erst mal ein großer Schritt, das zu erkennen. Und es geht ganz vielen Müttern so! Das zu wissen, kann die Scheu nehmen, weiter am eigenen Selbstwert zu arbeiten und sich ggf. auch Unterstützung dabei zu suchen.
Welche Unterstützersysteme braucht es noch?
Idealerweise ziehen Schulen mit an einem Strang, denn sie sind neben der Familie das nächste Umfeld. Wenn ich im Unterricht das ruhige Mädchen sitzen habe, sollte ich es z. B. nicht vor der ganzen Klasse bloßstellen, indem ich sage: „Jetzt sprich mal lauter“, sondern eher hinterher gemeinsam mit ihr schauen, was wir da machen können. Diese Sensitivität sehe ich auch schon an vielen Schulen. Daneben ist es eine Aufgabe von sozialen und karitativen Einrichtungen oder Kirchen, z. B. Mädchengruppen zu schaffen, in denen Mädchen über ihre Themen sprechen, gemeinsam basteln oder Ausflüge machen können. Wohlhabendere Familien bieten ihren Kindern ja oft schon eine große Auswahl an Hobbys, sei es Hockey, singen oder malen. Dabei können Mädchen ihre Stärken abseits von schulischen Stärken entdecken und entfalten. Aber das darf nicht nur wohlhabenden Familien vorbehalten sein.
Was wünschen Sie sich, wie die Zukunft von den nächsten Generationen Mädchen und Frauen im besten Fall aussehen sollte?
Im besten Fall dürfen Mädchen einfach nur Frau sein. Es stört mich am meisten, dass ständig an Frauen rumkritisiert wird. Dann ist bauchfrei falsch, der Rock ist zu kurz und sie hat zu laut gelacht. In der Politik wird selten über den Anzug von einem Mann gesprochen, aber ständig über die Kleidung der Politikerinnen. In der Vergangenheit ging es oft um das Äußere von Frauen und deswegen besteht immer noch der Eindruck, dass man dazu eine Meinung haben kann. „Mit Frauen kann man das machen, die wehren sich eh nicht“ - das ist eine patriarchalische Denkweise. Es ist noch nicht lange her, dass der Mann zustimmen musste, damit die Frau überhaupt arbeiten gehen konnte. Wir kommen aus einer Welt, wo Männer für Frauen sehr viel bestimmen durften. Ich glaube, das ist noch in den Köpfen drin. Wenn ich etwas bestimmen darf, dann darf ich auch kritisieren, wenn es nicht in die Richtung geht, die ich für richtig halte.
Was müsste man da auch den größer werdenden Jungs mit auf den Weg geben?
Ich bin ja eine Mama von Jungs, von daher bin ich da mitten im Thema (lacht). Ich glaube, dass wir Jungs viel selbstverständlicher so erziehen sollten, dass sie in Haushalt und Care-Arbeit dabei sind und das nicht als „unwürdige Tätigkeiten“ empfinden. Sie können sich neben Karriere, Geld, Sport und Co. auch „soften“ Themen widmen. Dass ich „Mädchen stärken“ geschrieben habe, heißt nicht, dass wir die Jungs nicht auch fördern müssen. Das Lied von Herbert Grönemeyer „Wann ist ein Mann ein Mann?“ ist von 1984. Das ist 40 Jahre her! Und wir haben die Frage immer noch nicht beantwortet. Dürfen Jungen weinen? Dürfen Männer Gefühle zeigen? Was das angeht, haben es Jungs häufig schwer. Das sollte mehr zum Thema gemacht werden. Idealerweise halten wir uns miteinander an menschliche Grundsätze: Respekt, Wertschätzung, Freundlichkeit. Auf Basis dieser Werte darf jede:r so sein, wie er oder sie ist.
Vielen Dank für das Gespräch!
Zum Weiterlesen:
(Werbung) Annette Oschmann (2024). Mädchen stärken: Stärken fördern, Selbstwert erhöhen und liebevoll durch Krisen begleiten. Wie wir unseren Töchtern alles mitgeben, was sie brauchen. Wien: Goldegg.
Über Annette Oschmann:
Annette Oschmann ist Coachin und Mediatorin, die Menschen in herausfordernden Lebenssituationen wie Trennungen und persönlichen Konflikten unterstützt. Die promovierte Juristin arbeitet zudem als Moderatorin in Kommissionen zu gesellschaftlich relevanten Themen des Kinder- und Jugendschutzes. Sie schreibt Bücher zu Familien- und Beziehungsthemen.
Weitere Informationen findest du unter: https://www.annette-oschmann.de/