Das verletzte innere Kind visualisieren mit der „verletzten Prinzessin“
Kennst du das: Patient:innen berichten immer wieder über diese Ängste? Unvernünftig, aber trotzdem da. Dieser Perfektionismus? Unsinnig, aber hartnäckig. Diese Kritikempfindlichkeit? Eine leise Kritik und der Tag ist gelaufen? Diese Gefühle stammen oft vom verletzten inneren Kind, welches mit der „verletzten Prinzessin“ visualisiert werden kann. Dadurch kann ein gesunder Umgang mit Trauer, Scham und Schuld gelingen.
So entsteht das verletzte innere Kind
Tiefsitzende Ängste (z. B. vor Ablehnung), Frust, Perfektionismus und niedriger Selbstwert lassen sich häufig mit verletzten inneren Kindanteilen in Verbindung bringen. Das verletzte innere Kind entsteht in der frühen Kindheit, wenn eines oder mehrere der emotionalen Grundbedürfnisse nach Bindung, Kontrolle/Orientierung, Selbstwerterhöhung oder Lustgewinn/Unlustvermeidung (nach Grawe) ungenügend adressiert werden. Es entsteht ein Schema (ein stabil abgespeichertes Muster aus Erinnerungen, Glaubenssätzen, Wahrnehmungen, Gefühlen und Handlungsimpulsen), welches im späteren Leben immer wieder „getriggert“ werden kann. In diesem Moment fühlt man sich wie ein verletztes Kind: traurig, beschämt oder schuldig. Wie kann dieses Verhaltensmuster überwunden werden? Was braucht das verletzte innere Kind, um gesund zu werden?
Das verletzte innere Kind als „verletzte Prinzessin“
Es gibt verschiedene Methoden, mit dem verletzten inneren Kind Kontakt aufzunehmen. Eine davon ist Imagination. Dabei fällt es aber vielen Menschen (v. a. auch Kindern) mitunter nicht leicht, sich ihr inneres Kind visuell vorzustellen. Eine mögliche Visualisierung bietet das Burggemeinschaft-Modell an: Dabei stellst du dir vor, dein Körper ist eine Burg aus Mauersteinen und Holz. Deine Gedanken und Gefühle stammen von Burgbewohner:innen, die in dir wohnen. Man weiß, wie diese aussehen, heißen und welche Aufgaben sie haben.
Die verletzte Prinzessin steht für die Gefühle Trauer, Scham und Schuld. Das männliche Pendant ist der verletzte Prinz. Die verletzte Prinzessin charakterisiert sich folgendermaßen: Sie ist traurig darüber, dass diese Welt nicht nur gut ist. Es enttäuscht sie, dass auch Böses, Schlimmes und Schmerzhaftes zum Leben dazugehören. Ihre Methode ist der Rückzug (Freeze). Dadurch will sie sich vor weiteren Verletzungen schützen. Sie glaubt: „Ich bin schlecht, falsch, schuldig, unwichtig, unwürdig oder nicht sicher“ (dysfunktionale Glaubenssätze). Das Alter der verletzten Prinzessin entspricht demjenigen Alter, in welchem man sich erstmals so gefühlt hat (in der Regel Kleinkindalter). Damit der verletzten Prinzessin nicht noch mehr Unheil widerfährt, treten „innere Beschützer:innen“ auf den Plan: Vorsicht (Angst), Ehrgeiz und Perfektionismus sollen dafür sorgen, dass die verletzte Prinzessin geschützt ist. Dies geschieht unbewusst und oft überkompensatorisch: Übertriebene Ängste und verbissener Ehrgeiz sind die Folge und können erheblichen Leidensdruck verursachen. Um diese ungesunden Strategien zu überwinden, lohnt es sich, sich seiner verletzten Prinzessin zuzuwenden.
Was denkst du: Stimmen die Glaubenssätze der verletzten Prinzessin? Ist ein Kleinkind wirklich schlecht oder unwichtig? Sicher nicht. Aber wie steht es um ihre Sicherheit? Es kann doch jederzeit wieder etwas Schlimmes passieren… Natürlich, aber nicht der verletzten Prinzessin! Die Begründung: Sie stammt aus der Vergangenheit. Weil die Vergangenheit vergangen ist, ist die verletzte Prinzessin in Sicherheit und ihr kann nichts mehr zustoßen! Aber wie kann man nun der verletzten Prinzessin helfen, sie trösten und ermutigen?
Die verletzte Prinzessin trösten
Das Wichtigste ist, dass man die verletzte Prinzessin gefunden und erkannt hat, woher also die wiederkehrenden Gefühle von Trauer, Angst vor Ablehnung, Scham und Schuld stammen. In der Körperburg gibt es zum Glück auch eine:n Chef:in: der/die weise:r Burgherr:in. Die weise Burgherrin steht in Anlehnung an die Schematherapie für den „gesunden Erwachsenenmodus“. Im Sinne der Disidentifikation können sich Patient:innen zunächst bewusst machen, dass nicht sie (als Burgherrin) traurig sind, sich abgelehnt oder schuldig fühlen, sondern die verletzte Prinzessin in ihnen. Wie können sie als weise Burgherrin nun ihrer verletzten Prinzessin helfen? Überlegt folgendermaßen: Was würde jemand mit einem verletzten, zitternden Kleinkind tun? Es trösten. Patient:innen können so auch ihre verletzte Prinzessin (imaginativ) in die Arme schließen und sie dadurch trösten. Dann geht es ihr schon etwas besser. Trotzdem glaubt sie immer noch, sie sei schlecht, unwichtig und schuldig. Dein:e Patient:in kann diese dysfunktionalen Glaubenssätze jetzt umdrehen und ihr (und somit letztlich sich selbst) zusprechen: „Du bist gut, richtig, ohne Schuld, würdig, wichtig und sicher“ (funktionale Glaubenssätze). Weil die verletzte Prinzessin immer wieder Trost benötigen wird, lohnt es sich, die funktionalen Glaubenssätze auswendig zu kennen, was mit dem Akronym «GROWWS!» gelingt.
Probiere es selbst mal aus: Wenn du das nächste Mal Angst hast, verärgert oder unzufrieden bist oder Kritik dich niederschmettert, mach dir bewusst, dass nicht du als weise Burgherrin diese Gefühle hast, sondern die verletzte Prinzessin in dir. Verwende deine Fantasie, um ihr in diesem Moment mit Mitgefühl zu begegnen, nimm sie auf den Arm und sage ihr sanft: „Du bist Gut, Richtig, Ohne Schuld, Würdig, Wichtig und Sicher.“ Mit viel Zeit, Übung und Geduld wird es immer besser gelingen, die verletzte Prinzessin zu beruhigen, zu trösten und liebevoll auf sie einzugehen.
Zum Weiterarbeiten:
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