Digitale Vielfalt in der Psychotherapie: Chancen, Herausforderungen, Umsetzung

Man sieht eine Frau im Porträt überlagert von Datenreihen und Zahlen.

In der dynamischen Welt der Psychotherapie bahnt sich ein Paradigmenwechsel an, der sowohl aufregende Möglichkeiten als auch komplexe Herausforderungen mit sich bringt. In diesem Artikel werden wir uns mit der Möglichkeit von digitalen Therapiesitzungen, mit dem Konzept von Blended Care und dem Angebot von DiGA-Apps in der Psychotherapie auseinandersetzen und auf die Auswirkungen der Digitalisierung auf die psychotherapeutische Praxis eingehen.

Während die Psychotherapie traditionell durch persönliche Interaktionen zwischen Therapeut:innen und Patient:innen geprägt ist, eröffnet die Digitalisierung ein breites Spektrum an neuen Behandlungsmöglichkeiten. Von Video- und Online-Therapiesitzungen bis hin zu Apps und virtuellen Realitäten bietet die Integration digitaler Technologien eine Vielzahl von Werkzeugen, um psychotherapeutische Interventionen zu verbessern und den Zugang zu Behandlungen zu erleichtern. Doch zugleich wirft dieser digitale Wandel auch komplexe Fragen auf, angefangen bei Datenschutz und Ethik bis hin zur Qualität und Wirksamkeit der Behandlung. 

Chancen der Digitalisierung in der Psychotherapie 

Therapeut:innen können ihre Reichweite durch die Bereitstellung von Online-Angeboten vergrößern und auch Klient:innen erreichen, die aufgrund von Entfernungen oder Mobilitätseinschränkungen persönliche Therapiesitzungen nur erschwert wahrnehmen können.  

Die Nutzung unterstützender Tools wie Online-Tagebücher, Erinnerungen und Selbsthilfe-Übungen kann zudem die Effizienz und Wirksamkeit der Therapie steigern, indem sie den Klient:innen helfen, ihre Fortschritte zu verfolgen und ihre Symptome besser zu bewältigen. Diese digitalen Hilfsmittel ergänzen die traditionelle Therapie und fungieren als „verlängerter Therapiearm", der den Patient:innen auch außerhalb der regulären Sitzungen die Möglichkeit bietet, an ihren persönlichen Herausforderungen zu arbeiten.  
Dadurch können Therapeut:innen und Klient:innen gemeinsam an den Therapiezielen arbeiten und den Behandlungsprozess voranbringen.  

Darüber hinaus entlasten diese digitalen Unterstützungsmittel die Behandelnden, indem Patient:innen automatisch mehr Eigenverantwortung und Selbstmanagement übertragen wird. So können sich Therapeut:innen stärker auf die Behandlung konzentrieren und den individuellen Bedürfnissen ihrer Patient:innen mehr Zeit widmen. Insgesamt ermöglicht dies eine effektivere und effizientere Gestaltung der Therapie. 

Optionen der Umsetzung digitaler Unterstützung in der Psychotherapie  

Die Chancen der Digitalisierung werden nachfolgend anhand von drei Beispielen veranschaulicht.  

1. Online-Therapieprogramme 

Die Digitalisierung bietet verschiedene Möglichkeiten, psychotherapeutische Interventionen umzusetzen und zu erweitern. Eine Option ist die Online-Therapie, die den Klient:innen die Möglichkeit bietet, Therapiesitzungen virtuell und ortsungebunden abzuhalten. Allerdings können Psychotherapeut:innen Videosprechstunden in der Regel erst dann anbieten, wenn eine persönliche Erstsitzung zur Diagnose, Indikationsstellung und Aufklärung stattgefunden hat und zukünftig kein direkter persönlicher Kontakt therapeutisch erforderlich ist. Nach dem persönlichen Erstkontakt besteht dann die Möglichkeit, pro Quartal bis zu 30 Prozent der eigenen Patient:innen ausschließlich per Video zu behandeln, sofern keine akute Behandlung notwendig ist.  

Ein Schema möglicher Strukturierungen von Präsenz-, Online- und Blended Therapy

Ein Beispiel für eine Plattform, auf der Online-Therapie angeboten wird, ist MindDoc, die strukturierte Behandlungsprogramme und therapeutische Begleitung durch zertifizierte Fachkräfte anbietet. Durch Psychotherapie per Video wird hier eine zeitlich flexible Behandlung von zu Hause aus ermöglicht. Dies bedeutet einen Zugang zur Psychotherapie für Menschen, die sonst Schwierigkeiten hätten, von den Vorteilen einer Therapie zu profitieren. Im Gegensatz zu den langen Wartezeiten auf einen ambulanten Therapieplatz bieten solche Plattformen schnelle und unkomplizierte Hilfe, oft innerhalb weniger Wochen nach dem Erstkontakt. Sollte sich eine Verschlechterung ihrer Symptome zeigen und eine (teil-) stationäre Behandlung notwendig werden, kann Betroffenen eine schnelle Unterbringung in eine psychosomatische Klinik ermöglicht werden. Zudem ermöglicht MindDoc beispielsweise neben den regelmäßigen wöchentliche Therapiesitzungen per Video und zusätzliche Unterstützung durch digitale Selbsthilfeangebote und eine Krisenhotline. 

2. Blended Care 

Eine weitere Option ist Blended Care, eine Verzahnung aus traditioneller Face-to-Face-Therapie und innovativen digitalen Anwendungen. Die App Selphspace beispielsweise unterstützt Therapeut:innen nicht nur bei der Organisation und Dokumentation von Therapiesitzungen, sondern bietet auch wertvolle Ressourcen für Patient:innen zwischen den Sitzungen. Dies führt dazu, dass Behandelnde durch die Nutzung entlastet werden, effizienter arbeiten können und daher in der Lage sind, mehr Zeit für Patient:innen zu haben. Diese digitale Anwendung, ob als App oder als Desktop-Version, ermöglicht Therapeut:innen einen Einblick in geteilte Einträge ihrer Patient:innen, z. B. Stimmungsprotokolle, diagnostische Fragebögen, sowie das Empfehlen und Teilen von individuell erstellbaren Übungen. Patient:innen haben über die App Zugang zu ACT-basierten Übungen und DBT-basierten Skills und können Journaleinträge verfassen. Mit Selphspace haben Behandelnde zusätzliche Informationen und sind in der Lage, in die sogenannte „Black Box” zu schauen, d. h. in den Zeitraum zwischen den Therapiesitzungen. Therapeut:innen können anhand der Einträge und Verlaufsgrafiken sehen, wie es ihren Patient:innen im Verlauf geht und welche Fortschritte sie machen. Dies kann auch als Anknüpfungspunkt in der nächsten Therapiestunde dienen.  

3. Digitale Gesundheitsanwendungen  

Zusätzlich zu diesen Optionen sind auch Digitale Gesundheitsanwendungen (DiGAs) eine wichtige Entwicklung im Bereich der digitalen Psychotherapie. DiGA-Apps wie Hello Better können von Ärzt:innen und Psychotherapeut:innen verschrieben werden und bieten Interventionen als Ersatz oder Ergänzung für eine Therapie zur Behandlung verschiedener psychischer Erkrankungen. Hello Better ist ein webbasiertes Therapieprogramm, das als Ergänzung zur ärztlichen und psychotherapeutischen Versorgung für Menschen mit Depressionen oder Ängsten konzipiert ist. Im Vergleich zu den oben beschriebenen Online-Therapiemöglichkeiten sind DiGAs interaktive Selbsthilfeprogramme. Sie unterstützen Betroffene dabei, ihre Denk- und Verhaltensmuster zu erkennen und zu hinterfragen, indem sie psychotherapeutische Methoden wie kognitive Verhaltenstherapie und Achtsamkeit vermitteln. Durch regelmäßigen Gebrauch können Nutzer:innen ihre Stimmungs- und Symptomverläufe erfassen und erhalten individuelle Auswertungen sowie praktische Tipps zur Bewältigung ihrer Depression. 

Eine blonde Frau sitzt mit einem Tablet in der Hand in einem Sessel, im Hintergrund ein Regal und Geländer.

Risiken und Herausforderungen  

Es gibt eine gute Studienlage, die die Wirksamkeit von Onlineprogrammen und auch DiGas belegt, insbesondere bei Depressionen (vgl. Zwerenz et al., 2019; Berger et al., 2018; Löbner et al., 2018). Zu den Herausforderungen zählen Datenschutz und Datensicherheit bei der Verwendung digitaler Plattformen. Die Übertragung sensibler Informationen über das Internet birgt potenzielle Risiken für die Einhaltung der Vertraulichkeit, und es ist die Aufgabe der Softwareentwickler, robuste Sicherheitsmaßnahmen zu implementieren. Hierbei gibt der Staat durch die DSGVO, das DiGAV und das Digital-Gesetz wichtige Richtlinien für IT-Anbieter.  

In reinen Online-Therapien und Apps - ohne analoge Therapie - besteht das Risiko von Fehlinterpretationen. Die nicht vorhandene nonverbale Kommunikation und das Fehlen direkter sozialer Interaktion zwischen Therapeut:in und Klient:in könnten zu Missverständnissen führen und die Qualität der therapeutischen Beziehung beeinträchtigen. Daher ist es wichtig, digitale Tools sorgfältig in die Praxis zu integrieren und mit den Klient:innen zu besprechen, welche Tools sie verwenden wollen und wie sie diese optimal in der Therapie bzw. im Alltag als Unterstützung anwenden können. 

Fazit und Ausblick  

Die digitale Vielfalt in der Psychotherapie bietet sowohl Chancen als auch Herausforderungen für die zukünftige Entwicklung dieses Bereichs. Während die Digitalisierung den Zugang zu psychotherapeutischer Versorgung erweitert und flexiblere Behandlungsmöglichkeiten schafft, muss gleichzeitig die Qualität der Therapie gewährleistet bleiben. Die Optionen der Umsetzung, von Online-Therapie über Blended Care bis hin zu DiGA-Apps, zeigen das Potenzial digitaler Technologien, die psychotherapeutische Praxis zu bereichern. Für die Zukunft besteht die Notwendigkeit, diese Optionen weiterzuentwickeln und innovative Ansätze zu optimieren, um eine hochwertige und leichter zugängliche psychotherapeutische Versorgung für alle zu gewährleisten.  

Quellen: 

Berger, T., Krieger, T., Sude, K., Meyer, B. & Maercker, A. (2018). Evaluating an e-mental health program (“deprexis”) as adjunctive treatment tool in psychotherapy for depression: Results of a pragmatic randomized controlled trial, Journal of Affective Disorders, Vol. 227, 455-462, https://doi.org/10.1016/j.jad.2017.11.021. 

Löbner, M., Pabst, A., Stein, J., Dorow, M., Matschinger, H., Luppa, M., Maroß, A., Kersting, A., König, H. & Riedel-Heller, S. (2018) Computerized cognitive behavior therapy for patients with mild to moderately severe depression in primary care: A pragmatic cluster randomized controlled trial (@ktiv). J Affect Disord. 238, 317-326. doi: 10.1016/j.jad.2018.06.008 

Zwerenz, R., Baumgarten, C., Becker, J., Tibubos, A., Siepmann, M., Knickenberg, R. J., & Beutel, M. E. (2019). Improving the course of depressive symptoms after inpatient psychotherapy using adjunct web-based self-help: follow-up results of a randomized controlled trial. Journal of medical Internet research, 21(10), e13655.