Entspannt im Stress: Mit Entspannungstechniken der Stressspirale entkommen
Kopfschmerzen, Herzrasen, Tinnitus? Wer Stressanzeichen frühzeitig erkennt, kann intervenieren, bevor schwerwiegende Symptome entstehen, sagt Prof. Dr. Eva Asselmann. Sie hat basierend auf der Angewandten Entspannung nach Öst die Easy Relax-Methode entwickelt und wissenschaftlich untersucht. Im Interview erklärt sie, wie es gelingt, den Stressteufelskreis zu durchbrechen und beim Training von Entspannungsmethoden dranzubleiben.
Eva, würdest du sagen, die Menschen haben heutzutage mehr Stress als früher?
Das ist schwer zu quantifizieren, da die Art des Stresses ein anderer geworden ist. Die Dinge, die uns stressen, haben sich verändert. Auch unsere Sensibilität gegenüber psychischen Phänomenen hat sich verändert. Früher war vieles im Außen vorgegeben. Heute haben wir immer mehr Freiheiten, Flexibilitäten und uns stehen mehr Informationen zur Verfügung. Wir können häufig entscheiden, wann wir wie wo arbeiten wollen. Freiheiten sind an und für sich etwas Gutes, sie fordern aber, dass wir damit umgehen können, indem wir zum Beispiel selbst entscheiden, wann wir uns von Informationen fluten lassen, wann wir uns zurücknehmen und wann wir arbeiten. Stresskompetenz und Selbstregulation sind daher viel wichtiger geworden.
Wie wirkt sich das aus, wenn Stresskompetenzen nicht ausreichend vorhanden sind?
Dann kann es sehr schnell passieren, dass wir im Alltag reizüberflutet sind und ausbrennen. An und für sich ist Stress nichts Negatives, sondern im Gegenteil sehr hilfreich und überlebenswichtig. Das Stressprogramm ist ein evolutionär adaptiver Mechanismus, der unseren Körper dazu befähigt, in herausfordernden Situationen maximal bereit zu sein für Angriff oder Flucht. Unser Körper braucht aber auch immer wieder Pausen, um den Akku aufzuladen und die ganze Energie, die bereitgestellt wurde, wieder aufzutanken. Wenn wir diese Pause nicht haben und chronisch dauerhaft gestresst sind, können ernsthafte körperliche und psychische Erkrankungen die Folge sein.
Wie sieht ein gesunder Weg aus, um Stress zu begegnen?
Stressmanagement setzt auf drei verschiedenen Ebenen an: Mit Alltagsorganisation kann ich erst mal gut beeinflussen, ob ich überhaupt in sehr stressige Situationen gelange. Wenn beispielsweise eine große Prüfung ansteht, kann ich rechtzeitig damit anfangen, den Lernstoff zu organisieren und zu lernen. Oder ich kann prokrastinieren - dann ist klar, dass ich am Ende in großen Stress geraten werde. Ich kann delegieren, nein sagen, mir Hilfe holen usw. All das sind Maßnahmen, die mir helfen, meinen Alltag so zu strukturieren, dass es gar nicht erst zu kolossaler Überforderung kommt.
Ein zweiter Punkt ist, wie ich gedanklich mit Stress umgehe. Es gibt gewisse stressverstärkende Denkmuster: Wenn ich beispielsweise sehr perfektionistisch bin; wenn ich davon ausgehe, keine Hilfe annehmen zu können; wenn ich eine geringe Selbstwirksamkeitserwartung habe und denke, dass ich meinen tatsächlichen Anforderungen im Außen nicht gewachsen bin; oder wenn ich sehr katastrophisierend denke und dazu neige, mich in Worst-Case-Szenarien hineinzusteigern. Wir können daran arbeiten, wie wir den Anforderungen in unseren Gedanken und Einstellungen begegnen.
Die dritte Säule ist die Regeneration: Entspannung sowohl kurz- als auch langfristig. Techniken wie Easy Relax setzen direkt in der Stresssituation an und bringen mich da sofort runter. Gleichzeitig ist es auch wichtig, langfristig für Regeneration und Ausgleich zu sorgen, zum Beispiel nach der Arbeit etwas Schönes zu unternehmen, Freunde zu treffen oder ein Hobby zu pflegen; dass ich am Wochenende mal zwei Tage am Stück alles liegenlasse oder in den Urlaub fahre, damit ich so richtig abschalten kann.
Sollte jeder Mensch Entspannungsmethoden in petto haben?
Menschen unterscheiden sich schon darin, wie sehr sie auf Entspannungsmethoden stehen. Es gibt sehr viele verschiedene Techniken und bei den meisten davon geht es um eine längere, intensive Übungseinheit: Ich suche mir ein ruhiges Plätzchen, mache es mir da gemütlich und bringe mich ganz runter. Das kann durchaus einige Minuten dauern.
Du hast selbst die Entspannungstechnik Easy Relax entwickelt. Was steckt dahinter?
Easy Relax ist keine typische Entspannungsmethode. Es geht eher darum, sich innerhalb von wenigen Sekunden zu entspannen, indem man die ursprünglich längere Entspannung immer weiter abkürzt und dann direkt im Alltag einsetzt. Das passt zu neueren Forschungsbefunden (Lyubykh et al., 2022), dass gerade informelle kurze Pausen, etwa bei der Arbeit, sehr wichtig sind, um langfristig leistungsfähig zu bleiben. Wir brauchen im Alltag viele kleine Momente, in denen wir kurz durchatmen können. Aus der Forschung wissen wir aber auch, dass es Menschen schwerer fällt, Pausen zu machen, wenn sie gestresst sind. Grade dann verlieren sie oft das Gefühl dafür, wie es ihnen geht und dass sie eine Pause brauchen. Ihre Erschöpfung bemerken sie erst, wenn sie schon fix und fertig sind - und dann ist es schwerer, entgegenzuwirken.
Easy Relax setzt da an verschiedenen Ebenen an. Zum einen geht es um das Erkennen: Wie geht es mir eigentlich grade? Brauche ich eine Pause? Stresssymptome sind sehr individuell und können sich ganz unterschiedlich zeigen: Die eine Person bekommt Herzrasen, bei der nächsten ist der Nacken verspannt oder ihr wird übel.
Dann geht es darum, die Pause bewusst zu initiieren. Dafür eignet sich diese Methode sehr gut. Man übt schrittweise, sich in der Stresssituation runterzubringen. In vielen Stresssituationen ist es ja nicht nur eine Sache des Willens, sondern es ist de facto nicht möglich, sich eine längere Auszeit zu nehmen. Wenn ich dringend zu einem Termin muss oder einen Vortrag halten soll, habe ich häufig keine Möglichkeit, mich 15 Minuten rauszuziehen und irgendwo meine Matte auszurollen.
Kannst du kurz skizzieren, wie die Methode funktioniert?
Ziel der Methode ist es, sich wirklich blitzschnell innerhalb von 20 Sekunden gezielt und intensiv entspannen zu können – und das direkt in der Stresssituation. Ich merke, ich gerate in Stress, und wende die Methode an, egal wo ich gerade bin, ob im Meeting oder auf der Autobahn. Damit das klappt, ist durchaus etwas Übung erforderlich. Zum Erlernen sollte man grob 10 Wochen einplanen.
Der erste Schritt ist die Progressive Muskelentspannung, die viele wahrscheinlich schon kennen: Ein sehr gut etabliertes Verfahren, bei dem man nach und nach die einzelnen Muskelpartien des Körpers durchgeht, diese leicht anspannt und dann entspannt, bis der gesamte Körper tiefenentspannt ist. Diese Fähigkeit wird Woche für Woche weiter abgekürzt. Man lernt dann zum Beispiel, sich direkt zu entspannen, ohne die einzelnen Muskeln vorher anzuspannen. Dann geht es darum, alle Muskelpartien auf einmal zu entspannen, oder sich zu entspannen, während man die Augen offen hat und einzelne Körperteile bewegt. Es geht also darum, die Technik immer weiter abzukürzen und flexibler anzuwenden.
Im letzten Schritt geht es darum, die Entspannung gezielt in Stresssituationen einzusetzen. Das wird vorbereitet, indem man sich vorher selbst beobachtet und reflektiert: Woran merke ich im Alltag, dass ich gestresst bin? Wie kündigt sich das bei mir persönlich an? Was sind die allerersten Anzeichen? Genau bei diesen Anzeichen soll die Methode dann angewendet werden.
So können wir verhindern, dass wir gar nicht erst in diesen Teufelskreis aus Stress, Anspannung und damit verbundenen Symptomen geraten. Häufig schaukeln sich die Stresssymptome sonst über die Zeit auf, der Stress wird immer stärker und die Symptome nehmen zu.
Die Methode ist angelehnt an die Angewandte Entspannung nach Öst, richtig?
Ja, genau, Easy Relax basiert weitestgehend darauf. Die Angewandte Entspannung ist gut etabliert und wurde ursprünglich entwickelt zur Behandlung der Generalisierten Angststörung, bei der Betroffene im Alltag dauerhaft angespannt und besorgt sind (Öst, 1987). Die Methode wirkt aber auch bei anderen Angststörungen, Depressionen, Substanzkonsum und stressbedingten psychosomatischen Beschwerden wie Kopfschmerzen, Migräne, Tinnitus, Nackenschmerzen oder Rückenproblemen.
Wir haben die Methode etwas modifiziert, damit man sie auch im Training mit Gruppen anwenden kann. Außerdem haben wir geschaut, ob die Methode auch stressbelasteten, aber an und für sich gesunden Personen hilft. Dabei konnten wir zeigen, dass das Training präventive Effekte hat und langfristig verhindern kann, dass es zu einem Fortschreiten der Symptomatik kommt.
Kannst du uns etwas mehr über eure Untersuchung und die Ergebnisse erzählen?
Wir haben eine randomisiert-kontrollierte Studie (Asselmann et al., 2023; Beesdo-Baum et al., 2022) durchgeführt, also eine Studie mit einer Interventions- und einer Kontrollgruppe, bei der die Teilnehmenden per Zufallsprinzip einer der Gruppen zugeteilt werden. Teilgenommen haben Personen, die bereits erhöhte Stress-, Angst- oder depressive Symptome, aber noch keine psychische Störung hatten. Die Interventionsgruppe erhielt ein zehnwöchiges Training in Angewandter Entspannung.
Wir konnten zeigen, dass sich die Symptome durch das Training verringerten. Die Belastung reduzierte sich in der Interventionsgruppe stärker als in der Kontrollgruppe, und langfristig war das Risiko in der Interventionsgruppe geringer, eine unterschwellige psychische Störung zu entwickeln. Wir haben von den meisten Teilnehmenden sehr positive Rückmeldungen bekommen – und das obwohl sie während der Untersuchungen viel zusätzlichen Aufwand durch das Ausfüllen von Fragebögen oder das Entnehmen von Speichelproben hatten.
Was sind typische Herausforderungen beim Erlernen von Entspannungsmethoden?
Die typische Herausforderung ist das Dranbleiben. Sich blitzschnell in Sekunden entspannen zu können, ist eine Fertigkeit ist, die ich erst erwerben muss, aber danach ein Leben lang einsetzen kann. Das ist wie beim Rad- oder Autofahren: Am Anfang scheint das alles sehr herausfordernd und komplex. Wenn ich aber erst einmal Radfahren kann, denke ich da nicht mehr groß drüber nach. Selbst wenn ich jetzt ein Jahr lang nicht mehr auf dem Fahrrad gesessen habe, kann ich in der Regel problemlos drauflosfahren.
Genauso ist es beim Entspannen auch. Am Anfang erfordert es Training, ich muss täglich üben, am besten mehrfach. Es ist also mit ein bisschen Aufwand verbunden und erfahrungsgemäß gelingt es Menschen, die sehr gestresst und eingebunden sind, weniger gut, sich die Zeit zum Üben zu nehmen, obwohl sie ja besonders davon profitieren würden. Das ist die Krux, am Anfang am Ball zu bleiben.
Was empfiehlst du konkret, um das Üben leichter zu gestalten und dranzubleiben?
Man kann sich zum einen immer wieder klarmachen, dass man langfristig davon profitiert und nicht ein Leben lang üben muss, sondern nur einige Wochen. Man profitiert ja auch schon während des Übens. Wenn ich morgens und abends jeweils eine Viertelstunde die Progressive Muskelentspannung mache, dann ist das keine vertane Lebenszeit, sondern hilft mir auch da schon dabei, runterzukommen. Empfehlenswert ist auch, sich feste Zeiträume zum Üben einzuplanen und das gut in den Alltag zu integrieren.
Zum Beispiel kann ich mich nach der Mittagspause kurz zurückziehen und abends, wenn ich nach Hause komme. Je konkreter man das Üben einplant, umso leichter gelingt es in der Regel. Man könnte sich natürlich auch mit Mitbewohner:innen oder der Familie zusammentun, um die Technik gemeinsam zu erlernen. Außerdem kann man protokollieren: Wann habe ich die Übungen gemacht? Wie angespannt war ich vorher? Wie entspannt war ich danach? Das hilft dabei, sich die eigenen Fortschritte und Erfolge vor Augen zu führen und motiviert am Ball zu bleiben.
Vielen Dank für das Interview!
Über Eva Asselmann:
Eva Asselmann ist Professorin für Differentielle und Persönlichkeitspsychologie an der HMU Health and Medical University in Potsdam. Sie forscht zu den Themen Persönlichkeitsentwicklung, Gesundheitsförderung und Prävention. Ergänzend bietet sie Coachings und Trainings zu den Themen Persönlichkeitsentwicklung, Resilienz, Stressmanagement und Entspannung an. Ein psylife-Interview mit Eva zur Persönlichkeitsentwicklung findest du hier.
Zum Weiterlesen:
[Werbung] Asselmann, Eva (2023). Easy Relax – Raus aus der Stressfalle in 20 Sekunden. München: Ariston.
Quellen:
Asselmann, E., Zenker, M., Rückert, F., Kische, H., Pieper, L., & Beesdo-Baum, K. (2023). Ecological Momentary Assessment and Applied Relaxation: Results of a Randomized Indicated Preventive Trial in Individuals at Increased Risk for Mental Disorders. PloS One, 18, DOI: 10.1371/journal.pone.0286750
Beesdo-Baum, K., Zenker, M., Rückert, F., Kische, H., Pieper, L., & Asselmann, E. (2022). Efficacy of Applied Relaxation as Indicated Preventive Intervention in Individuals at Increased Risk for Mental Disorders: A Randomized Controlled Trial. Behaviour Research and Therapy, 157, DOI: 10.1016/j.brat.2022.104162
Lyubykh, Z., Gulseren, D., Premji, Z., Wingate, T. G., Deng, C., Bélanger, L. J., & Turner, N. (2022). Role of work breaks in well-being and performance: A systematic review and future research agenda. Journal of Occupational Health Psychology, 27(5), 470–487. https://doi.org/10.1037/ocp0000337
Öst, L. G. (1987). Applied relaxation: description of a coping technique and review of controlled studies. Behaviour Research and Therapy, 25(5), 397-409.