Im Handumdrehen wird’s bequem - Kreativ bleiben in längeren Therapieprozessen
Kennst du das? Die neunte, zehnte Sitzung mit einer Klientin steht an und die Gewohnheit hat sich eingestellt: Deine Hypothesen sind gebildet, die Interaktionsmuster etabliert. Wie gelingt es uns als Therapeut:innen, immer wieder einen neuen, ressourcenorientierten Blick auf scheinbar bekannte Klient:innensysteme zu werfen? In diesem Artikel wirst du zwei kreative Methode kennenlernen, die dir neue Blickwinkel eröffnen und frischen Wind in den Therapieverlauf bringen.
Ich weiß nicht, wie es dir in deiner Arbeit als therapeutische Wegbegleiter:in geht: Mich in Klient:innensysteme hineinzudenken, neue Perspektiven zu eröffnen und Wege zu erkunden, das ist es, was ich an meiner Arbeit liebe. Da bin ich neugierig und aufmerksam. Und trotzdem kommt es vor, dass sich in längeren Therapieverläufen die Gewohnheit hinzugesellt. Nun ist das auf der einen Seite irgendwie schön, denn wir haben eine Ahnung davon, wie ein:e Klient:in tickt, und unser Hirn fühlt sich wohl mit Gewohnheiten. Allerdings kann es für uns als Prozessbegleiter:innen zu einer kleinen Falle werden, denn so laufen wir Gefahr, „Muster“ irgendwann als gegeben hinzunehmen und etwas zu übersehen, das dem Genesungsverlauf zuträglich sein könnte. Damit wir aus dieser Sackgasse herauskommen, teile ich heute zwei kreative Methoden, mit deren Hilfe du Hypothesen und Gewohnheiten überprüfen und damit den Ressourcenblick wieder erweitern kannst.
Methode 1: Tief in den Wald!
Ziel: Ressourcenerkennung und -aktivierung, Hypothesenbilder erweitern
Optionen: Du kannst diese Übung allein für dich machen oder gegebenenfalls auch gemeinsam mit Klient:innen. Sei neugierig!
Utensilien: Rucksack, Sitzunterlage, der Jahreszeit entsprechende Kleidung, Getränk, Schreibutensilien, Kärtchen, Themen, Schwerpunkte
Für diese Übung begibst du dich in einen Wald. Ziel ist es, ausgetretene Wege zu verlassen und ungenutzte „Schattenpotenziale“ zu entdecken. Geh aktiv vom Weg ab in den Wald hinein. Erkunde Dickicht, folge den Pfaden der Tiere, einem Wasserlauf, bis du zu einer Stelle kommst, die dich zum Verweilen einlädt. Nimm dein Sitzkissen, mach es dir bequem und lade dich selbst ein, zu reflektieren.
1. Schritt: Ankommen im Unbekannten
Nimm dir im ersten Moment Zeit ganz für dich:
- Wie ist / war es für dich, den Weg zu verlassen? Welche Gefühle haben sich gezeigt?
- Wie erlaubt, neutral oder verboten fühlt es sich für dich an, auf schmalen Pfaden in den Wald zu gehen?
- Welche Seiten von dir sind gerade präsent(er), welche im Hintergrund?
Lass dir so viel Zeit, wie du brauchst, um ganz an dem Ort anzukommen, an dem du gerade bist.
2. Schritt: Entdecke, was ist
Stell dir nun vor, du wärest nicht allein, sondern zusammen mit Klient:innen im Wald unterwegs gewesen. Und nicht nur das: Während ihr tiefer und tiefer in den Wald hineinlauft, könntet ihr die Orientierung verlieren. Was passiert dann?
- Wie geht es dir selbst dabei, mit dein:er Klient:in in tiefere und vielleicht auch dunklere Bereiche des Waldes zu gehen?
- Wie geht es dir bei dem Gedanken, die Orientierung zu verlieren? Wie sieht deine wahrscheinlichste Reaktion aus?
- Wie fällt vermutlich die Reaktion deine:r Klient:in auf das „tiefer in den Wald hineingehen“ aus (Widerstand oder Neugier, Angst oder Mut, Panik oder Ruhe, Aufmerksamkeit oder Nervosität, …)? Was vermutest du?
- Welche Dynamik ergibt sich zwischen euch, wenn ihr für einen Moment die gewohnte Orientierung verliert?
- Wie kommt es, dass ihr in diesem Aktions-Reaktions-Muster gelandet seid?
Notiere deine Hypothesen in Form von „Es könnte sein, dass…“, „Möglicherweise…“, „Vermutlich…“ auf den mitgebrachten Karten.
3. Schritt: Was wäre, wenn…?
Mal angenommen, die hypothetischen Reaktionen aus Schritt Zwei wären nicht möglich. Jede:r von euch entscheidet sich ganz anders. Bislang wenig gezeigte Möglichkeiten, die sich im Schatten verborgen haben, wollen ans Licht. Wie Glühwürmchen kommen sie nun zum Vorschein. Welche Möglichkeiten eröffnen sie euch?
- Welche Ressourcen und Möglichkeiten aus der „Schattenseite“ könnten zum Vorschein kommen?
- Welche Alternativen ermöglichen sie deine:r Klient:in und dir?
- Was verändert das in eurer Weggestaltung?
- Wie verändert das die bislang gezeigten, dominanteren Reaktionsmuster (Erleichterung, Widerstand, Ergänzung, …)?
- Wie geht es vermutlich dir? Wie geht es deine:r Klient:in damit?
Notiere dir diese „Schattenseiten“ auf den Karten.
4. Schritt: Zurück zum Ausgangspunkt
Stell dir vor, ihr seid so im Gespräch miteinander vertieft, dass ihr nicht merkt, wie ihr wieder zurück zum Hauptweg zurückgekommen seid.
Stell dir vor, wie das ungewohnte Terrain wieder vertraut wird.
Was hat sich verändert? Reflektiere:
- Welche Erkenntnisse sind in dir / in euch gewachsen durch diese experimentelle Reise?
- Welche ungenutzten Potenziale und Ressourcen hast du / habt ihr entdeckt?
- Wie kann es deine:r Klient:in gelingen, diese stärker zu integrieren?
- Was kannst du tun, um deine:n Klient:in dabei zu unterstützen?
- Welche Möglichkeiten hast du, deine gewohnten Reaktionen zu verändern?
Den Praxisraum zu verlassen und sich auf das Experimentierfeld in der Natur einzulassen, ist ein wunderbares Mittel, um ganz intuitiv mit der gegebenen Situation zu arbeiten. Ich persönlich mag es, wie wach mich das Arbeiten in der Natur macht und welche Möglichkeiten dadurch entstehen können.
Methode 2: Konferenz der Unterschiede
Ziele: Inhaltliche und zeitliche Blickwinkel erweitern, festgefahrene Situationen auflockern, Kreativität, Leichtigkeit und Rollenwechsel einladen
Optionen: Du kannst diese Methode mit eine:r Klient:in machen und sie oder ihn einladen in verschiedene Rollen zu schlüpfen, oder du kannst auch ein Gruppensetting nutzen, um mit Hilfe anderer Teilnehmer:innen unterschiedlichen Charakteren eine Stimme zu geben.
Utensilien: 5 Stühle (falls nicht vorhanden nutze Kissen oder nur die Karten auf dem Boden), Karten zum Beschriften und für Notizen in unterschiedlichen Farben
Vorbereitung: Gut ist es, wenn du dir ein Set an möglichen Charakteren zusammenstellst, an denen sich Klient:innen in ihrer Auswahl orientieren können oder aus denen sie auswählen können. Mögliche Kategorien sind z. B.: Tiere, Filmcharaktere oder -held:innen, Comicfiguren, Fantasiefiguren, Politiker:innen, Berufe, Elemente, … Die Vielfalt macht’s!
Ausgangssituation: Es besteht Klarheit bezüglich des Anliegens und des Auftrages deiner Klient:in oder zu den Situationen, für die ihr im Begleitprozess neue Impulse haben möchtet.
Lade deine:n Klient:in ein, sich 5 möglichst unterschiedliche Charaktere auszusuchen. In einem Gruppensetting kannst du z. B. die Stellvertreter auswählen lassen. Schreibe die 5 Charaktere auf Karten und verteile sie im Raum oder platziere sie auf vorhandenen Stühlen.
Im Einzelsetting kannst du nun deine:n Klient:in unterstützen, die Situation oder Fragestellung aus Sicht der 5 Charaktere zu betrachten. Dabei kann er:sie von Stuhl zu Stuhl wechseln oder von einer Karte zur anderen. Lass ihn:sie nicht zu lange an einem Ort verbleiben, sondern fördere den kontinuierlichen Perspektivenwechsel. In einem Gruppensetting kannst du die 5 Stellvertreter:innen bitten, sich zu dem Thema zu äußern.
Unterstütze deine:n Klient:in, sich so richtig in die Charaktere hineinzuversetzen (indem z. B. auf dem Stuhl Platz genommen wird), und dann stelle wesentliche Fragen. Notiere wesentliche Ideen und Erkenntnisse je Charakter:
- Welche deiner Fähigkeiten könnten helfen, die Situation positiv zu verändern?
- Welche Chance wird bislang übersehen?
- Was irritiert dich an diesem Thema?
- Angenommen, alles wäre möglich, was würdest du tun?
- Was wäre dein nächster Schritt?
Befrage deine:n Klient:in anschließend, welche Gefühle im Prozess aufgetaucht sind und welche gehörten Gedanken am ansprechendsten waren. Was davon war am attraktivsten und kann ausprobiert oder umgesetzt werden? Was war überraschend? Trefft eine Vereinbarung für die Zeit bis zur nächsten Sitzung.
Es darf leicht gehen und durch diese zweite Methode können neue, ungenutzte kreative Ressourcen der Klient:innen eingeladen werden. Außerdem bringt sie Abwechslung in den Therapieverlauf für beide Seiten.
Oft ergeben sich in den Folgegesprächen immer wieder Momente, in denen auf die Methode(n) zurückgegriffen werden kann. Und last but not least: Unsere Klient:innen werden nur so mutig sein, wie wir es selbst auch sind. Bereit, die gewohnten Wege zu verlassen?