Die Kunst des Erzählens: Warum Geschichten therapeutisch wirken können
Wann hast du deinen Klient:innen das letzte Mal eine Geschichte erzählt? Therapeutisches Erzählen kann helfen, Lösungsideen zu entwickeln und die Therapie lebendiger und effektiver zu gestalten. Wie kannst du solche Geschichten finden und erfinden? Wie baust du sie auf? In diesem Artikel gebe ich dir Impulse und konkrete Anregungen zum Therapeutischen Erzählen.
Ist es eigentlich sinnvoll, wenn Therapeut:innen ihren Klient:innen Geschichten erzählen? Oder besser gefragt: Wann und wie wäre es sinnvoll, Geschichten in die therapeutische Arbeit zu integrieren?
Tatsächlich erzählen wir uns ja den ganzen Tag Geschichten. Auch unsere Klient:innen erzählen uns regelmäßig ihre Lebens- und Problemgeschichten. Warum sollten Therapeut:innen das nicht dürfen?
Aber was für Geschichten wären das dann? Problemgeschichten erzählen sich die Klient:innen selbst schon genug und Happy-End-Geschichten – wäre das nicht ein bisschen platt? Geschichten ganz ohne Probleme und Lösungsangebote? Das klingt bedeutungslos. Oder doch geschichtenfrei: Ein therapeutisches Angebot aus Zuhören, Spiegeln und Philosophieren?
Als Hypnotherapeut und systemischer Familientherapeut erzähle ich meinen Klient:innen jeden Tag Geschichten – ja sicher, auch Geschichten für die Kinder in meiner Praxis, aber ebenso für Jugendliche, für die Erwachsenen, für Paare und Familien. Geschichten zum Umgang mit Konflikten, zur Auflösung von traumatischen Reaktionen, zum Überwinden von störenden Gewohnheiten, quälenden Ängsten und belastenden Zwängen…
„Therapeutisches Erzählen“ nenne ich das und ich würde es als eine wache Form von Hypnotherapie beschreiben. Aber wie funktioniert das eigentlich?
Unsere Wirklichkeit besteht aus Geschichten
Zu Grunde gelegt ist der Gedanke, dass unsere gesamte Sicht von uns selbst und der Welt um uns aus Geschichten besteht, die wir uns jeden Tag erzählen. Geschichten sind Träume, die wir uns mit Hilfe von Sprache gegenseitig mitteilen, Träume sind eine Art Muttersprache der Seele, älter als jede verbale Sprache. Es gibt Tagträume, Nachtträume, Erinnerungsträume, Erwartungsträume (also Hoffnungs- und Befürchtungsträume), Wer-bin-ich-Träume und Wer-bist-du-Träume (Identitäts- und Rollenzuweisungsträume) und andere. Unser Bewusstsein besteht aus den Geschichten, mit denen wir uns unser Leben und die Welt zusammenreimen. In gewissem Sinn sind wir das Geflecht aus Geschichten, die wir uns selbst und einander erzählen – wenn auch in Wechselwirkung mit sozialen, physikalischen oder auch genetischen Realitäten, die unserem Erzählen Grenzen setzen.
Paul Watzlawicks Idee von Psychotherapie war es, „eine Wirklichkeitskonstruktion, die leidschaffend ist… durch eine andere, tragfähigere zu ersetzen“ (Maurer, 2021). Ähnlich sagen Arist von Schlippe und Jochen Schweitzer: „Wirklichkeit besteht aus nichts anderem als Geschichten“ (1996, S. 40), und: „Was wir als ‚Wirklichkeit‘ bezeichnen, entsteht im Dialog, im Gespräch… Die gemeinsame Sichtweise davon, was als Wirklichkeiten in einem System erlebt wird, ist sehr weitgehend bestimmend für Glück oder Unglück, Zufriedenheit oder Unzufriedenheit.“ (ebd., S. 89).
Wenn es gelingt, in das belastende Geflecht von Erinnerungs- und Erwartungsgeschichten der Klient:innen befreiende Geschichten einzustricken, die dem Gefüge eine neue Bedeutung geben, vielleicht auch belastende Geschichten mit neuen Deutungsangeboten in entlastende umzustricken, dann könnte ihr Blick aufs Leben vielleicht hilfreich erneuert werden.
Regeln des Therapeutischen Erzählens
Möchte man mit dem Erzählen in der Therapie experimentieren, hilft es ein paar Regeln zu beachten:
1. Knüpfe da an, wo die Klient:innen sind: In einer Krisensituation
Damit Klient:innen die Geschichte als für sich relevant erleben, ist es sinnvoll, wenn der Protagonist oder die Protagonistin sich zu Beginn in einer schwierigen Situation befindet, ein bisschen ähnlich wie sie selbst.
2. Führe die Geschichte dahin, wo die Klient:innen hinwollen: In ein Lösungserleben
Geschichten mit gutem Ausgang sind meist zielführender als solche mit einem negativen oder offenen Ende. Diese können zwar auch genutzt werden, ihr Einsatz ist aber heikler, weil sie als bedrückend, als drohend oder kränkend erlebt werden können. Das führt zum nächsten Punkt:
3. Lass reichlich Interpretationsspielraum, um nicht belehrend oder moralisierend zu wirken!
Das heißt zuallererst: Die Ausgangssituation und der Verlauf der Geschichte, die du erzählst, sollte der Lebensgeschichte, die Klient:innen von sich erzählen, nicht zu ähnlich sein. Einer krebskranken Frau erzähle ich nicht von einer anderen kranken Person, deren Wunsch nach Heilung sich erfüllte etc.
Wenn du von Erfahrungen anderer Menschen berichtest, achte darauf, dass es situative Unterschiede gibt, damit keine plumpe Übertragung möglich ist. Oft ist es sogar förderlich, wenn die Geschichte weit hergeholt scheint. Bei metaphorischen Geschichten besteht dieses Problem meist nicht, weil Metaphern von Natur aus eine Vielfalt an Transfermöglichkeiten anbieten.
Wenn du diese Regeln beachtest, ist es sehr wahrscheinlich, dass die Geschichte von den Klient:innen als hilfreich erlebt wird – auch, wenn du sie in ganz alltäglichen Worten erzählst.
Geschichten folgen einer Struktur
Willst du die Geschichte niederschreiben und dafür etwas anspruchsvoller gestalten, empfiehlt sich eine Dramaturgie mit folgendem Schema:
- Den oder die Protagonist:in vorstellen
- Das Problem darstellen
- Die Lösungsversuche zeigen
- Das Scheitern aller Versuche zeigen
- Eine neue Ressource (Idee, Information, Möglichkeit) kommt ins Spiel
- Erfolg (Heimkehr, Fest)
Mein Vorschlag: Präge dir die dickgedruckten Begriffe in ihrer Reihenfolge ein! Mit diesem Raster lassen sich Problem-Lösungsgeschichten aller Art strukturieren: Fabeln, Anekdoten von berühmten Menschen oder auch tatsächlich erlebte eigene Erfahrungen.
Möchtest du es dir etwas einfacher machen, geht auch folgende Struktur:
- Eine Person sah sich in einer ausweglosen Situation.
- Eine Entdeckung oder andere Person ermöglichte einen neuen Blick darauf.
- Jetzt begann zu funktionieren, was vorher nicht gelungen war.
Als Ausgangspunkt kannst du dir Redewendungen deiner Klient:innen notieren. Vielleicht sagt jemand: „Ich sehe auf die Trümmer meines Lebens“, „Ich stehe an der vordersten Front“, „Die wollen mir ans Leder“, „Ich ertrinke in Arbeit…“, „Ich habe Schiffbruch erlitten…“, „Ein Sumpf von Lügen…“, „Wer hier ehrlich arbeitet, geht unter…“.
Greif eine der Metaphern auf, die dich anspricht. Zum Beispiel: „Sie sprachen eben von Schiffbruch. Wenn ich mir das ganz bildhaft-wörtlich vorstelle, sehe ich vor meinem inneren Auge jemanden, der/die im Wasser schwimmt…“
Oft ist es erstaunlich einfach, so eine Geschichte in der Struktur der sechs Schritte weiterzuerzählen:
- Wer ist der Protagonist? Ein Schiffbrüchiger, der im Sturm über Bord gegangen ist.
- Was ist sein Problem? Er droht zu ertrinken.
- Seine Lösungsversuche? Er versucht sich am Schiff festzuhalten oder daran hochzuklettern…
- Sein Scheitern? Er rutscht immer ab. Schon will er aufgeben…
- Eine neue Ressource? Er sieht ein Stück Frachtgut, das im Sturm über Bord gegangen ist.
- Sein Erfolg? Er schwimmt dorthin und klettert darauf.
Die Ergebnisse dieses Vorgehens sind regelmäßig verblüffend. Fast nie fragen die Klient:innen: „Was wollen Sie mir jetzt mit dieser Geschichte sagen?“ Sie antworten auch nicht: „Aber bei mir ist das anders“ oder: „Das kann man mit meiner Situation nicht vergleichen“. Stattdessen behandeln sie die weitererzählte Metapher, als ob sie ihre Zukunftsperspektive erzählte. Ihre Körpersprache wirkt sofort lebendiger und kraftvoller, sie sprechen erkennbar zuversichtlicher über ihre Perspektiven und verwenden oft kaum noch destruktive Bilder für ihre Situation. Die Wirkung ist auch dann festzustellen, wenn die Geschichte womöglich etwas holprig vorgetragen ist.
Gerne möchte ich dich einladen, deinen Klient:innen erst einmal „schlechte“ Geschichten zu erzählen – die dann, gemessen an der Wirkung, vielleicht gar nicht so schlecht sind, wie zunächst gedacht. Vielleicht konnte ich dich neugierig machen? Probiere es aus!
Zum Weiterlesen
[Werbung] Hammel, S. (2018). Handbuch des therapeutischen Erzählens. Geschichten und Metaphern in Psychotherapie, Kinder- und Familientherapie, Heilkunde, Coaching und Supervision. Stuttgart: Klett-Cotta.
Maurer, A. ORF-Radiokolleg vom 29.7.2021: Der optimistische Nihilist Paul Watzlawick. Ausführlicher zitiert bei: Hammel, S. (2022). Hypnosystemische Therapie. Das Handbuch für die Praxis. Stuttgart: Klett-Cotta.
[Werbung] Schlippe, A. & Schweitzer, J. (1996). Lehrbuch der systemischen Beratung. Göttingen: Vandenhoeck.