„Im Buddhismus können wir lernen, den Blick auf den eigenen Geist zu richten.“

Ein kleiner Steinbuddha sitzt vor einem Bild.

Elemente aus dem Buddhismus finden seit Jahren großen Anklang in der modernen Psychotherapie. Warum ist das so? Und wissen wir überhaupt genug über die Hintergründe? Ulrike Anderssen-Reuster, Chefärztin der Klinik für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie am Städtischen Klinikum Dresden spricht im psylife-Interview über Wirkfaktoren und Wissenslücken.

Frau Anderssen-Reuster, wann sind Sie das erste Mal mit Buddhismus in Berührung gekommen?

Schon als Studentin habe ich angefangen Meditationskurse zu besuchen und bin dabei mit verschiedenen Traditionslinien in Kontakt gekommen. Schließlich habe ich in Willigis Jäger meinen ersten Zen-Lehrer gefunden. Er hat mich besonders überzeugt, da er als Theologe und Benediktiner seine Wurzeln in unserer christlichen Kultur hatte, der ich mich zugehörig fühle. Damals ging es mir weniger um den Buddhismus als vielmehr um die Praxis der Zen-Meditation, die ich bis heute praktiziere. Zu dieser Praxis gehört auch die Interpretation buddhistischer Texte. Das hat mich in jungen Jahren allerdings nicht besonders interessiert. Ich wollte damals einfach nur meditieren.

Foto von Ulrike Anderssen-Reuster

Wann fing es an, dass Sie sich auch inhaltlich tiefer mit dem Buddhismus beschäftigt haben?

2002 war ich zwei Wochen in einem Kloster in Myanmar. Der stellvertretende Abt hat mir dreimal täglich Unterweisungen in den Grundlagen der buddhistischen Lehre (dharma) vermittelt und ich habe ihm dafür Englischunterricht erteilt. Diese Erfahrung hat mir die Augen geöffnet und verdeutlicht, wie hilfreich es ist, Theorie und die Praxis zusammen zu bringen.
 

Was können wir in unserer westlichen Welt vom Buddhismus lernen?

Besonders können wir lernen, wie man den Blick auf den eigenen Geist richtet. Das ist wichtig, da die zugrundeliegende geistige Verfassung unsere jeweiligen Emotionen, Willensbestrebungen und Gedanken hervorbringt, für die wir zumeist allerdings die Außenwelt verantwortlich machen. Wenn unser Geist unruhig und agitiert ist, so besteht eine große Wahrscheinlichkeit, dass wir uns aufregen, ärgern oder gestresst sind - und die Ursache dafür eher in der äußeren Welt suchen als in uns selbst. Gleiches gilt für einen ruhigen und entspannten Geist, der dazu beiträgt, die Phänomene mit mehr Ruhe und Gelassenheit wahrzunehmen. Die jeweilige Wahrnehmung wird also maßgeblich von unserer geistigen Verfassung geleitet. Indem aber der Zusammenhang zwischen der jeweiligen Stimmung oder Erwartungshaltung und dem Wahrgenommenen erkannt wird, eröffnen sich auch Möglichkeiten der Einflussnahme und so ergeben sich größere Freiheitsgrade.

Im Buddhismus gibt es Schulungswege, die Selbsterkenntnis, prosoziales Handeln und meditative Geistesruhe lehren. Man kann das als eine Form von Lebenskunst verstehen, die gelernt werden kann und die dazu beiträgt, ein gutes Leben zu führen.

Junge Frau sitzt auf einem Felsen und schaut in den Sonnenuntergang.

Wie werden Sie in Ihrer Arbeit vom Buddhismus beeinflusst?

Die tägliche Klinikarbeit ist nicht vom Buddhismus beeinflusst. Hier verstehe ich mich als wissenschaftlich denkende Psychosomatikerin und Psychotherapeutin, der es darum geht, die verschiedenen Patienten bestmöglich und nach den Regeln der Kunst zu behandeln.

In der Klinik für Psychosomatik des Städtischen Klinikums Dresden behandeln wir u. a. Persönlichkeitsstörungen, Beziehungsstörungen, Schmerzerkrankungen, Traumatisierungen, Angststörungen und verschiedene Formen von Depression. Wir haben einen psychodynamischen gruppentherapeutischen Schwerpunkt, wobei auch verhaltenstherapeutische, körpertherapeutische, kunsttherapeutische und imaginative Verfahren zur Geltung kommen. Einmal in der Woche findet eine Einführung in Meditation statt.

Implizit spielen allerdings bestimmte buddhistische Ansätze wie z. B. die Anwendung von geschickten Mitteln (upaya) oder der Gegenwartsbezug im Gegensatz zu Fixierung auf gedankliche Konstruktionen eine große Rolle. So können Patienten beispielsweise den Unterschied zwischen Wahrnehmen und Bewerten erkennen und in Bezug auf ihre Gedanken und Emotionen eine Beobachterposition entwickeln. Dies schafft etwas Distanz zu den wechselnden Impulsen und eröffnet einen inneren Raum, in dem mit mehr Ruhe und innerer Freiheit auf die jeweiligen Reize reagiert werden kann.
 

Warum finden so viele Elemente aus dem Buddhismus – wie Achtsamkeit, Meditation oder Dankbarkeit – so großen Anklang in der modernen Psychotherapie?

Nach den eher kognitiv-behavioristischen Auslenkungen der Verhaltenstherapie kam es in den 90ern zur sogenannten dritten Welle, in welcher nicht primär die Veränderung im Fokus stand, sondern die Akzeptanz dessen, was ist. Jon Kabat-Zinn hat damals einen 8-wöchigen Kurs entwickelt, in dem ein Mix aus Verhaltenstherapie, Selbstreflexion, Mediation, alltagstauglichen Übungen und Yoga vermittelt wurde. Dieser Kurs nannte sich „Mindfulness Based Stress Reduction“ (MBSR). Ausgehend von diesem Format sind eine Fülle weiterer Kurse entstanden, die für verschiedene Zielgruppen konzipiert wurden. Ein Achtsamkeits-Boom entwickelte sich, der bis heute anhält. In den letzten zehn Jahren wurde dann auch Mitgefühl und Freundlichkeit in die Therapie integriert, da entsprechende geistige Verfassungen nicht nur in Bezug auf den anderen wohltuend sind, sondern auch für denjenigen, der sich darin übt, offen, zugewandt und wertschätzend zu sein. 
 

Wie reagieren Patient*innen auf diese Elemente und Methoden?

Ich bin überrascht und berührt, wie viele Patienten sich auf diese Ansätze einlassen können und wie konzentriert, still und friedlich sie dabei werden. So erleben viele Patienten Elemente von Achtsamkeit und innerer Einkehr in der Klinik, die sie dann nach ihrer Entlassung auch weiter üben und pflegen. Wie dies im Alltag umgesetzt wird, ist von Fall zu Fall unterschiedlich. Manche nehmen sich täglich bewusst etwas Zeit für sich selbst, andere achten darauf, die Dinge, die sie tun, in einer konzentrierten und aufmerksamen Weise zu erleben und wieder andere profitieren von Meditations-Apps, besuchen Meditationsgruppen oder -kurse. Letztlich ist es nicht so wichtig, ob ein Mensch meditiert oder spazieren geht. Wichtig ist, dass er oder sie dabei mit sich selbst in Beziehung ist und automatische Gedankenketten loslassen kann.

Nicht alle Patienten können allerdings von stillen und introspektiven Ansätzen profitieren, da sie mitunter zu angespannt oder abwehrend sind, was in der Regel mit ihrer Lebensgeschichte zusammenhängt. Insofern sind diese eher stillen Methoden im klinischen Kontext nicht für jeden gleichermaßen geeignet.

Frau sitzt meditierend auf dem Bett.

Kurz und knapp: Was sagt die Wissenschaft zur Wirkweise von buddhistischen Elementen in der Psychotherapie?

Man kann sagen, dass die positiven Effekte bei den Patienten mit weniger ausgeprägten Störungen höher sind als bei schwer beeinträchtigten Patienten. Das ist unmittelbar einleuchtend. Wer schwer depressiv ist, ein Suchtproblem hat oder so angespannt ist, dass er oder sie sich selbst kaum erträgt, muss zunächst Stabilität erlangen. Wenn aber etwas Ruhe eingekehrt ist, können buddhistische Elemente wichtig werden, insbesondere zur Aufrechterhaltung der psychischen Gesundheit.

Ferner ist die Erkenntnis wichtig, dass die Methoden, die emotional ansprechend sind, z. B. die (Selbst-)Mitgefühlsmeditation oft besser funktionieren als Meditationsmethoden, die affektiv neutral sind. Es gibt sehr verschiedene Meditationsformen und es macht Sinn, für den Menschen, mit dem man es gerade zu tun hat, die passenden Übungen zu finden.
 

Die deutsche Gesellschaft für Psychiatrie und Psychotherapie, Psychosomatik und Nervenheilkunde (DGPPN) empfiehlt u. a., dass sich Psychotherapeut*innen religiös neutral verhalten sollten. Ist das mit dieser Strömung vereinbar?

Ich war in dieser Expertengruppe selbst dabei und habe die Empfehlung mitverfasst, insofern stehe ich uneingeschränkt dafür, dass man als Psychotherapeut religiös neutral sein muss. Aus diesem Grunde sind beispielsweise Meditationsangebote immer freiwillig und es fehlt jegliche buddhistische Rahmung. In der Klinik ist es hilfreich, wenn man lernt, wie man aus seinem Gedankenkarussell aussteigen kann und wie man ein bisschen mehr inneren Frieden finden kann. Dazu muss man weder Buddhist sein, noch werden.
 

Wissen Psychotherapeut*innen, die diese Elemente und Methoden anwenden, Ihrer Meinung nach genug über die buddhistischen Hintergründe?

Nein. Das war auch der Anlass, das Buch „Buddhistische Basics für Psychotherapeuten“ mit Michael von Brück zu schreiben (erscheint Januar 2022 bei Schattauer). Ich finde es schade, wenn die Hintergründe von breit angewandten Verfahren wie z. B. der Dialektisch Behavioralen Therapie (DBT), die maßgeblich auf dem Buddhismus beruhen, nicht benannt oder rezipiert werden. Außerdem findet die Achtsamkeitspraxis nicht immer die Würdigung, die ihr zukommt, denn es handelt sich um einen anspruchsvollen und differenzierten Ansatz, der richtig erlernt werden sollte. Schließlich fürchte ich, dass wir künftig durch den Klimawandel und damit einhergehenden Verwerfungen mit noch mehr sozialen Spannungen rechnen müssen. Deshalb schadet es nicht, wenn Therapeuten und ihre Patienten lernen, wie sie inmitten von Chaos und Stress ihre eigene psychische Stabilität und innere Ruhe pflegen können.
 

Das heißt: für die Arbeit mit den Patient*innen selbst ist die buddhistische Rahmung zwar nicht unmittelbar relevant, aber wir als Psychotherapeut*innen sollten uns dennoch mit den Hintergründen und Wirkweisen vertraut machen – richtig?

Wir sollten unsere eigenen weltanschaulichen Überzeugungen schon gut kennen, aber wir müssen sie nicht mit unseren Patienten teilen und schon gar nicht dürfen wir missionieren. Manchmal bringen aber die Patienten selbst diese Themen ein, denn viele Menschen haben spirituelle Anliegen und wollen auch darüber reden. Aus diesem Grunde ist es wichtig, dass Psychotherapeuten darauf eingehen können und wissen, wovon sie reden.

Therapeutin sitzt auf Sessel und hört Klientin zu.

Wo liegen die größten Wissenslücken?

Die liegt vielleicht darin, dass akademisch ausgebildete Psychotherapeuten durch ihr Studium und die institutionellen Ausbildungen in bestimmten Korridoren unterwegs sind, die sich an dem Narrativ der Patienten und deren kognitiven Einsichten orientieren. Sie sind in der Regel gut ausgebildet und verfügen über ein großes Methodenrepertoire. Am Wissen fehlt es also nicht, vielmehr am „Nicht-Wissen“. Darunter versteht man z. B. im Zen die Erfahrungen jenseits von Begriffen und Konzepten. Ich würde mir manchmal mehr kreative Offenheit wünschen. Wenn der therapeutische Prozess als eine Entdeckungsreise verstanden wird, dann ist das Ziel nicht von vornherein vorherbestimmt.
 

Wo fange ich am besten an, wenn ich mich für das Thema interessiere?

Dort, wo Sie sind, und mit den Fragen, die Ihnen aktuell am wichtigsten sind. Wenn Sie lernen wollen, Stress zu reduzieren, so ist vielleicht ein MBSR-Kurs ein guter Ansatz. Wenn Sie gelegentlich eine kleine Pause einlegen wollen, so bietet eine App wie z. B. „Insight Timer“, „Balloon“ oder „7Mind“ verschiedene Inspirationen. Wenn Sie aber richtig einsteigen wollen und ein inneres Bedürfnis nach tieferen spirituellen Erfahrungen haben, so sollten Sie an einem Meditationskurs teilnehmen und nach der Begleitung durch einen erfahrenen Meditationslehrer bzw. -lehrerin suchen.

Vielen Dank für das Interview!

 

Über Ulrike Anderssen-Reuster

Ulrike Anderssen-Reuster ist Fachärztin für Psychosomatische Medizin, Psychiatrie, Psychoanalyse und Chefärztin der Klinik für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie des Städtischen Klinikums Dresden. Sie ist Dozentin und Supervisorin sowie MBSR- und MBCT-Lehrerin.
 

Zum Weiterlesen [Werbung]

Anderssen-Reuster, U. und von Brück, M. (2022). Buddhistische Basics für Psychotherapeuten. Stuttgart: Schattauer.

Anderssen-Reuster, U., Meibert, P., Meck, S. (2015). Psychotherapie und buddhistisches Geistestraining. Methoden einer achtsamen Bewusstseinskultur. Stuttgart: Schattauer.

Anderssen-Reuster, U. (2013). Achtsamkeit - Das Praxisbuch für mehr Gelassenheit und Mitgefühl. Stuttgart: TRIAS.