Was bewirkt Yogapsychotherapie und wie setze ich sie ein?

Zwei Frauen sitzen meditierend mit geschlossenen Augen auf dem Boden, graues Sofa im Hintergrund.

Körper, Atem und Geist. In der Yogapsychotherapie wird der psychotherapeutische Blickwinkel um den integrativen Ansatz des Yoga erweitert. Individuell und störungsspezifisch eingesetzt, unterstützen die Yoga-Skills Klient:innen im therapeutischen Prozess. Wie das genau funktioniert, möchten wir mit diesem Artikel erläutern und anhand eines praktischen Beispiels verdeutlichen. 

Die Globalisierung wirkt sich auch auf die Weiterentwicklung therapeutischer Verfahren aus: Über Jahrhunderte in verschiedenen Kulturkreisen gewachsene Gesundheitslehren werden mit dem aktuellen Stand wissenschaftlicher Erkenntnisse zusammengebracht und untersucht. Qualität und Anzahl der Studien zum Thema Achtsamkeit und Gesundheit (vgl. Goldberg et al., 2021) sowie die yoga-relevante Forschung haben seit Anfang der 2000er Jahre deutlich zugenommen (vgl. Ott 2020, S. 265). Erkenntnisse, die aus der Erforschung alter Weisheitssysteme wie dem Yoga abgeleitet werden können, ermöglichen es uns, einen ganzheitlichen und gleichzeitig zunehmend wissenschaftlich fundierten Blick auf das Wohlbefinden unserer Klient:innen zu entwickeln. Ein Ansatz, der in diesem Zusammenspiel in den letzten Jahren zunehmend an Bedeutung gewonnen hat, ist die Yogapsychotherapie. 

Wir möchten mit diesem Artikel unser Verständnis von Yogapsychotherapie erläutern und anhand eines praktischen Beispiels verdeutlichen, welche Wirkmechanismen Yogapsychotherapie sowohl für die Klient:innen als auch im Bereich der Selbstfürsorge in helfenden Berufen entfalten kann.

 

Was ist Yogapsychotherapie? 

Yogapsychotherapie ist die Synthese von Yoga und Psychotherapie zu einem ganzheitlichen, komplementär-therapeutischen Ansatz. Sie erweitert den psychotherapeutischen Blickwinkel um den integrativen Ansatz des Yoga. Trotz seines Alters ist Yoga zeitgemäß: Yoga integriert Körper, Atem und Geist in ein ganzheitliches Übungssystem.  

Yogapsychotherapie-Skills sind Techniken der Präsenz und Akzeptanz: 

  • Atemregulation (prānāyāma), 
  • einfache Meditationsformen, 
  • einfache Körperbewegungen (āsanas), 
  • geführte Körperwahrnehmungen (Yoga Nidra) und 
  • Reflexionstechniken (svādhyāya, pratiprasava, pratipaksha bhāvana).  

Diese Skills lassen Räume zwischen Reiz und Reaktion entstehen oder ermöglichen Klient:innen, innezuhalten und sich zu spüren. Individuell und störungsspezifisch angepasst und eingesetzt, unterstützen sie Klient:innen, aus der Konfliktdynamik, den psychomentalen Verwicklungen und dysfunktionalen Verhaltensmustern auszusteigen (vgl. Brandt, 2019). Die Erkenntnisse der modernen Psychologie und Psychotherapie erlauben uns, die Wirkweisen von Yoga aus wissenschaftlichen Gesichtspunkten zu verstehen und darüber den psychotherapeutischen Einsatz von Yoga weiterzuentwickeln.

Bild einer Person von oben, die ihre Yogamatte ausrollt.

Was kann Yogatherapie bewirken?

Wir sehen ein breites Spektrum an Möglichkeiten für den komplementär-therapeutischen Einsatz von Yogapsychotherapie: 

  • Symptomreduktion: Yoga ist dabei mehr als ein hochwirksames Entspannungsverfahren (Brandt, 2004) und stellt eine wirkungsvolle Methode dar, um Symptome psychischer Erkrankungen, psychosomatischer Beschwerden, spiritueller Krisen und physischer Krankheitsbilder zu reduzieren. Von Depressionen und Burn-out bis hin zu Angsterkrankungen und Traumafolgestörungen bietet dieser integrative Ansatz vielfältige Techniken, um individuelle Herausforderungen zu bewältigen (vgl. Klatte et al., 2016, Meister & Becker, 2018). Durch die Reduzierung von Verwicklungen werden ein klarerer Kopf und ein ruhigerer Bauchzustand gefördert.
  • Prozessorientierte Ressourcenaktivierung: Mithilfe der Yogapsychotherapie-Skills werden individuelle Ressourcen aktiviert. Die Vermittlung dieser Skills erfolgt stets angepasst auf den individuellen Bedarf und ist prozessorientiert. 
  • Potentialentfaltung: Ein Element von Yogapsychotherapie ist die Entfaltung spiritueller Entwicklungsräume. Diese ermöglichen eine tiefere Verbindung zu innerer Stille und Weite, fördern Zuversicht, Stabilität und Lebensbejahung. Lebensfreude und Lebensmut der Klient:innen steigen, während sie ihr individuelles Potential entdecken und nutzen.  
  • Integrativer Ansatz: Gemeint sind hiermit die Wechselwirkungen von Körper, Gefühlen, Gedanken und subtilen Bewusstseinsräumen im Hier und Jetzt. Im Prozess wird darauf abgezielt, die Verbindungen zwischen früheren Erfahrungen und gegenwärtigem Denken, Handeln und Erleben zu verstehen. Dabei ermöglicht die Yogapsychotherapie einen integrativen (ganzheitlichen) Blick auf das Wohlbefinden der Klient:innen. 
  • Verkörperte innere Haltung der Behandler:in: Durch die Verbindung von Yoga-Skills und psychotherapeutischen Methoden entwickeln Behandler:innen ein tieferes Bewusstsein für ihre eigenen Fallstricke und Potentiale. Die Betonung liegt nicht auf dem Erlernen von Techniken, sondern auf der Entwicklung einer achtsamen inneren und verkörperten Haltung im Rahmen eines mehrjährigen Selbsterfahrungsprozesses. 
  • Transpersonale Beziehungsarbeit: Yogapsychotherapie gestaltet sich als gemeinsamer Prozess von Behandler:in und Klient:in. Hierbei öffnen sich Spielräume für tiefes Selbstverständnis und die Entfaltung verborgener Ressourcen. Der transpersonale Raum, getragen durch die Yoga-Übungspraxis und die Fähigkeiten der Behandler:in, schafft eine verlässliche Basis für die Arbeit mit ambivalenten Gefühlen, Wünschen und Bedürfnissen. 
  • Selbstfürsorge und Selbstreflexion der Behandler:in: Die innere achtsame Haltung und Erfahrungen in der transpersonalen Beziehungsarbeit tragen dazu bei, mehr Leichtigkeit und Ausgewogenheit in der eigenen Arbeit zu erfahren. Die kontinuierliche Selbstreflexion, unterstützt durch Supervision und Intervision, sensibilisiert für Selbstfürsorge und fördert diese praktisch. Die Auseinandersetzung mit eigenen Grenzen und Fähigkeiten ist dabei essenzieller Bestandteil.

 

Yogapsychotherapie in der Praxis

Yogapsychotherapie kann in der Praxis in unterschiedlichen Szenarien zum Einsatz kommen und nimmt entsprechend, je nach Anliegen der Klient:innen, einen unterschiedlich großen Raum im therapeutischen Prozess ein. 

Eine Frau führt die Yoga-Balance-Haltung "Der Baum" aus.

Frau K. fühlt sich morgens oft unruhig und kommt nicht gut in den Tag. Sie ist stark mit ihren Emotionen beschäftigt, fragt sich, warum sie so fühlt und was mit ihr nicht stimmt. Sie schiebt Dinge vor sich her und wertet sich dafür ab. Dadurch steigt ihr Stresslevel weiter an und sie landet in einer Spirale aus Selbstabwertung und negativen Gefühlen, durch die sie ihre Handlungskompetenz mehr und mehr verliert.

 

1. Verbessertes Körperbewusstsein und Selbstwirksamkeitserleben durch regelmäßiges Praktizieren und Akzeptanz  

Wir nutzen eine kleine Übung zu Beginn einer Sitzung, um Frau K. das Ankommen zu erleichtern. Zudem erarbeiten wir über mehrere Stunden eine sorgfältig auf ihre persönlichen 

  • Ziele (besser in den Tag starten), 
  • Wünsche (niedriges Anforderungsniveau und Aufwand, damit die Hemmschwelle nicht zu hoch ist) und 
  • Möglichkeiten (wenig Yoga-Erfahrung, wenig Energie am Morgen) 

abgestimmte individuelle 15-minütige Übungspraxis aus Körper-, Atem-, Meditations- und Reflexionsübungen für das eigenständige, regelmäßige Üben zuhause. 

Im weiteren therapeutischen Prozess reflektieren wir unter anderem die Übungserfahrungen. Hierbei passen wir die Praxis an und suchen gemeinsam nach Möglichkeiten, positive Erfahrungen zu vertiefen. Sie lernt, eine offene, nicht-wertende Haltung gegenüber inneren Erfahrungen zu entwickeln und stärkt durch die Erfahrung, Einfluss auf ihre Symptomatik nehmen zu können, ihre Selbstwirksamkeitserwartung – also das Vertrauen in die eigene Handlungskompetenz.

 

2. Präsenz als Ausstiegsmöglichkeit 

Präsenz ist eine besondere Form und Haltung von Aufmerksamkeit, die sich auf den gegenwärtigen Moment ausrichtet. Ein zentraler Fokus unserer Gespräche ist, die Übungserfahrung als Möglichkeit, aus dem Teufelskreis der inneren Leiddynamik auszusteigen, verstehen zu lernen (vgl. Brandt 2020, S. 161).

 

3. Fokussierung auf Körper und Atem als Distanzierungstechnik  

Die Synchronisation von Bewegung und Atmung fordert ein hohes Maß an Konzentration von der Klientin. Dies fördert eine vorübergehende Ablenkung von den belastenden Gedanken in Form von Selbstzweifeln und Selbstabwertung. Dadurch wird eine erste emotionale Distanz zu den dysfunktionalen Gedanken geschaffen. Dieser innere Abstand – und eine Meditation, die das innere Beobachten fokussiert – unterstützt Frau K. darin, sich selbst und die eigenen Reaktionen bewusster zu beobachten. Sie erfährt zunehmend, mehr als ihre Gedanken und Gefühle zu sein. Ein zusätzlicher Schwerpunkt liegt bei der Betonung der Ausatmung. Dabei wird das parasympathische Nervensystem aktiviert, was die Stressreduktion unterstützt und sie innerlich ruhiger werden lässt (vgl. Brown R. P., Gerbarg P.L., 2005).

Schritt für Schritt kann sie so für Erfahrungen sensibilisiert werden, in denen sie innerlich auf Distanz gehen und dabei trotzdem (oder gerade deswegen) offen, wach und lebendig sein kann. Dies unterstützt sie bei der Entwicklung alternativer Handlungsoptionen und erweitert ihren Möglichkeitsraum. 

Die integrativen, achtsamkeitsbasierten Techniken der Yogapsychotherapie fördern demnach sowohl die körperliche und emotionale Entspannung und geistige Fokussierung als auch eine bewusste und achtsame Wahrnehmung des gegenwärtigen Moments und der eigenen Innenwelt. Diese Mechanismen tragen dazu bei, dass Klient:innen in der Yogapsychotherapie ganzheitlich gestärkt werden und Werkzeuge für die Bewältigung von psychischen Herausforderungen im Alltag erhalten. 

 

Zum Weiterlesen 

[Werbung] Brandt, S. (2020). Vom Kopfkino zur inneren Stille – Die Praxis der Yogapsychotherapie. Hamburg: tredition.

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