Zwischen Empathie und Neutralität: So gelingt der Balanceakt
Menschen wünschen sich von Psychotherapeut:innen vor allem einen Raum, in dem sie Vertrauen und Sicherheit finden und sich selbst entwickeln können. Dafür braucht es eine gute Mischung aus Mitgefühl und Neutralität, zwei Fähigkeiten, die sich scheinbar auf entgegengesetzten Enden einer Skala befinden. Wie uns dieser Balanceakt gelingen kann, damit beschäftigen wir uns in diesem Artikel.
Neulich in meiner Praxis: Der eine Termin dauert länger, der nächste Klient wartet bereits. Während ich mich verabschiede, merke ich, dass mein Kopf gerade ganz schön voll ist, und damit bin ich einen kurzen, wichtigen Moment bei mir. Für einen Moment kann ich gut für mich sorgen. Erst dadurch bin ich wieder bereit, meinem nächsten Klienten mit ausreichend Empathie und wachsamer Neutralität zu begegnen. Zugegeben: Es gelingt mir nicht immer und oft spüre ich das dann erst im Nachgang. Aber ich bin besser geworden und ich helfe mir selbst, indem ich mich aktiv damit auseinandersetze, wie gut ich gerade bin, Empathie und Neutralität in Balance zu halten.
Empathie: Wie viel soll es sein?
Im psychotherapeutischen Setting kommt der Empathie eine besondere Bedeutung zu. Ohne Empathie kommt keine heilsame therapeutische Beziehung zustande und sie ist somit die wichtigste Komponente für einen Therapieerfolg (Wampold, 2015).
Wie würdest du Empathie intuitiv definieren? Mitgefühl ist eine der häufigsten Assoziationen, die ich während meiner Recherche zur Empathie gefunden habe.
Empathie bedeutet, sich in den anderen einzufühlen und ihn zu verstehen. In der Literatur wird Empathie als „einfühlendes Verstehen“ definiert und beinhaltet die Fähigkeit, die Perspektive und Erfahrungswelt anderer wahrnehmen zu können (vgl. Stangl, 2024). Dazu gehört es, die Empfindungen, Emotionen, Gedanken, Motive und Persönlichkeitsmerkmale einer anderen Person zu erkennen, zu verstehen und nachzuempfinden (Dorsch, 2017). Intuitiv kommt in mir bei dieser Definition die Frage auf, wann Empathie zu viel werden kann. Wann werden Grenzen überschritten und wo müssen wir als Psychotherapeut:innen besonders Acht geben?
Wenn Mitgefühl zu Mitleid wird
Wenn Mitgefühl zu Mitleid wird, können wir nicht mehr unterscheiden zwischen eigenen Emotionen und denen der Klient:innen. Das kann zum Beispiel dann vorkommen, wenn im eigenen Leben gerade viel los ist und diese im therapeutischen Setting mitschwingen. Die Emotionen der Klient:innen können dann eigene Emotionen triggern, was eine klare Trennung der Themen erschwert.
Auch eine zu hohe Arbeitsbelastung oder zu viele „schwere” Fälle können Auslöser für zu viel Stress im inneren System sein, sodass wir den Themen der Klient:innen nicht mehr ausbalanciert begegnen können.
Stimmt das?
Im Alltag kann Mitgefühl auch zu der Annahme verleiten, dass die persönliche Wahrnehmung der Situation eines anderen identisch sei zu der eigenen Wahrnehmung (Stangl, 2024). Dies kann im therapeutischen Kontext ebenfalls zu Fehlinterpretationen und -interventionen führen. Das Resultat wären persönlich eingefärbte Ratschläge, die wiederum nicht zum Klientensystem passen Auch hier spielt es eine sehr große Rolle, wie klar wir als Psychotherapeut:innen unser eigenes System von dem der Klient:innen differenzieren können und Gegenübertragungen erkennen.
Rette mich!
Zuletzt möchte ich noch auf ein Phänomen eingehen, bei dem Mitgefühl zu Aktionen verleiten könnte, die übergriffig sind. Manchmal werden wir als Psychotherapeut:innen bewusst oder unbewusst dazu eingeladen, Klient:innen zu retten. Wenn Eigenverantwortung und der Glaube an die eigene Selbstwirksamkeit im Klientensystem fehlen, dann ist die Einladung sehr groß, in die Retterrolle zu gehen.
Hier hilft es, sich immer wieder an die eigene Rolle als Psychotherapeut:in zu erinnern: Wir können Lösungs- und Handlungsalternativen anbieten, die Entscheidung treffen jedoch die Klient:innen. Auch nichts davon zu wählen ist eine Entscheidung – und diese müssen wir nicht zur eigenen Not machen. Haben wir die eigenen Impulse gut im Blick, können wir solche Einladungen ausschlagen. Auch das ist abhängig von unserer eigenen Balance und Klarheit.
In allen drei Stolperfallen rund um die Empathie helfen eine gute eigene Psychohygiene durch Supervision oder Eigentherapie, eine gute Balance sowohl im Arbeits- als auch privaten Alltag und ein wirkungsvoller Umgang mit dem Thema Stress!
Werkzeug #1: Das Empathiebarometer
Wir kennen viele gute Interventionen für unsere Klient:innen. Ich stelle dir eines für uns als Psychotherapeut:innen im Umgang mit Empathie vor.
Mit dem Empathiebarometer kann es dir gelingen, in deinem Berufsalltag deine innere Balance zurückzuholen. Das Barometer hat eine Skala von 1-10, wobei 10 für sehr hohes und 1 für sehr geringes Mitgefühl steht.
Du kannst in deinem Arbeitsalltag folgende Fragen für dich nutzen:
- Wo ist mein Wohlfühlbereich auf dem Empathiebarometer und wie komme ich dorthin?
- Welche Haltung und welches Verhalten zeige ich, wenn ich im Wohlfühlbereich bin?
- Wie viel Mitgefühl habe ich in meiner letzten Sitzung gezeigt?
- Ist das stimmig für mich oder möchte ich etwas verändern?
- Mit wie viel Mitgefühl möchte ich in meine nächste Sitzung gehen?
- Was sind gute Rituale für mich, um in den Wohlfühlbereich zu kommen?
Tipp: Stell dir zusätzlich vor, du hast einen Regler an dem Empathiebarometer. Visualisiere dir, wie du deine Empathiehöhe selbstbestimmt anpasst. Wie fühlt sich das an?
Neutralität: Wie weit ist nah genug?
„Ich weiß, dass ich nichts weiß“ ist einer meiner Lieblingssätze, die ich im Laufe meiner systemischen Arbeit verinnerlicht habe. Er stammt von Sokrates. Der Satz erinnert mich daran, dass ich nicht die Wahrheit kenne in Bezug auf ein Klientensystem. Ich kann Ideen anbieten, aber der/die Klient:in entscheidet, was zu ihr oder ihm passt.
Neutralität fördert selbständiges Wachstum
Neutralität ermöglicht es uns, einen vorurteilsfreien Raum zu wahren. Erst dadurch öffnen sich Klient:innen und sprechen über ihre Gedanken und Gefühle, ohne Angst vor vorschneller Bewertung.
Neutralität befähigt uns Therapeut:innen, Gedanken und Gefühle im Klientensystem zu erkunden, ohne sie mit den eigenen Überzeugungen zu vermischen. Dadurch wahren wir einen respektvollen Umgang auf Augenhöhe. Abhängigkeiten oder gar Manipulationen können so verhindert werden.
Eine zu hohe Neutralität und damit zu viel Distanz verhindern allerdings all das, was Mitgefühl ermöglicht: das Entstehen und Vorankommen des therapeutischen Prozesses. Fühlen sich Klient:innen nicht verstanden in ihren Gedanken und Gefühlen und fehlt das Vertrauen in die therapeutische Beziehung, stagniert alles. Wie viel Neutralität braucht es also?
Werkzeug #2: Der Bilderrahmen
Ich möchte dir ein zweites, kreatives Werkzeug anbieten, mit Hilfe dessen du deine Neutralität gegenüber eines oder mehrerer Klientensysteme reflektieren kannst.
Stell dir vor, deine Praxis sei eine Bildergalerie, in der beispielhaft ein Klientensystem in einem Bilderrahmen abgebildet ist. Der Bilderrahmen könnte eine ganze Wand füllen oder so groß sein wie deine Handfläche. Versuche alle Informationen aus dem Klientensystem in den Bilderrahmen zu füllen, egal ob abstrakt oder realistisch, und stelle dir dazu zum Beispiel folgende Fragen:
- Wie voll oder wie leer ist der Bilderrahmen?
- Wirkt der Inhalt konfus oder geordnet, hell oder dunkel, bunt oder schwarz-weiß?
- Wie attraktiv ist das entstandene Bild für mich?
- Gibt es Bereiche, die mich besonders in eine Nähe oder Distanz bringen und weshalb?
- Wie nah oder weit stehe ich von dem Bilderrahmen entfernt?
- Was ist eine angenehme, angemessene Distanz zu dem Bild und muss ich etwas an meiner Position verändern?
- Was könnte mir helfen, dieses innere Bild am Ende einer Sitzung dem/der Klient:in mitzugeben?
Tipp: Du kannst dir am Ende einer Sitzung vorstellen, wie du neue Informationen in den Rahmen hineinfließen lässt. Alle „Bilderrahmen” lässt du in deiner Praxis, es wird nichts mit nach Hause genommen. Achte auch darauf, dass du am Ende eines Therapieprozesses den Bilderrahmen innerlich den Klient:innen mitgibst. Die Bilderrahmen sollen nicht irgendwo in deinem inneren Therapieraum „zurückbleiben”.
Wie uns die Balance zwischen Mitgefühl und Neutralität gelingt
Eine Balance zwischen Mitgefühl und Neutralität gelingt uns dann, wenn wir selbst in Balance sind. Die eigene Selbstfürsorge, Psychohygiene und Balance in Berufs- und Privatleben sind die Voraussetzung dafür, um sichere Räume für Klient:innen anzubieten.
Gerade Mitgefühl wird im therapeutischen Kontext als Fähigkeit beschrieben, die sich vor allem auf Klient:innen bezieht. Wir befinden uns hier allerdings nicht auf einer Einbahnstraße, sondern in einem dynamischen System, in dem es wichtig ist, dass alle Beteiligten berücksichtigt werden. Gerade in unterstützenden Berufen ist die Gefahr groß, dass Beratende sich selbst vergessen. Haben wir unsere eigenen Bedürfnisse im Blick und achten darauf, dass es uns gutgeht, können wir auch mit Menschen arbeiten, die gerade nicht ganz ausbalanciert leben.
Natürlich möchten wir Klient:innen bestmöglich mit ausreichend Mitgefühl begleiten. Aber können wir das wirklich immer anbieten, ohne Gefahr, zu viel unserer eigenen Energie zu verlieren oder gar Grenzen zu überschreiten? Je nachdem, wie deine Antwort ausfällt: Diese Erkenntnis verdient dein Mitgefühl dir selbst gegenüber und dein achtsames Handeln.
Haben wir unsere persönliche Balance und sind bewusste Gestalter unseres Alltags, können wir entspannter und fokussierter unser Gegenüber begleiten. Nur so können wir dem Klientensystem die passende Mischung aus Mitgefühl und Neutralität variabel anbieten. Dosieren ist zum Wohle aller Beteiligten ausdrücklich erlaubt!
Quellen
Dorsch (2017). Lexikon der Psychologie. Göttingen: Hogrefe.
Stangl, W. (2024). Empathie. Online Lexikon für Psychologie & Pädagogik. Abgerufen am 27.09.24 unter: https://lexikon.stangl.eu/1095/empathie
Wampold, B. (2015). How important are the common factors in psychotherapy? An update. World Psychiatry. 14(3): 270–277. doi: 10.1002/wps.20238