Practice what you preach: Impulse für eine bessere Therapeut:innengesundheit

Eine Frau mit Dutt im Profil, über das Bild ist ein Karo-Muster gelegt in türkis, orange und rot.

Ich habe viele Jahre im Gesundheitswesen gearbeitet, war unglücklich und bin ausgebrannt. Das habe ich lange nicht bemerkt oder mir eingestanden. Auf meinem Weg habe ich Stolpersteine und Systemfehler entdeckt und meine Rolle als Therapeutin gefunden. Damit auch du deine (mentale) Gesundheit im Alltag verbessern kannst, teile ich mit dir einige Warnzeichen, die du ernst nehmen solltest, sowie meine Top 5 Selbstfürsorge-Tipps – und einen freundlichen Reminder, ein:e gute:r Freund:in für dich zu werden.

Das Wissen um die Risiken und Nebenwirkungen des Therapeut:innenberufs hat mir viel Klarheit gebracht und mir geholfen mich abzugrenzen. Im ersten Teil der Artikelserie habe ich mein Wissen und meine Erfahrungen mit dir geteilt. 

Good to know

Wusstest du, dass Ermüdungssignale für den besonderen Typ unserer Arbeit nicht ausreichend im Bewusstsein repräsentiert sind und es keine klaren Kriterien für Pausen oder Beendigung der Arbeit gibt (Hoffmann und Hoffmann, 2020, S. 18)? Daher sind regelmäßige Pausen, Selbstachtsamkeit und Selbstmitgefühl eine notwendige Basis für Selbstfürsorge. Und aus meiner langjährigen Erfahrung als Psychotherapeutin und Supervisorin weiß ich: Die eigene Gesundheit und Selbstfürsorge müssen Priorität haben, um langfristig in unserem Beruf erfolgreich und vor allem glücklich zu sein.  

Selbstfürsorge ist eine bewusste Entscheidung, die du für dich triffst. Ein „Nein“ zu anderen ist ein „Ja“ zu dir selbst.  

Selbstfürsorge: „Ich verstehe darunter einen liebevollen, wertschätzenden, achtsamen und mitfühlenden Umgang mit mir selbst und das Ernstnehmen meiner Bedürfnisse.“ - Luise Reddemann (2005, S. 565) 

Warnsignale, die du ernst nehmen solltest

In unserem Beruf sind wir viel im Außen und mit den Emotionen anderer beschäftigt. Wir haben gelernt, in den Sitzungen unsere eigenen Bedürfnisse zurückzustellen und unsere Emotionen zu kontrollieren. Dabei kann man sich schnell selbst vergessen. Denn wir haben nicht (ausreichend) gelernt, wie wir achtsam und wohlwollend mit uns selbst umgehen. Neben regelmäßigen Pausen zum Innehalten und in Kontakt mit sich selbst zu gehen, gibt es ein paar wichtige Warnsignale, denen du daher besonders Beachtung schenken solltest: 

  • Körpersignale, wie häufig auftretende Kopfschmerzen und/oder andauernde Verspannungen in Rücken und Nacken können ein Zeichen für Stress, aber auch ungelebte bzw. in Konflikt geratene Werte sein. Beißt du vielleicht tagsüber oder nachts die Zähne aufeinander? Hältst du manchmal die Luft an oder atmest nur noch sehr flach? Oder leidest du häufig an Infekten, die dich lahmlegen? Kümmere dich nicht nur um das Symptom, sondern suche auch die Ursache dafür.
  • Ein andauerndes Überforderungserleben. Kennst du solche Gedanken: „Wann soll ich das alles schaffen?“, „Ich werde nicht allen gerecht.“ oder „Ich bin inkompetent.“? Oder fällt es dir häufig schwer abzuschalten? Ich weiß, dass es sehr schwerfällt, sich Überforderungserleben einzugestehen und nach Hilfe zu fragen, weil wir schnell dazu neigen, uns als inkompetent, schwach oder nicht gut genug zu erleben. In einem System, in dem Überbelastung normalisiert wird und oft wenig Unterstützungsmöglichkeiten angeboten werden, ist das Gefühl der eigenen Unzulänglichkeit und Selbstzweifel nicht verwunderlich. Umso wichtiger, dir ggf. auch Unterstützung zu holen. Du bist nicht allein und musst auch nicht alles allein schaffen. 
  • Überhöhter Anspruch und Perfektionismus können zu Druck, unrealistischen Erwartungen und Ungeduld führen, wenn kaum Veränderungen im Prozess sichtbar werden oder Stagnation eintritt. Zudem können Schuldgefühle und Selbstzweifel auftauchen. Ich habe bei sehr belasteten Patient:innen fast immer den Anspruch gehabt, dass ich jetzt „DIE“ Intervention finden muss, um mein Gegenüber direkt zu entlasten und am besten auch zu heilen. Wie absurd das ist, merke ich in diesem Augenblick, indem ich das schreibe. Aber ja, der Gedanke taucht auch manchmal heute noch auf. Wenn du selten zufrieden mit deiner Arbeit bist, Therapieerfolge auf Klient:innen und Therapiemisserfolge auf dich zurückführst, dann wird es Zeit innezuhalten und solche Gedanken zu hinterfragen. Denn auch unsere Klient:innen sind am Heilungsprozess mitbeteiligt und tragen Eigenverantwortung. 
  • Wenig Zeit nach der Arbeit für sich selbst. Abends zu erschöpft sein, um sich selbst etwas Gutes zu tun, ist ein weiteres Warnzeichen. Ich kenne das Gefühl, nach der Arbeit keine Energie mehr zu haben und sogar einige Wochenenden ausschließlich zur Regeneration nutzen zu müssen. Es hat sich angefühlt wie ein schwerer Anker, der mich ans Sofa gekettet hat. In dieser Zeit hatte ich oft den Gedanken: „Ich möchte nicht mehr die Probleme anderer hören, ich will mich endlich wieder um meine eigenen kümmern.“ Eine ständige Sehnsucht nach Urlaub als Rettungsinsel kann ein Ausdruck davon sein, dass es keine gute Balance zwischen Arbeit und Auszeit gibt. Wenn du Rückzugstendenzen bei dir bemerkst, weil du keine Zeit für Aktivitäten hast oder dein sozialer Akku bereits durch Klient:innenkontakte leer ist, versuche etwas zu verändern. 

Wenn sich alles nach zu viel anfühlt, dann machen wir zu wenig von den Dingen, die wir lieben.

  • Reizbarkeit, Ungeduld, Sarkasmus und Abwertung können weitere Warnsignale sein. Diese können auch außerhalb der Arbeit auftreten. Gerade Sarkasmus und Abwertung von Klient:innen sind immer wieder, auch bei ganzen Teams in Psychiatrien, zu beobachten und oft ein Symptom der Mitgefühlsmüdigkeit.
Zwei Frauen sitzen mit je einer Kaffeetasse an einem Tisch und unterhalten sich.

Wenn du dich in mindestens einen der Punkte wiedererkennst, dann sprich darüber. Reflektiere und suche nach Veränderungsmöglichkeiten. Ein paar Tipps für den Alltag habe ich dir hier zusammengestellt. 

Tipps für deinen Alltag 

Hier kommt nichts Neues und auch keine Wunderwaffe gegen Stress oder für eine verbesserte Selbstfürsorge im Alltag. Die Basis ist, dass du dich selbst wichtig nimmst und du es dir wert bist, dir die Zeit zu nehmen, die du für dich brauchst, um wohlwollend und fürsorglich mit dir umzugehen. Daher kommen hier ein liebevoller Reminder für dich, dich wieder zu priorisieren, und meine Impulse und Ideen für deinen Alltag. Nimm dir die mit, die dir gefallen: 

1) Zeitinseln nur für dich

Schaffe dir Raum für regelmäßige kleine Pausen und Auszeiten, egal wie kurz oder lang diese sind, um wieder in Kontakt mit dir und deinen Gefühlen und Bedürfnissen zu treten. Was brauchst du? Durchatmen? Ruhe? Bewegung? Was zu essen oder trinken? Ein Gespräch? Frische Luft? Kreativität? Lerne dich kennen und nimm dir Zeit für das, was du brauchst. Wichtig ist, dass du dies bewusst und regelmäßig machst und nicht mit den Gedanken schon beim nächsten Termin bist. Plane dir die Pausen gegebenenfalls fest in deinen Terminplaner ein. Mir hilft es immer sehr gut und macht es verbindlicher.  

2) Strukturen 

Schaffe dir für dich passende und angenehme Strukturen. Lasse genügend Zeit zwischen Terminen. Plane feste Pausen ein. Wann sind gute Zeiträume für Gespräche, wann für Organisation und Doku? Ich habe meine Tätigkeiten tatsächlich nach Tagen geordnet. Wie viel ist von deinem Tag verplant und fühlt sich das gut an? Am Morgen haben wir die meiste Energie. Da kannst du schon die ersten 5-10 Minuten für eine Aktivität einplanen, die dir guttut. Für mich ist das morgens der Tee im Bett und eine Folge meiner Lieblingsserie.

3) Grenzen setzen 

Du darfst Patient:innen ablehnen, wenn sie nicht zu dir passen oder du schon eine ausreichende Anzahl hast. Kenne deine vulnerablen Punkte und pass gut auf dich auf. Du kannst dich auch in einer Sitzung abgrenzen, indem du deine Füße erdest, dich zurücklehnst und die Lehne achtsam wahrnimmst. Ggf. kannst du dir auch eine imaginäre Trennscheibe oder Blase, die dich umgibt, vorstellen. Du gestaltest den Raum mit den Patient:innen, also achte auch darauf, dass du dich darin wohl fühlst. 

4) Reflexionen 

Regelmäßige Selbsteinschätzungen bzgl. des eigenen Befindens, der Energie, und deiner Lebenssituation sind hilfreich, um dein Wohlbefinden zu erhalten. Überprüfe auch ehrlich, ob du deine Werte leben und deine Rollen so gestalten kannst, wie sie zu dir passen. Werde dir auch immer mal wieder über dein Warum für deinen Beruf bewusst.

Reflektiere in Bezug auf Klienten:innengespräche, was gut gelaufen ist, was dir Spaß macht und was du noch lernen möchtest. So kannst du dir auch klarer über deine Schwerpunkte, Fähigkeiten und Arbeitsweise werden.

5) Check-ins

Regelmäßige Check-ins helfen dir, dich um deine eigenen Grenzen und Bedürfnisse zu kümmern. Dabei nehme dir bewusst Zeit in dich hineinzuhören. So kannst du zum Beispiel vor einer Sitzung eine bequeme Sitzhaltung einnehmen. Dann atme bewusst dreimal tief ein und aus und mache ein Check-in in deinen Körper. Nimm wahr, wie sich dein Körper gerade anfühlt. Welche Stelle in deinem Körper merkst du in diesem Moment besonders? Frage dich dann, welches Gefühl dahintersteckt. Und zuletzt frage dich, welches Bedürfnis hinter dem Gefühl steckt. Abschließend schau einmal, was du jetzt in diesem Moment tun kannst, um dieses Bedürfnis zu befriedigen. Sind es eher primäre Bedürfnisse wie Essen, Trinken, Bewegung oder sind es andere Bedürfnisse? Werde kreativ und nutze die Zeit, die dir zur Verfügung steht beziehungsweise die du dir schaffen kannst. Frage nicht, ob es funktioniert, sondern immer wie! 

Autorin Barbara Klotz hält eine große Tasse mit der Aufschrift "Enjoy" in die Kamera.

Abschließend möchte ich noch sagen, wenn du dich in den geschilderten Informationen wiedererkennst, kümmere dich gut darum. Manchmal reichen die Erkenntnis und Selbstfürsorge nicht aus und wir brauchen selbst Hilfe von außen. Das können eine Intervisionsgruppe, Supervision, Selbsterfahrung, ein Coaching oder eine Therapie sein. Scheu dich nicht, dir diese Hilfe zu suchen. Meine Erfahrung ist, wenn man offen darüber spricht, trifft man auf viele Gleichgesinnte, denen es ähnlich geht, und man fühlt sich nicht mehr allein damit. 

Ich habe das Gesundheitswesen nach 14 Jahren verlassen. Das Wissen um die Risiken und Nebenwirkungen meines Berufs, der mir nach wie vor riesig Freude bereitet, waren hilfreich, um mich zu lösen und einen anderen Weg einzuschlagen. Heute arbeite ich in meiner eigenen Onlinepraxis als Supervisorin und Selbsterfahrungsleiterin. Hier kann ich werteorientiert arbeiten und alles so gestalten, wie es zu mir und meinen Bedürfnissen passt. Das gelingt mir natürlich nicht immer, aber ich bemühe mich, mit mir im Kontakt zu bleiben und wohlwollend mit mir umzugehen.  

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