Die Resilienz im Blick: Vom Arztkittel ins Coaching-Café

Man sieht die Hände zweier Frauen, die Cappuccinotassen umfassen und an einem Tisch sitzen, auf dem ein Strauß roter Blumen liegt.

Eine Psychiaterin, die ein Coaching-Café eröffnet? Tatjana Reichhart ist eine der Gründerinnen von Kitchen2Soul, dem ersten deutschen Mental-Health- und Coaching-Café. Im psylife-Interview erzählt sie uns, wie es um die Selbstfürsorge von Coach:innen steht, welche Bedarfe sie sieht und was sich für sie selbst geändert hat, seit sie nicht mehr im Arztkittel, sondern im Coachingraum arbeitet. Von Selbsterfahrung, Beziehungsgestaltung und Qualitätsstandards.

Tatjana, du hast vor 8 Jahren gemeinsam mit Katrin Große das Kitchen2Soul gegründet, ein Mental-Health- und Coaching-Café. Was kann ich mir darunter vorstellen?

In der ursprünglichen Idee wollten wir einen Ort zur Begegnung schaffen, eine Wohnküche für die Seele. Wo startet jede Party? Wo endet jede Party? Wo tauschen sich die Menschen aus? Eigentlich immer in der Küche! Wir haben überlegt: Wie können wir einen Ort schaffen, an dem sich Menschen über psychische Gesundheit austauschen? Am ehesten in einem Café. Mit Futter für die Seele in Form von Abendveranstaltungen, Workshops und Büchern, aber auch mit Futter für den Körper in Form von Essen und Trinken.

 

Wie kam es, dass du als Fachärztin für Psychiatrie und Psychotherapie ein Café eröffnet hast?

Das war eigentlich gar nicht der Plan. Aber ich war in meiner Klinikkarriere an einem Punkt, an dem ich nicht mehr so zufrieden war und auch das Gefühl hatte, ich kann mich nicht mehr weiterentwickeln. Ich habe gemerkt, wenn ich mit einem Kittel in der Behandlung sitze – und selbst wenn ich ihn ausziehe – oder wenn ich im Privatleben sage, ich bin Psychiaterin, dann gibt es so viele Vorurteile und Berührungsängste. Das war nicht immer hilfreich, um in ein neutrales Gespräch zu kommen.

Ich dachte, es wäre eigentlich ganz cool, wenn man eine Pop-up-Praxis machen könnte: eine Praxis, in die man leicht reingehen kann, mit einer Kaffeemaschine im Eingang und ein paar Büchern. Aber das ist so im Heilberuf nicht erlaubt. Ich habe mit meiner allerbesten Freundin, Katrin Große, geredet. Mit ihr bin ich schon in die Grundschule gegangen. Sie hatte grade eine Coaching-Ausbildung abgeschlossen, war aber auch unzufrieden. Wir haben gebrainstormed und hatten die Idee: lass uns das doch verbinden, Café und Coaching. Katrin backt leidenschaftliche gerne. Mein Mann ist Buchhändler. So ist das als Gesamtkonzept entstanden und jeder konnte seine Spezialitäten mit einbringen.

Tatjana Reichhart und Katrin Große am Tresen des Kitchen2Soul

Seitdem habt ihr euch etwas gewandelt und eure Ausrichtung geschärft. Was bietet ihr alles an - und an wen richtet sich das Angebot des Cafés?

Durch Corona - das war wirklich der Knackpunkt - mussten wir ganz schnell entscheiden, was wir mit den Räumen machen. Was war in der Zeit möglich? Man brauchte Platz. Workshops zu beruflichen Themen durfte man noch anbieten. Wir hatten schon davor die Kitchen2Soul-Akademie gegründet als Kompetenzzentrum, Aus- und Fortbildungsinstitut für systemisches Resilienzcoaching. Den Bereich haben wir dann gestärkt, das Café dafür verkleinert und wir haben uns zusätzlich auf die Raumvermietung für externe Trainer:innen gestützt. Wir haben ein großes Netzwerk für Coaches und Trainer:innen mit regelmäßigen Netzwerktreffen, verschiedenen Inputs und Zeit zum Austauschen und für die eigene Selbstfürsorge.

 

Warum sind solche Begegnungsstätten für Coach:innen so wichtig?

Die Coachingbranche boomt. Es gibt immer mehr Coaches, aber es gibt eigentlich keinen Ort außerhalb der Institute selber, wo man sich treffen kann. Jede:r sitzt und arbeitet für sich alleine. Es gibt zwar Dachverbände, aber es gibt nicht so wirklich eine Community. Das war unser Anliegen! Unser Netzwerk ist nicht nur für Coaches, sondern auch für Menschen, die in anderen sozialen Berufen arbeiten: Psycholog:innen, Ärzt:innen, Sozialpädagog:innen... alle, die mit einer guten Haltung Menschen begleiten.

Das Netzwerk ist eine Art Anker. Hier können wir auch mal darüber reden, was nicht so einfach ist. Wir hatten letztens zum Beispiel eine Abendveranstaltung, da ging’s ums Scheitern und schwierige Situationen. Das war total wichtig! Wir haben aber auch andere Veranstaltungen wie Weinproben, wo man mal aus der inhaltlichen Coaching-Bubble rauskommt.

 

Ihr versteht euer Angebot auch als Ressource und Kraftquelle für die Förderung und den Erhalt des Wohlbefindens. Wie steht es um die Selbstfürsorge und die Gesundheit von Coach:innen?

Ich habe keine Studien zu dieser spezifischen Gruppe, daher kann ich keine fundierten Zahlen und Fakten liefern. Grundsätzlich ist es aber so, dass grade im sozialen Bereich das Risiko, selbst auszubrennen, relativ hoch ist. Wie gehe ich damit um, wenn es eine Grenze der Unterstützungsmöglichkeit gibt? Wie gehe ich mit Geschichten um, die ich höre und die mich vielleicht zu stark ansprechen? Da sind Coaches, genauso wie andere soziale Berufe, gefährdet und brauchen da ein besonderes Augenmerk darauf.

Ich denke, ein Unterschied zwischen Coaches und ärztlichen bzw. psychologischen Psychotherapeut:innen ist aber, welche Rolle die Selbsterfahrung im Rahmen der Ausbildung spielt. In den allermeisten Coachingausbildungen, die ich kenne, ist das nicht inkludiert – und da fehlt was! Ich versuche daher in unseren Fortbildungen mitzugeben, dass sich jede:r ein eigenes Coaching oder eine Supervision suchen sollte, um sich selbst noch mal besser zu begreifen.

 

Was rätst du Kolleg:innen darüber hinaus, um ihre mentale Gesundheit zu stärken?

Ich finde Selbstreflexion wichtig, also für mich zu klären, aus welchem Motiv heraus ich das mache, was ich mache. Warum bin ich Coach geworden? Wir wissen, dass Sinn- und Wertebasierung das A und O ist, wenn es um die eigene psychische Gesundheit geht.

Neben der Selbstreflexion finde ich die Fähigkeit zur Selbstregulation und zum Selbstmitgefühl wichtig: Kann ich mich selbst trösten? Kann ich wertschätzend mit mir selbst umgehen, wenn Klient:innen mal nicht zu ihrer Lösung kommen? Kann ich Lösungslosigkeit aushalten? Wie gehe ich damit um, wenn ich dadurch gestresst bin? Finde ich eine Möglichkeit, mich selbst zu regulieren?

Nahaufnahme einer Frau mit braunen Haaren und weißer Bluse, die ihre Hände vor der Brust übereinandergelegt hat.

Ich glaube, die Wenigsten wissen, dass es einen Unterschied zwischen Empathie und Mitgefühl gibt. Wir lernen alle, dass Beziehungsgestaltung wichtig ist. Wenn ich aber glaube, dass Empathie bedeutet, ich muss immer mit den Klient:innen mitleiden, dann stimmt das nur bedingt. Langfristig ist das nicht hilfreich, weil bei mir selbst dadurch empathischer Stress entsteht. Ich kann für jemanden fühlen, aber ich muss nicht fühlen wie jemand. Ich muss nicht exakt denselben Schmerz erfahren, um eine gute Beziehung aufzubauen. Es ist vielleicht sogar viel förderlicher, wenn ich sagen kann: „Das muss sich ganz schlimm für Sie anfühlen“ und dann im Prosozialen bleibe: „Und wie kann ich Sie jetzt unterstützen?“ Es geht um eine professionelle Distanz. Aber was heißt das? Was mache ich, wenn ich wirklich mal Tränen in den Augen habe. Darf ich das dann nicht? Natürlich darf ich das auch, Selbstoffenbarung ist aus meiner Sicht völlig fein. Aber das sind so Sachen, die viele in ihren Ausbildungen nicht lernen… habe ich auch nicht! Das musste ich mir erst später aneignen. Es war für mich wie „Schuppen von den Augen“: Wenn man für sich klar hat, welche Rolle man eigentlich hat, dann nimmt das ganz viel Druck und Stress.

 

Wie erlebst du dich in deiner Rolle und deinem Arbeiten als Coachin im Vergleich zu vorher als ärztliche Psychotherapeutin?

Das ist eine spannende Frage. Ich habe schon in meiner ärztlichen Tätigkeit viel zu Ärzt:in-Patient:innen-Kommunikation gemacht. Über meine Weiterbildungen und dem Austausch mit Claudia Pusch, systemische Coachin und Therapeutin, mit der ich zusammen unsere Ausbildung leite, habe ich aber noch mal neue Blickwinkel dazu bekommen. Das hat einen riesigen Unterschied für mich gemacht. Diese Haltung - mehr Lösungs- und Ressourcenorientierung, nach Gesprächsanteilen schauen, die Haltung des Nichtwissens, motivierende Gesprächsführung - hat mir so viel Kompetenz gegeben. Wenn ich das schon zum Anfang meiner psychiatrischen Tätigkeit gewusst hätte… das hätte mir so geholfen. Und den Patient:innen auch!

Als Coachin bin ich mit dem, was ich grade beschrieben habe, effizienter. Ich schwimme weniger im Problem und bin sehr viel schneller in der Lösungsorientierung. Ich traue den Leuten viel mehr zu. Der Unterschied ist natürlich, dass ich im Coaching mit gesunden Menschen arbeite.

Die Techniken und Übergänge sind fließend. Ich glaube, dass es guttut, auch mal in die anderen Richtungen zu gucken, und bin sehr froh, dass ich da jetzt ein größeres Handwerkszeug habe.

Eine Frau in weißem Oberteil sitzt vor ihrem Laptop an einem Schreibtisch, hinter sich ein Fenster.

Was würdest du dir künftig für die Coaching-Profession wünschen?

Ich würde mir einen besseren Qualitätsstandard wünschen und mehr Standardisierung über die verschiedenen Ausbildungen hinweg. Coaches haben unweigerlich mit Menschen zu tun, die auch mal psychische Erkrankungen mitbringen. Da würde ich mir wünschen, dass Coaches eine gute Fähigkeit haben, das voneinander abzugrenzen. Dass sie auch wissen, wenn körperliche Warnzeichen wie Schlafstörungen, Hörsturz usw. bestehen, dass sie zu den Ärzt:innen schicken und es abklären lassen. Dass sie sich sehr klar darüber sind: Was kann ich als Coach leisten und was nicht? Bei manchen Ausbildungen ist das fix mit dabei, aber in manchen spielt es auch gar keine Rolle. Ich finde, das dürfte nicht sein! Die Menschen suchen Hilfe, die gehen irgendwohin, vertrauen darauf, dass es funktioniert, und wenn man dann was übersieht, kann das echt blöd laufen.

Was ich mir noch wünschen würde, ist, dass die Krankenkassen Coaching als Prävention bezahlen, sodass sich jede:r Coaching leisten kann. Zum Beispiel beim Burnout: Das ist noch keine psychische Erkrankung und als Therapeutin müsste ich eine Depression oder eine Anpassungsstörung daraus machen. Aber vielleicht wäre das noch was fürs Coaching. Die Krankenkasse könnte sagen: ok, wir bezahlen fünf Stunden „Präventionscoaching“ und wenn das nicht ausreicht, dann Therapie. Es müsste natürlich bestimmte Qualifikationen für die Coaches geben oder Kriterien, damit das von den Krankenkassen anerkannt wird. Es wäre aber eine Aufwertung des Coachings und würde unterstreichen, wie wichtig dieser Bereich ist. Coachings übernehmen grade schon sehr viel an Bedarfen, die im therapeutischen Setting nicht bearbeitet werden können, weil die Wartezeit zu lang ist. Coaching kann auch eine Eintrittspforte sein, wenn Therapie und Psychiatrie noch zu stigmatisiert sind. Es ist schade, dass wir diese Ressource nicht vollständig nutzen, denn es wäre dringend gebraucht. Es wäre eine Entzerrung fürs Gesundheitssystem!

Vielen Dank, Tatjana, für das Gespräch!

 

Über Dr. Tatjana Reichhart: Tatjana Reichhart ist Fachärztin für Psychiatrie und Psychotherapie. Als solche erlebte sie oft Berührungsängste und Vorbehalte gegenüber ihrer Profession. Zugleich erkannte sie, wie notwendig qualitätsvolle präventive Maßnahmen sind, um die seelische Gesundheit zu erhalten. Nach 10-jähriger klinischer und wissenschaftlicher Tätigkeit an der Universitätsklinik der Technischen Universität München (TUM), zuletzt als Oberärztin, hat sie gemeinsam mit Katrin Große das Coaching- und Seminar- Café Kitchen2Soul in München-Neuhausen gegründet und sich als Coach und Trainerin selbstständig gemacht. In der Kitchen2Soul Akademie bietet sie u. a. die Ausbildung zum Resilienz-Coach an.

Mehr Infos findest du unter: https://www.tatjana-reichhart.de/ und www.kitchen2soul.com.

 

Zum Weiterlesen:

[Werbung] Reichhart, Tatjana (2019). Das Prinzip Selbstfürsorge. Wie wir Verantwortung für uns übernehmen und gelassen und frei leben. München: Kösel.

[Werbung] Reichhart, Tatjana & Pusch, Claudia (2022) Selbstbestimmt. Wie wir mit Erwartungen umgehen und ein authentisches Leben führen. München: Kösel.

[Werbung] Reichhart, Tatjana & Pusch, Claudia (2023). Resilienz-Coaching. Ein Praxismanual zur Unterstützung von Menschen in herausfordernden Zeiten. Wiesbaden: Springer.